Mithu M. Sanyal
Vom Sexismus zum Ex-Ismus oder: Von der Wiederaneignung kritischer Begriffe zur Ăberwindung aller Ismen
Mein erster Freund erklÀrte mir in den 1980er Jahren: »Ich habe nichts gegen Sexismus, ich mag Sex.« Fairerweise muss man erwÀhnen, dass er damals 17 Jahre alt war und Anti-Sexismus-Programme nicht auf den LehrplÀnen der Schulen standen.
Ebenso wenig wie heute. Wenn es auf diesem Gebiet mehr Bildung gĂ€be, mĂŒssten zurzeit nicht in allen Medien Experten und solche, die es werden wollen, darĂŒber streiten, was nun eigentlich Sexismus ist und was auf gar keinen Fall. Frei nach Jeremy Hardy: »Als ich jung war, galt es als Zeichen von Ritterlichkeit, einer schönen Frau Unsterblichkeit zu schenken, indem man sie in den Hals biss und ihr Blut trank.«12
Die »Sexismusdebatte« â und ich verwende das Wort mehr als nur euphemistisch, da bisher kaum debattiert wurde, in dem Sinne, dass Informationen und Meinungen ausgetauscht worden wĂ€ren und man auf diesen Erkenntnissen aufbauend weitergesprochen hĂ€tte13 â bringt eine Menge VerblĂŒffendes zu Tage, zum Beispiel dass 58,2 Prozent aller Frauen in Deutschland schon einmal Sexismus erlebt haben.14 Und was ist mit den restlichen 41,8 Prozent der Frauen und 100 Prozent der MĂ€nner und Transgender-Menschen? Leben die auf einsamen Inseln, wo sie nur mit Fischen und Vögeln kommunizieren? TatsĂ€chlich beziehen sich diese Zahlen auf die bereits von Jasna Lisha Strick zitierte Umfrage des Bundesfamilienministeriums zu sexueller BelĂ€stigung, welche natĂŒrlich eine, aber bei weitem nicht die einzige Erscheinungsform von Sexismus ist. Sexismus beginnt weder erst an der metaphorischen SchlafzimmertĂŒr, noch endet er dort.
Zeit zu fragen:
WORĂBER REDEN WIR EIGENTLICH, WENN WIR ĂBER SEXISMUS REDEN?
Der Begriff Sexismus wurde in den 1960er Jahren von der amerikanischen Frauenbewegung als Analogie zu Rassismus gebildet, um Geschlecht15 als UnterdrĂŒckungskategorie ĂŒberhaupt erst einmal benennbar zu machen. Ăhnliche Versuche hatte es schon frĂŒher gegeben, so sprach die deutsche Frauenrechtlerin KĂ€the Schirmacher 1906 von Sexualismus und die französische Philosophin Simone de Beauvoir 1949 von Sexus. Doch erst der Kampf der amerikanischen BĂŒrgerrechtsbewegung gegen die »Diskriminierung auf Grund der Hautfarbe« lieferte die Folie, auf der der Kampf gegen »die Diskriminierung auf Grund des Geschlechts« gesellschaftlich breit kommuniziert werden konnte. Diese Herkunft machte das Wort nicht nur unglaublich griffig, sondern brachte auch seine eigenen Probleme mit sich, allen voran, dass bei Sexismus in der Regel an Sexismus gegen weiĂe Frauen und MĂ€dchen gedacht wurde â noch genauer gegen weiĂe, ablierte16, cisgender17 Frauen und MĂ€dchen aus der Mittelschicht. Dazu spĂ€ter mehr.
Aber immerhin. Eine Weile war Sexismus so etwas wie der Minirock unter den kritischen Begriffen. Er war wirkungsvoll und hip, wurde von einer ganzen Reihe anderer emanzipatorischer Interventionen begleitet â und dann kam er aus der Mode. Noch am 24. Januar 2013 wurde das Wort â auĂerhalb akademischer Diskurse, feministischer Zeitschriften und autonomer linker Szenen â ungefĂ€hr so gerne in den Mund genommen wie ein Esslöffel humorloser Hausstaub. Dann kam der #aufschrei und alles Ă€nderte sich ĂŒber Nacht. Deshalb ist der #aufschrei so wichtig, weil er ein Wort zurĂŒck in die Debatte gebracht hat, das aus den unterschiedlichsten GrĂŒnden bei den Spinnweben unterm Sofa gelandet war.
