Ich weinte nicht, als Vater starb … und hasste Sex, bis ich Liebe fand
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Ich weinte nicht, als Vater starb … und hasste Sex, bis ich Liebe fand

Geschichte eines Inzests und einer Heilung

Iris Galey

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  1. 320 pages
  2. German
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Ich weinte nicht, als Vater starb … und hasste Sex, bis ich Liebe fand

Geschichte eines Inzests und einer Heilung

Iris Galey

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About This Book

Iris war 14, als sie das Geheimnis preisgab: Sie wurde jahrelang von ihrem Vater missbraucht. Zwei Tage später erschoss sich der Vater. Iris wurde in ein Mädcheninternat gesteckt und sprach nie mehr davon – bis sie 40 Jahre später, in Neuseeland, eine TV-Sendung über Inzest sah und die Tragödie ihrer Lebensgeschichte aufzuschreiben begann. Ihr Buch Ich weinte nicht, als Vater starb, in dem sie sich den Namen Olivia gab, um Distanz zum Erlebten zu gewinnen, erschien1986 zum ersten Mal und wurde ein Weltbestseller.Heute ist Iris Galey 80 Jahre alt und glücklich verheiratet. Es war ein langer und harter Weg der Heilung mit vielem Scheitern und Wiederaufstehen, um das tief sitzende Kindheitstrauma zu überwinden und mit der unsichtbaren Verletzung leben zu lernen.Dieser Doppelband enthält den Weltbestseller Ich weinte nicht, als Vater starb und die neue Fortsetzung … und hasste Sex, bis ich Liebe fand, in der Iris Galey ihre Geschichte bis heute fortschreibt. Sie beweist, dass es nie zu spät ist für einen Neuanfang und jeder seine Kindheit im Rückblick noch einmal neu gestalten kann.Mit einem Vorwort des Traumatherapeuten Steven Hoskinson.

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Information

Erster Teil:

Ich weinte nicht, als Vater starb

Mutter

Ich höre Dich schon sagen, es zeuge von schlechtem Geschmack, ein solches Buch zu schreiben. Mutter, ich hatte keine andere Wahl. Dieses Buch schrieb sich von selbst, denn das, was wir sind, sind wir durch unsere Erfahrung geworden. Es war der einzige Weg, meine Identität zu finden, über alles hinwegzukommen und dabei nicht zu zerbrechen. Durch die Resonanz, die es gefunden hat, fühle ich mich anerkannt. Eigentlich ist dieses Buch das größte Geschenk, das ich Dir, meiner Familie und mir selbst machen konnte – obwohl es sehr schmerzlich war, ehrlich zu sein. Aber jetzt ist der Schmerz vorbei und mit ihm all die Gedanken und Gefühle, die mich so lange nicht losgelassen haben. Ich bin frei, und Du solltest es auch sein! Ich liebe Dich, Mama.
Olivia

