Dr. Kreuzfahrt
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Dr. Kreuzfahrt

Mit Blinddarm im Atlantiksturm – die spektakulĂ€ren FĂ€lle von Schiffsarzt Dr. Schramm

Dr. Horst Schramm, Stefan Kruecken

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  1. 206 pages
  2. German
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Dr. Kreuzfahrt

Mit Blinddarm im Atlantiksturm – die spektakulĂ€ren FĂ€lle von Schiffsarzt Dr. Schramm

Dr. Horst Schramm, Stefan Kruecken

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About This Book

Ein Herzinfarkt bei WindstĂ€rke 11, mitten auf dem Ozean. Seekranke am Rande ihrer Kraft. Eine geheimnisvolle Patientin, die nicht in die Inselklinik will. Der erfahrene Oberarzt Dr. Horst Schramm hat alles erlebt. Jahrelang reiste er als Schiffsarzt mit exklusiven Kreuzfahrtschiffen rund um die Welt.In diesem Buch erzĂ€hlt er nicht nur von seinen spektakulĂ€rsten FĂ€llen, sondern gibt einen Einblick in die Welt hinter den Kulissen der Luxus-Kreuzfahrten. Von anstrengenden Passagieren, den TĂŒcken eines Ga la-Buffets und den kleinen Geheimnissen an Bord. Aufregend, amĂŒsant, auch ein wenig lehrreich – und mit einer guten Prise schwarzem Humor.

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Information

Year
2017
ISBN
9783945877241
Edition
1

01
WELTREISE.
SOUTHAMPTON — KARIBIK — SÜDSEE — AUSTRALIEN

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Die erste Reise von SOUTHAMPTON nach SYDNEY

+++ Biskaya, Atlantik +++ Lungenödem +++ Abbergung mit dem Hubschrauber +++ Flug nach La Rochelle +++

