Kapitel 7
Gute Nachbarschaft mit Russland schafft Frieden in Europa
2017 ist nicht nur ein Wahljahr in Deutschland, sondern auch – weltweit – das hundertste Jahr der Oktoberrevolution. Aus beiden Anlässen wird eine Neuausrichtung der Russlandpolitik in der öffentlichen Diskussion eine wichtige Rolle spielen. Frieden in Europa geht nicht ohne Russland, deshalb muss die Russlandpolitik entgiftet werden. Die Botschaft der Oktoberrevolution war einfach und klar: Frieden – Land – Brot. Die Botschaft an die Bundesregierung heute ist auch einfach und klar: Macht uns die Russen nicht zu Feinden!
Jeder Dritte in Deutschland hält es inzwischen für möglich, dass es einen militärischen Konflikt mit Russland gibt. Das ist eine erschreckend große Minderheit, und sie wächst.204 In Russland warnt Michail Gorbatschow vor der Gefahr eines Atomkriegs. Die Verrohung der zwischenstaatlichen Beziehungen, mediales Trommelfeuer und reale Drohgebärden – Frank-Walter Steinmeier hat das, als er noch Außenminister war, als »Säbelrasseln und Kriegsgeheul« bezeichnet – versetzen viele Menschen in Unruhe; nicht aus Furcht vor Russland, sondern aus Angst, dass Kriegsübungen, wirtschaftliche und verbale Aggressionen in einen militärischen Konflikt umschlagen könnten. Schon behauptet die Kiewer Regierung, sie befinde sich in einem Krieg mit Russland. Aus Lettland, Estland, Litauen, Polen werden die Hilferufe lauter, weil sie sich von Russland unmittelbar bedroht fühlen. Nach dem Jugoslawien-Krieg hat der in der Ukraine schon über 10.000 Tote gefordert. Das ist der zweite Krieg nach 1945 auf europäischem Boden. In Europa drohen keine Kriege, sie sind schon da; noch räumlich eingehegt und nicht direkt zwischen den großen Mächten, aber sie können der Schwelbrand vor dem großen Feuer sein.
Auf das Kriegsgetöse reagiert Russland abwiegelnd, von Ausrutschern Einzelner abgesehen. Das Reden vom Krieg kommt nicht aus Russland, sondern von Regierungen von NATO-Staaten aus Mittel- und Osteuropa und US-Scharfmachern wie dem einflussreichen Senator McCain, Ex-Vizepräsident Joe Biden und Ex-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton.
Die NATO und in und mit ihr auch Deutschland setzen bewusst auf Kriegsdrohungen und Kriegsfurcht. Über die NATO vervielfacht die Bundesregierung international ihr politisches Gewicht. Das Gleiche gilt übrigens für die Europäische Union. Als stärkstes Mitglied der EU kann Deutschland deren Richtung wesentlich prägen. So übt sie mehr Einfluss auf die Entwicklung Europas aus, als sie dies als einzelner Staat gekonnt hätte. Das gilt nicht im selben Maße für die NATO, dazu sind die Vereinigten Staaten zu prägend, aber auch über die NATO potenziert die Bundesregierung ihren außenpolitischen Einfluss. Deshalb wollen die Parteien CDU, CSU, SPD und GRÜNE die NATO erhalten und stärken.