1

Frau Dresden, unsere deutsche Haushälterin, bot mir nach dem Begräbnis einen Apfel an.
Ich konnte den Geruch der Cox-Orange nicht aushalten, denn mein Vater hatte sich dort oben auf dem Dachboden, wo die Äpfel für den Winter gelagert waren, erschossen.
Ich war vierzehn, und er hatte es meinetwegen getan.
Ich hasste dieses Haus in Bradford, hatte das Nachhausekommen gehasst, seit wir dort lebten.
Ich blickte mich im Spülraum um, der neben der Küche lag, und sah Frau Dresden verbissen Eiercreme in einer Schüssel schlagen. Ihre fleischigen Arme bebten im Rhythmus ihrer Bewegungen. Wenn es Krisen gab, machte sie immer Pudding.
Als ich die samtige gelbe Creme schlürfte und zu dem neuen Herd aus rotem Backstein hinübersah, vermisste ich die schwarz polierte Yorkshire-Kaminsole, die herausgerissen worden war. Das einzige Überbleibsel aus alten Zeiten war der Kleiderhalter an einem Flaschenzug, der mit der feuchten, vergessenen Wäsche unter der Decke hing.
Widerwillig betrachtete ich die Unterhosen meines Vaters und jene riesigen unserer Haushälterin. Mich schauderte, und ein eiskalter Schweißtropfen rollte mir den Rücken hinunter.
Er wird diese Unterhosen nicht mehr brauchen, dachte ich. Ich war froh und fühlte kein Bedauern. Ich fragte mich, wo Mama war. Erinnerungen stiegen hoch …
Jeden Abend, wenn Vater mit seinem Triumph Dolomite die Auffahrt hochfuhr, hatte ich Angst. Ich beobachtete ihn durch das Seitenfenster. Kleinlich untersuchte er sein Auto nach den winzigsten Schmutzflecken auf dem blauen Lack. Dann hinkte er mit seiner arthritischen Hüfte durch die Hintertür. Ich hörte, wie er Frau Dresden anschrie und zurechtwies.
Jeden Abend ließ er mich warten, weil er die Schuhe, die ich zu putzen hatte, inspizieren wollte. Manchmal schlug er mit einem Schuh auf meinen Kopf, ein andermal stieß er ihn in meinen Bauch.
»Ich habe ihr beigebracht zu kochen, doch nie macht sie es so, wie ich es ihr gezeigt habe, und du bist auch ein Schwachkopf. Wieso bist du zu blöde, ein paar Schuhe zu putzen, so wie ich es dir gezeigt habe? Was für ein Versager ist mein Kind! Wieso bin ich dazu verdammt, so eine Sammlung von dummen Weibsbildern um mich zu haben?«
Er rief immer vom Gang her: »Du bist ganz alleine für deine Fehler verantwortlich! Darum musst du Disziplin lernen und entsprechend erzogen werden!«
Selbst wenn ich Beulen auf meiner Stirn hatte, wagte es niemand, seine Autorität infrage zu stellen. Er hatte es weit gebracht. Als Direktor eines bekannten schweizerischen Chemieunternehmens wurde er sehr respektiert und gefürchtet. Er hatte uns alle von unserer Minderwertigkeit überzeugt. Er hätte viel lieber einen Sohn gehabt und ließ uns immer spüren, dass man ihn wegen der Geduld, die er für uns aufzubringen hatte, eigentlich hätte bemitleiden müssen.
Und jede Nacht hatte es noch Schlimmeres gegeben, viel Schlimmeres. Ich konnte jetzt kaum noch atmen, wenn ich nur daran dachte.
»Heute Nacht nicht! Keine Nacht mehr!« sagte ich laut, während ich fingerschleckend die Cremeschüssel leerte und meine schmutzigen Schuhe zur Seite stieß.
»Vot’s zat?«, fragte die Haushälterin.
»Nichts, Frau Dresden!«
Meine Gedanken kehrten zu dem Begräbnis zurück. Ich hatte mich sehr bemüht zu weinen, doch die Tränen wollten nicht kommen. Wir alle standen vor der Kapelle auf dem Friedhof. Mutter wies mich darauf hin, dass der Gürtel an meinem dunkelblauen Trauerkleid verdreht war. Ich hatte es schon zur Schule angezogen und war das einzige Mädchen ohne Uniform gewesen. Heute war die Schule aus für mich. Ich erinnerte mich, wie sehr ich gehofft hatte, dass meine hinter dem Rücken gefalteten Hände mir das Gefühl und den Anschein von mehr Traurigkeit geben würden, als ich tatsächlich empfand. Ich betrat die Kapelle, froh, den vielen Reihen von Gräbern zu entrinnen. Skelette da unten, verwesendes Fleisch. Grinsende Zähne, die Zahnärzte einst mit Goldfüllungen versehen hatten. All diese Nerven jetzt tot. Ich setzte mich in die vorderste Bankreihe und war mir sicher, Gott könne mich durchschauen: Anstatt mich zu grämen, dachte ich nur Schlechtes.