Der Gruß aus der KĂŒche – Kaviar auf Eis und ein CremesĂŒppchen – wird gerade serviert, als ich im Augenwinkel sehe, wie ein Mann vom Tisch des KapitĂ€ns aufsteht. Er geht schnellen Schrittes Richtung Ausgang. Das ist ungewöhnlich, denn niemand sollte nun aufstehen. Ich wundere mich nicht, als Momente spĂ€ter eine Durchsage zu hören ist:
»Mike Mike, Medical Team proceed to cabin 684«.
Im großen Salon lĂ€uft die BegrĂŒĂŸungsgala, der erste Höhepunkt auf dieser Weltreise. »Leinen los« fĂŒr 180 Tage um den Globus, gestartet von Southampton im SĂŒden Englands. Nun fließt der Champagner, rascheln Abendkleider, Small Talk der StammgĂ€ste aus der ersten Klasse. Man kennt sich von frĂŒheren Reisen. Wir befinden uns nach Stunden auf den Wellen bereits mitten in der Biskaya, und die See ist so rau, wie es fĂŒr dieses Gebiet typisch ist. »Schön, dass Sie wieder hier sind, ich habe Sie letztes Jahr vermisst.« Auch das Servicepersonal wird freudig begrĂŒĂŸt. »George, sind Sie wieder an Tisch 3?« Die meisten GĂ€ste fĂŒhlen sich an Bord zu Hause, vertraute Menschen, alles wie gewohnt. Klaviermusik ist zu hören, schmale Finger gleiten elegant ĂŒber die Tasten, es ist Jonathan, der schottische Pianist am Steinway.
Auf unserem Flaggschiff gibt es bei der BegrĂŒĂŸungsgala einen besonderen Brauch. Nicht ein Gong ruft die Passagiere zu Tisch, sondern Herbert, der persönliche Steward des KapitĂ€ns. Er blĂ€st von der BrĂŒstung des Foyers seine Trompete: »God save the Queen.« Diesen Brauch gibt es meines Wissens auf keinem Schiff der Welt, Herbert hatte ihn von der Royal Navy mitgebracht. Ein Tusch ertönte, und der KapitĂ€n schritt mit seiner Dame, gefolgt von den anderen, zu Tisch. Im Speisesaal der ersten Klasse dĂŒrften bei offiziellen AnlĂ€ssen seitens der Crew nur KapitĂ€n van de-Mache, der Hotelmanager und ich, der Schiffsarzt, teilnehmen. Das war das Diktat der Reederei, vom MaĂźtre d’hĂŽtel so festgelegt. Wer passt zu wem? Das war auf jeder Reise die große Frage. Das Risiko, etwas falsch zu machen, konnte böse Folgen fĂŒr den Verlauf der Reise haben. Man stelle sich vor, man sĂ€ĂŸe an 180 Tagen neben den falschen Leuten! Oder man wollte oder musste an einen anderen Tisch platziert werden, welch ein Fauxpas! Meine Frau Ulrike und ich wurden oft zu schwierigen Passagieren gesetzt oder zu jenen, die grĂ¶ĂŸere medizinische Probleme hatten. Außerdem gesellten sich oft GĂ€ste an unseren Tisch, die sich fĂŒr Kunst, Literatur und Musik interessierten. Meine Frau hatte Religion, Kunstgeschichte und Musik studiert; sie durfte auf Anweisung der Reederei immer mitfahren, denn sie hielt Gottesdienste und unterstĂŒtzte die Touristik bei LandausflĂŒgen.
Nach meinen BegrĂŒĂŸungsworten erhob ich mein Glas:
»Nun hebet jetzt das schöne Glas, das wir mit frischem Trunk gefĂŒllt. Ich heb es hoch und wĂŒnsche laut, dass es nicht nur den Durst Euch stillt. Die Zahl der Tropfen, die es hegt, sei Euren Jahren zugelegt.«
Ein Trinkspruch aus Goethes »Faust«. Sein Geburtshaus steht in Frankfurt am Main, meine Praxis ist nicht weit. Ich erzĂ€hlte von dem bedeutenden Dichter der Deutschen, vom Goethehaus im Hirschgraben und von seinen WirkstĂ€tten in Wetzlar und Weimar. Dabei gab ich auch oft eine Anekdote aus meiner Schulzeit zum Besten. Wir lasen Faust im Deutschunterricht mit verteilten Rollen. Dabei bemerkte der Lehrer, dass unser MitschĂŒler Bernhard kein Text-Heft zur Hand hatte. Der PĂ€dagoge schnauzte: »Was erlauben Sie sich eigentlich, Sie Bernd?« Mit gesenktem Haupt gestand der SchĂŒler: »Ich kenne den Faust auswendig.« Und bis zum heutigen Tag ist das so.
Wir hatten das Ritual zelebriert, wie immer, doch nun gibt es den »Mike«-Ruf, und mir ist klar, dass ein Notfall ansteht. Ich entschuldige mich bei den GĂ€sten am Tisch und eile aus dem Restaurant. Auf dem Flur treffe ich auf die Krankenschwester in Sportkleidung, den Schiffszimmermann, dessen Overall noch voller SĂ€gespĂ€ne ist, und einen Koch, der einen Defibrillator trĂ€gt. Ich will nicht auf den Aufzug warten und nehme die Treppe. Zwei Decks höher kommt uns KapitĂ€n van de-Mache entgegen, der als Erster gerufen wurde. Er sagt »Fehlalarm« und bedankt sich fĂŒr das schnelle Kommen. Ich bin froh, dass ich wieder zurĂŒck an den Tisch kann. Ich habe Hunger. Aber es kommt anders. Nach ein paar Schritten höre ich wieder die vertraute Stimme durch den Lautsprecher: »Mike Mike, Medical Team proceed to the front of First Class Restaurant.« Als ich dort eintreffe, deuten einige ServicekrĂ€fte auf die Toilette. Sie sehen erschrocken aus, sie sind bleich. Ich gehe hinein und sehe, warum: Ein Mann kniet vor dem Waschbecken und erbricht hellrotes Blut im Schwall. Die Differenzialdiagnosen rasen mir durch den Kopf: Vielleicht ist es eine Ösophagusvarizenblutung, also eine geplatzte Krampfader der Speiseröhre? Selbst bei sofortiger Behandlung handelt es sich dabei um eine lebensbedrohliche Komplikation. Beim NĂ€herkommen nehme ich ein rasselndes AtemgerĂ€usch wahr. Lungenödem. Ich verabreiche sofort Sauerstoff und Nitro, sorge dafĂŒr, dass der Patient mit weißen TĂŒchern abgeschirmt wird, und lasse ihn ins Bordhospital transportieren. Er kommt auf das Herzbett der Intensivstation, ich lege einen großkalibrigen, venösen Zugang, gebe Furosemid und Morphium hydrochloricum. Ich lege die EKG-Elektroden an und erkenne Extrasystolen, Couplets und kurze Kammertachykardien. Die Lage ist ernst, mehr als ernst. Der Mann – der nach Angaben seiner Frau schon einmal reanimiert werden musste – schwebt in akuter Lebensgefahr.