GRUND 1: »HEUTE IST ALLES BESSER.«
Ich komme noch aus der Generation, in der unser Physiklehrer uns informierte, MĂ€dchen interessierten sich nun einmal einfach nicht fĂŒr Physik (das war derselbe Lehrer, der meine Wortmeldungen im Unterricht eisern ignorierte, weil er sich sicher war, ich könne kein Deutsch). Und damit war er noch freundlich. Unser Mathe-Leistungskurs-Lehrer sagte zur BegrĂŒĂung: »Ich sehe, hier sitzen zwei MĂ€dchen im Kurs, das sind zwei zu viel und wird sich bis zum Ende des Schuljahrs Ă€ndern.«
Zwar widersprach das auch damals dem Artikel 3 des Grundgesetzes, nach dem niemand »wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden«18 darf â das kann man ja nicht hĂ€ufig genug wiederholen â, allerdings wird erst seit dem 14. August 2006, an dem das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in Kraft trat â auch das kann man nicht hĂ€ufig genug wiederholen â, verstĂ€rkt juristisch gegen solche Mechanismen vorgegangen.
So weit â so gut. Nicht ganz so gut ist, dass heute dieselben Einstellungen â zwar nun nicht mehr im Brustton der Ăberzeugung, sondern mit einem ironischen Dreh â prĂ€sentiert werden, wie beispielsweise vom Otto Versand, der gerade ein T-Shirt fĂŒr MĂ€dchen aus seinem Sortiment nehmen musste, das den Aufdruck trug: »In Mathe bin ich Deko«. Das ebenso sexistische Jungen-T-Shirt, »Ich denke, bitte warten«, ist hingegen immer noch im Handel.
Um diese neuen Erscheinungsformen zu erfassen, prĂ€gte die Professorin fĂŒr Social and Cultural Analysis Rosalind Gill Anfang der 1990er Jahre den Terminus new sexism. Darunter fĂ€llt nicht nur, durch Ironie ansonsten indiskutable Ansichten sozusagen in AnfĂŒhrungszeichen doch aussprechen zu können â auch bekannt unter dem Namen retro sexism -, sondern vor allem das Verwenden von feministischen Argumenten, um konservative Inhalte durchzusetzen. So erklĂ€rte der von mir hochverehrte Stephen Fry, der in England ebenso wie Stonehenge und die Kronjuwelen als nationales Erbe gilt, unlĂ€ngst, dass er nur zu gerne Komiker innen als GĂ€ste in seine Panelshow QI einladen wĂŒrde, allerdings hĂ€tten Studien belegt, dass Frauen zwar mehr lachten als MĂ€nner, aber nicht ĂŒber weibliche Comedians.19 Aha? Welche Studien? Und unter welchen Bedingungen?
»Was mich an diesem neuen Argumentationsmuster fasziniert, ist, dass es im wahrsten Sinne des Wortes Diskriminierung in einer neuen Form âșmachtâč«,20 fĂŒhrt Gill aus. »Analog zum âșnew racismâč nutzt âșnew sexismâč feministische Formulierungen und Inhalte, um potenzielle VorwĂŒrfe von Sexismus vorwegzunehmen und abzuwehren. Wie Spock aus Star Trek es ausdrĂŒcken wĂŒrde: »Itâs sexism, Jim, but not as we know it.«21
GRUND 2: OTHERING VON SEXISMUS
Dadurch ist das, was ich den guten alten Sexismus nenne â der so offensichtlich »böse« war, wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan offensichtlich »böse« waren (wie ĂŒberhaupt die Demarkationslinien in den 1980er Jahren, zumindest aus dem RĂŒckblick, angenehm klar waren) â, zwar nicht komplett verschwunden, doch ist er kaum mehr konsensfĂ€hig. Niemand â auĂer Eva Herman22 â wĂŒrde die Aussage »Frauen gehören an den Herd« heute noch ernsthaft unterschreiben, ebenso wenig wie sich irgendjemand selbst als Sexist bezeichnen wĂŒrde. Denn Sexismus ist etwas, was »die Anderen« machen. Zurzeit sind das »die Islamisten«, gerne synonym gebraucht fĂŒr »die Muslime«.