»Die Bundesrepublik setzt, wie das Kaiserreich, den Krieg ständig ins außenpolitische Kalkül ein und richtet sich mit ungeheuren Kosten auf die Abwehr eines Angriffes ein, mit dem niemand sie bedroht«, schrieb der hellsichtige Publizist Sebastian Haffner. Als einziger europäischer Staat benehme sie sich, »als stände der Krieg vor der Tür, und als einziger europäischer Staat tut sie zugleich ihr Bestes, um eine Atmosphäre der Spannung, eine Vorkriegsatmosphäre zu schaffen und zu erhalten«.205 In ihrer Selbstdarstellung und in der Wahrnehmung vieler wird der Bundesregierung eine eher beschwichtigende, deeskalierende Rolle im Verhältnis des Westens zu Russland zugeschrieben. Dabei wird übersehen, dass die Sanktionen der EU als Bestrafung Russlands wesentlich von Deutschland abhängen. Die Sanktionen sind eines der Mittel von ökonomischer Kriegsführung, die zu anderen Formen eskalieren können. Deshalb trifft es nicht zu, dass die Russland-Sanktionen einen Krieg verhindert hätten. Friedlicher ist es in der Ukraine seitdem auch nicht geworden. Manche sehen die Bundesregierung in der Ukraine-Frage als Marionette der USA, eine etwas grobe Vereinfachung. Die bisherige Linie der US-Administrationen gegenüber Russland unterscheidet sich in manchem von der deutschen. Das liegt an den jeweils unterschiedlichen, namentlich wirtschaftlichen, Interessen. Als der EU-Kommissionspräsident Barroso, ein ausgewiesener Atlantiker, 2013 eine Entscheidung Kiews entweder für Brüssel oder für Moskau forderte, hielten Merkel und Steinmeier noch ein Sowohl-als-auch für möglich.206 Gekämpft haben sie dafür nicht. Die Bundesregierung hat sich gegen die von den USA betriebene Schulung und die Bewaffnung der Kiewer Armee mit Offensivwaffen gewandt und sie auch nicht mitgetragen, wobei der Unterschied zwischen Offensiv- und Defensivwaffen nicht immer auszumachen ist. Deutlicher als die USA hat sie sich für den Minsker Waffenstillstandsprozess engagiert. Das sind graduelle Unterschiede, deshalb nicht unwichtig, aber eher taktischer als strategischer Natur. Sie tangieren nicht den fatalen antirussischen Charakter der deutschen Politik. Sie ist Teil des Versuchs, Russland zu isolieren. Da der Druck in diese Richtung nur über Westeuropa aufgebaut werden konnte und Deutschland hier wesentlichen Einfluss hat, ist die Bundesregierung in der vorderen Front mitverantwortlich für das beklagenswerte Ergebnis.
Die deutsche und europäische Russlandpolitik sind Teil einer globalen Umgruppierung der Kräfte. »Im Untergrund dieser Veränderung, in den Tiefenschichten der Weltgeschichte, vollzieht sich die gleichsam tektonische Verschiebung des weltwirtschaftlichen Schwerpunkts vom nordatlantischen Raum nach Asien.«207 Deutschland, Westeuropa und die USA sind derzeit Teil der Kräfte, die die Dominanz der ersten Welt aufrechtzuerhalten trachten. Längerfristig ist das ein aussichtsloses Unterfangen, umso verbissener wird es in der Gegenwart verfolgt. Das ist der Zusammenhang, in dem sich die Sanktionen, die Osterweiterung von EU und NATO, das »Kriegsgeheul und Säbelrasseln« bewegen. Und wie historisch immer, wenn alte Mächte ab- und neue aufsteigen, liegt zugleich Krieg in der Luft. Ob er ausbricht oder nicht, wird allerdings nicht mehr, wie in den vorherigen zwei Weltkriegen, in Europa entschieden, denn die Bruchlinien zwischen Aufstieg und Niedergang haben sich in den pazifischen Raum verlagert, wo sich China und die USA einander gegenüberstehen. Für den Politikwissenschaftler Erhard Crome ist die entscheidende Frage der nächsten zehn Jahre: »Zwingt China im Bündnis mit Russland und Indien die USA und die NATO, den großen Krieg nicht auszulösen? Oder zwingen USA und NATO die übrige Welt in einen neuen großen Krieg?«208
Auf diesem existenziellen Hintergrund vollzieht sich die Neuordnung Europas, die mit ihren Kriegen, Aggression...