Ich informiere den KapitĂ€n ĂŒber die geringen Überlebenschancen des Passagiers. Ich weiß, dass er dennoch um den Mann kĂ€mpfen wird. Ich weiß, dass Chief Ingenieur David seinen Tisch mit den allein reisenden Damen verlassen muss, um in den Maschinenraum zu eilen. Ich spĂŒre, wie wenig spĂ€ter die dritte Maschine angelassen wird und dass unser Schiff den Kurs Ă€ndert. Die Nacht ist dunkel, der Sturm nimmt zu, und regulĂ€r wĂŒrden wir erst in zwei Tagen wieder einen Hafen anlaufen.
KapitĂ€n van de-Mache ruft mich zu sich auf die BrĂŒcke. Er telefoniert mit der französischen Rettungsleitstelle, aber wie zu erwarten war, sprechen sie nur Französisch. Eine Kommunikation ĂŒber medizinische Details ist kaum möglich. Neben dem KapitĂ€n hockt unsere Bordschneiderin mit nassen Haaren, in denen Lockenwickler stecken. Sie ĂŒbernimmt den Part der Dolmetscherin. Ich versuche, das Krankheitsbild des Patienten auf Englisch und Latein zu erklĂ€ren.
»FĂŒrosemide, FĂŒrosemide«, sagen die MĂ€nner der französischen Rettungsleitstelle immer wieder. Offensichtlich glauben sie, dass wir ein Frachtschiff sind, denn das Medikament, mit dem man Wasser aus dem Körper bringt, habe ich schon zu Anfang der Behandlung verabreicht. Der KapitĂ€n erklĂ€rt, dass ein Hubschrauber der französischen Marine in einer halben Stunde eintrifft. Doch das Schiff hat kein Hubschrauberdeck, was bedeutet, dass der Patient vom Vorschiff abgeborgen werden muss. Er sagt zu mir: »Geh auf die BrĂŒcke, wir mĂŒssen langsamer werden!«
Es ist ungewöhnlich, wenn der Schiffsarzt auf der BrĂŒcke erscheint und ruft: »ZurĂŒck auf zwei Maschinen und Kurs Steuerbord 2-0-4.« Um 22.35 Uhr gibt es Kontakt zur Seenotleitung MRCC Bremen und unserer Reederei. Der Zustand des Patienten hat sich nur wenig gebessert; das Lungenödem lĂ€sst sich nicht beseitigen, und er ist weiterhin bewusstlos. Eine Abbergung durch den Helikopter bedeutet ein großes Risiko fĂŒr den Patienten, das ist keine Frage. Doch in diesem Moment ist es seine einzige Chance.
Dreizehn Minuten vor Mitternacht sind die Lichter des Helikopters zu sehen, aber nur die Lichter. Ich höre die RotorblĂ€tter, eine gespenstische Situation. Einige Passagiere melden sich besorgt bei der Rezeption und fragen, ob das Schiff ĂŒberfallen wird. Auf Position 46° 19,3' Nord – 001° 54,4' West winschen sich ein französischer MilitĂ€rarzt und ein SanitĂ€ter ab. Ich informiere den Kollegen ĂŒber die Vorgeschichte, das Krankheitsbild und die bisherige Therapie. Doch so richtig interessiert es ihn nicht, scheint mir, fĂŒr ihn ist allein der Transport wichtig. Der Patient wird mitsamt Infusion und Monitor auf einer speziellen Trage platziert. Ich wundere mich ĂŒber die langen Messer an den GĂŒrteln der MĂ€nner vom Helikopter. Durch die Katakomben des Schiffes erreichen wir den Bug, der nun hell erleuchtet ist.
Ich kann den Hubschrauber trotz des Sturms hören, aber nicht sehen. Er schwebt ein StĂŒck querab vom Bug, um nicht mit den RotorblĂ€ttern gegen die Schiffsaufbauten zu kommen. Zwei MĂ€nner spĂ€hen durch den glĂ€sernen Fußboden des Helikopters, ein weiterer steht in der geöffneten TĂŒr und lĂ€sst ein Seil herunter. Zuerst wird der Patient gewinscht, nach meinen Anweisungen in Herzbettlagerung: Oberkörper hoch, Beine tief. Dann folgt der Arzt, zum Schluss der SanitĂ€ter. Damit die Personen durch den starken Wind und die Bewegungen von Schiff und Hubschrauber nicht schaukeln, hĂ€lt ein weiterer Matrose die Last mit einer weiteren Leine von unten stabil. Um 00.38 Uhr ist die Operation beendet. »Helikopter auf dem Weg«, wird im Schiffstagebuch vermerkt.
Was nicht im Tagebuch steht: 00.45 Uhr trinkt der Schiffsarzt in der »King’s Bar« ein Bier.
In den meisten FĂ€llen erkundige ich mich spĂ€ter, wie es meinen Patienten ergangen ist, es interessiert mich einfach. In diesem Fall lĂ€uft es fĂŒr den Schwerstkranken zunĂ€chst nicht gut: Die Ärzte kommen nicht klar und verlegen ihn in die Hauptstadt des DĂ©partements. Auch hier gelingt es den Ärzten nicht, das Lungenödem in den Griff zu bekommen. Daraufhin entscheidet man sich, den Patienten nach Deutschland zu fliegen, um ihn in der Uniklinik der Kardiochirurgie – wo man ihn bereits mehrfach behandelt hat – zu operieren. Die prĂ€operativ durchgefĂŒhrte Computertomografie zeigt ein Leck in der thorakalen Aorten-Prothese, aus dem es blutet, und es kommt zu einem HĂ€matothorax. Die Operation dauert zehn Stunden und ist ein Erfolg: Der Patient lebt heute noch.