Das Interessante an der »Sexismusdebatte« ist, dass dadurch der Blick zurĂŒck auf die eigenen Reihen schwenkt, in denen der FDP-Vorsitzende Rainer BrĂŒderle Anfang 2013 als Islamist, Pardon Sexist, angeklagt wurde. Weil Sexismus jedoch nicht nur das ist, was »die Anderen« machen, sondern selbst »das Andere« ist, gab es keine andere Möglichkeit, mit der Tatsache, dass der Politiker zu der Stern-Reporterin Laura Himmelreich gesagt hatte: »Sie können ein Dirndl auch gut ausfĂŒllen«23 keine andere Möglichkeit, als ihn zu verdammen oder darauf zu bestehen, dass das doch ein Kompliment sei.
Na gut, natĂŒrlich gab es doch noch eine weitere mögliche Reaktion darauf, nĂ€mlich die Gegenseite anzugreifen. So sehr ich meine Landsleute dafĂŒr liebe, dass wir tatsĂ€chlich und zwar mit groĂem (zumindest zeitlichem) Aufwand eine »Sexismusdebatte« fĂŒhren, so sehr bedrĂŒckt mich, wie hassgetrieben und ... hmm ... sexistisch dies vonstattengeht. Innerhalb der Debatte gibt es nur zwei Geschlechter: MĂ€nner und Frauen. Als wĂ€ren Menschen, die sich nicht eindeutig in unsere Geschlechtervorstellungen einordnen lassen, nicht die ersten Adressaten von Sexismus, weil es dabei immer um die Stabilisierung und Verteidigung einer vermeintlichen Norm geht. Doch das ist meine eigene Definition von Sexismus, zu der ich spĂ€ter kommen werde. Bleiben wir vorerst bei den Angriffen, die sich perfekt genderspezifisch in zwei Kategorien einteilen lassen.
VORWĂRFE AN FRAUEN: »WENN EUCH DAS STĂRT, SEID IHR NICHT EMANZIPIERT GENUG.«24
Platz 1 auf meinen persönlichen Alltagssexismus-Charts ist die Frage, die mir alle Welt und ihre Nachbarn stellten, nachdem ich meinen Sohn auf die Welt gebracht hatte: »Und, hat das Kind einen Vater?« Als wÀre es selbstverstÀndlich, mit wildfremden Menschen meine intimsten Beziehungen zu diskutieren. (Okay, das war erst die zweite Frage, die erste war: »Und, hattest du einen Dammschnitt?«)
Wie wir wissen, bildet sich IdentitĂ€t im Wechselspiel zwischen Selbstidentifikation und Fremdidentifikation. Je mehr die beiden ĂŒbereinstimmen, desto besser. Wenn die Fremdidentifikation zu weit von der Selbstidentifikation entfernt ist, gibt es ein Problem, da kann die Selbstidentifikation noch so stark sein. Mehr noch, wenn es dann kein Problem gibt, haben wir es mit einer Psychose zu tun Ă la:
»Ich bin Napoleon.«
»Nein, du bist nicht Napoleon.«
»Doch, ich bin so emanzipiert, dass deine Aussage mich nicht erschĂŒttern kann.«
Aber auch wenn Sexismus nicht zutiefst erschĂŒttert, wenn er â so der andere Vorwurf â so banal ist, dass er keine Schlagzeilen oder Twitterzeichen wert sei, also unter dem Radar geschieht, hat er trotzdem Effekte auf die Art, wie wir uns in der Welt bewegen und miteinander umgehen. Andere und klĂŒgere Menschen haben ĂŒber Genozid und Femizid geschrieben, ĂŒber medizinische und disziplinarische Gewalt auf Grund von Geschlecht, ĂŒber geschlechtsbedingte Armut und Krankheit. Ich möchte ĂŒber die »unsichtbaren« Formen von Sexismus schreiben, die dadurch wirken, dass sie so selbstverstĂ€ndlich und »harmlos« sind. Noch einmal Rosalind Gill: »Ein Hauptmechanismus von Sexismus ist die Erstickung jeglicher Sprache, um strukturelle Ungleichheiten auszudrĂŒcken. Je weniger er thematisiert werden kann, desto wirksamer ist Sexismus.«25
Wo es schwierig genug ist, ĂŒber Komplimente zu sprechen, die keine Komplimente sind (Stichwort Dirndl), ist es noch schwieriger, ĂŒber Komplimente zu sprechen, die keine Komplimente sind, wenn diese nicht von Ă€lteren MĂ€nnern, deren Politik man zweifelhaft findet, gemacht werden, sondern von mehr oder minder gleichaltrigen, klugen und interessanten Menschen. Ein Beispiel â und es ist ein Zeichen fĂŒr die NormativitĂ€t dieser Aussage...