Ich will nicht sagen, dass mir Situationen wie eine geplatzte Aorta in der Biskaya vertraut sind, doch es kommt immer wieder dazu. Wegen der GrĂ¶ĂŸe des Schiffes und wegen des hohen Alters der mitreisenden Passagiere. Nur Leute im Ruhestand oder sehr Wohlhabende können sich ausgedehnte Seereisen auf diesem Schiff leisten. Viele glauben, dass sie im Ernstfall nur »112« wĂ€hlen mĂŒssen, und an Bord stehe ein Krankenhaus mit Maximalversorgung zur VerfĂŒgung. Selbst erfahrene Reisende Ă€ußerten im GesprĂ€ch den festen Glauben, dass im Ernstfall sofort ein Rettungshubschrauber kommt, der sie in eine Spezialklinik bringt. Sofern eine KĂŒste in der NĂ€he ist, trifft dies zu. Befindet sich das Schiff aber weit draußen auf dem Ozean, ist der Bordarzt auf sich alleine gestellt. In den letzten Jahren habe ich insgesamt drei Hubschrauberbergungen erlebt. Neben der Aktion in der Biskaya einen Darmverschluss in der Nordsee und einen Herzinfarkt auf einer Eisscholle in Grönland. Eine weitere Bergung nach einem Herzinfarkt musste ich auf der Ostsee ablehnen, weil der Helikopter ĂŒber keinen externen Schrittmacher verfĂŒgte und die messbare Herzfrequenz noch bei 27 SchlĂ€gen in der Minute lag. Der Patient wĂ€re nicht lebend am Ufer angekommen.
Ich bin bei unserer Reederei seit Langem bekannt. Zum einen durch meine Arbeit an Bord – und wegen meiner langen Arbeitszeiten. Ich bleibe hĂ€ufig mehrere Wochen lang und bis zu fĂŒnf Monaten an Bord, im Unterschied zu vielen Kollegen, die nur ihren Urlaub an Bord verbringen. FĂŒr mich wĂ€re das unbefriedigend: Bis man sich auf einem großen Schiff zurechtfindet und sich nicht mehr verirrt, ist die Dienstzeit meistens schon am Ende.
Normalerweise darf ein Schiffsarzt nicht im Restaurant der ersten Klasse essen. In meinem Fall aber macht die Reederei eine Ausnahme, ich vermute, um mich beim Stethoskop zu halten. Das Hospital ist auf jedem Schiff ein sensibler Bereich, ĂŒber den es gerne und hĂ€ufig Beschwerden gibt. Manche Krankenschwestern kommen an Bord, um sich mit einem reichen Ehemann zu verbinden, sind aber in der tĂ€glichen Arbeit nicht teamfĂ€hig. Sie mĂŒssen ihre Kabine meist mit jemandem teilen; stĂ€ndig gibt es Diskussionen, ob die Schwester oder der Arzt in einem Hafen an Land dĂŒrfen. Auf Reede ist es dem Schiffsarzt verboten. Der Grund: Vor einiger Zeit war der Schiffsarzt an Land, als ein Matrose bei der Aufzugwartung stĂŒrzte und sich einen TrĂŒmmerbruch der Kniescheibe zuzog. Er schrie angeblich eine Stunde lang, ohne adĂ€quate medizinische Hilfe zu bekommen. Besonders bei Seegang kommt es wĂ€hrend des Tenderns (also dem Transport mit kleinen Zubringerbooten an Land) immer wieder zu UnfĂ€llen. Deshalb ist mein Posten, wenn das Schiff auf Reede liegt, immer an Bord.
Ich habe mich nie fĂŒr eine Reise beworben, und trotzdem klingelt daheim oft das Telefon, am anderen Ende die Personalchefin der Reederei: »Können Sie vielleicht nach Zypern, Hongkong oder Noumea fliegen?« Unsere Reederei beschĂ€ftigt je nach GrĂ¶ĂŸe des Schiffes ein oder zwei Ärzte und zwei Krankenschwestern. Viele Kollegen gehen nach der ersten Fahrt wieder von Bord, wenn sie die Arbeitsbedingungen erlebt haben oder das große Spektrum an Erkrankungen nicht bewĂ€ltigen können. Auf einigen Schiffen dĂŒrfen die SchiffsĂ€rzte mit den GĂ€sten essen, auf den meisten nicht. Die Kabinen befinden sich im Crewbereich und unweit des Hospitals, winzig klein, ein Bullauge. Auf meiner ersten Reise verbrachte ich drei Monate auf dem Fußboden. Zwar hatten meine Frau und ich eine Kammer mit Etagenbett. Wegen meiner KörperfĂŒlle kam ich nur mit MĂŒhe ins obere Bett, aber nicht mehr runter, was ein Problem war, wenn das Telefon klingelte und Eile geboten war. Die Ehefrau eines Kollegen fiel einmal aus dem oberen Stock und brach sich den Oberschenkel, was zu großer Empörung fĂŒhrte. Die Ärzte protestierten und drohten damit, dieses Schiff zu bestreiken. Daraufhin wurde eine »Lektoren-Kabine« auf dem Crewdeck zur VerfĂŒgung gestellt, eine Innenkabine ohne Bullauge. Die besten Kabinen hatten natĂŒrlich der KapitĂ€n und der Chief, im Bereich der Passagiere wohnen der Hotelmanager und der Kreuzfahrtdirektor. Als Arzt bin ich an 24 Stunden tĂ€glich und an sieben Tagen der Woche im Dienst. Ich bin immer im Dienst, bei jedem Drill dabei, und biete nebenher Kurse in Erster Hilfe an. Wer glaubt, dass ein Schiffsarzt ein glamouröses Leben wie auf dem »ZDF Traumschiff« fĂŒhrt, der liegt gewaltig daneben.

+++ Gran Canaria, Atlantik +++ Akuter Blinddarm +++ Schiff zurĂŒck an die Pier in Las Palmas +++

Das Wetter beruhigt sich mit jeder Stunde, die wir weiter durch den Atlantik stampfen. Vorbei an Cap Finisterre und Cap San Vicente erreichen wir die Kanarischen Inseln. Die Stimmung an Bord entspannt sich weiter, die GĂ€ste sonnen sich in LiegestĂŒhlen. Empfindliche zeigen mir ihren ersten Sonnenbrand. Teneriffa und Gran Canaria sind die letzte Möglichkeit, jemanden zum Zahnarzt zu schicken. Ein Dentist befindet sich nicht unter den GĂ€sten dieser Reise, und Zahnprobleme gibt es hĂ€ufig. Crewmitglieder von den Philippinen arbeiten neun bis elf Monate lang an Bord und gehen in der Regel erst dann zu Zahnuntersuchungen, wenn sie wieder in der Heimat sind. Konsultationen an Land, beispielsweise fĂŒr einen Hautarzt oder GynĂ€kologen, werden fĂŒr die GĂ€ste vom Chief Purser organisiert. FĂŒr die Crew regelt das der Crew Purser ĂŒber den örtlichen Hafenagenten.
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Arbeitsmaterialien eines Schiffsarztes: Stethoskop, PĂ€sse, Bordkarten.
Vor einer AtlantikĂŒberquerung ĂŒberprĂŒfe ich immer meine Apotheke und kaufe das eine oder andere nach. In Spanien geht das problemlos, anders als etwa in den USA oder SĂŒdamerika. In Australien oder Russland funktioniert es wegen der sehr strengen Regularien erfahrungsgemĂ€ĂŸ schlecht, ebenso wenig wie in Hongkong oder China. Dort behelfe ich mir in der Regel auf dem Schwarzmarkt, um notwendige Medikamente zu kaufen. Auf den Philippinen hingegen erhĂ€lt man selbst stĂ€rkste Medikamente ohne Rezept. Unsere Bordapotheke wird stĂ€ndig von den Hafenbehörden ĂŒberprĂŒft, wegen der Verfallsdaten. Wird man in SĂŒdamerika bei einer Kontrolle mit einem abgelaufenen Medikament ertappt, ist ein vierstelliger ...

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