Ich bemerkte Freunde und Männer aus der Firma meines Vaters. Diejenigen, die ich sah, weinten nicht. Niemand außer Mama weinte. Der Kranz der Firma war der größte, ganz in Grün, Weiß und Gold. Blumen, die nach dem Winter auf ihrem Weg ans Licht die harte Erde durchstoßen hatten, um schließlich auf einem Sarg zu landen!
Jetzt, daheim im Spülraum, fragte ich mich, ob ich mich anders hätte verhalten sollen, um den Erwartungen meiner Mutter und der anderen zu entsprechen. Ich konnte es nicht, dachte ich. Ich konnte es nicht, weil alles, was ich empfand, unglaubliche Erleichterung war. Die Erleichterung war jetzt so groß, dass ich zu weinen anfing …
»Danke für den Pudding«, rief ich und versetzte der Wandtäfelung Tritte, während ich den dunklen Korridor entlangging.
»Hör auf damit und zieh dir deine Socken hoch!«, brüllte Frau Dresden.
Ich lief am Wohnzimmer vorbei und war überrascht, dass kein Feuer im Kamin brannte. Jeden Abend nach der Schuhputzprozedur hatte Vater mit einem Krug Guinness-Bier am Feuer gesessen. Er stocherte so lange mit dem Schürhaken in der rot glühenden Kohle herum, bis auch dieser durchscheinend rot glühte, worauf er ihn schnell in die dunkle Flüssigkeit tauchte und umrührte. Ich sah, wie der Schaum hochschoss und überlief. Seine Lippen wurden ganz weiß, wenn er den Schaum abschlürfte.
Einmal, als ich mich besonders mutig fühlte, hatte ich ihn gefragt: »Papa (denn ich durfte ihn nicht Vater nennen), warum kannst du mich nicht einfach lieb haben? Weißt du, so wie andere Papas? Nicht mit … dem … einfach lieb haben?« Mit spöttischem Blick sah er auf, der Muskel in seiner Wange zuckte. Er schlug seine Knie zusammen, dann lehnte er sich in seinem Ledersessel zurück, streckte die Beine aus, steckte seine Hand in die Hosentasche und sagte: »Schau, wie er groß wird. Schau dir dein Spielzeug an. Schau, wie er hüpft! Er gehört dir. Er will, dass du ihn anfasst und hältst. Er kann nicht anders! Schau, wie dein Spielzeug hüpft.«
Ich stand da, diese schreckliche Übelkeit stieg in mir auf, wie immer. Ich wollte fortlaufen, aber ich wagte es nicht. Mit einem schnellen Blick vergewisserte er sich, dass niemand kam, dann stürzte er sich auf mich, packte meine Hand und presste sie dorthin.
Ich hatte den leeren Kamin und den Sessel, in dem er gesessen hatte, angestarrt; jetzt wandte ich mich ab. Mich überkam das gleiche Gefühl wie damals. Dieses schmerzliche Gefühl von Einsamkeit und Wertlosigkeit. Alles in mir sehnte sich nach jemandem, der mich halten und streicheln würde, ohne diesen entsetzlichen Teil – das Sexuelle.
Ich lief weiter, hielt unten an der dunklen Treppe an und schaute hinauf.
Dort oben hatte er es getan.
Langsam stieg ich zum Dachboden hinauf. Der Geruch der Äpfel umgab mich.
Ekelerregend. Ich streckte meine Arme über das Geländer hinaus, bewegte sie auf und ab wie Flügel und sagte: »Ich bin ein Vogel. Ich bin ein Vogel, und ich kann wegfliegen, und es ist gut, ein Vogel und ein Mädchen zu sein und zu fliegen.« Wieso sagte ich dies immer, wenn ich hinaufging? Ich zögerte, als ich oben vor seiner Schlafzimmertür angekommen war, der Tür, durch die ich so oft hatte gehen müssen.
Zaghaft öffnete ich die Tür und starrte an die Decke. »Nun ist alles gut«, sagte ich laut. »Er ist für immer fort! Er kann mir nicht mehr wehtun, nie mehr!« Nach einer Weile wagte ich es, den Blick zu senken. Was ich sah, ließ mich erschaudern. Ich fühlte mich nicht gut und wollte nicht hierbleiben, und doch musste ich hinsehen.
Auf der blau-weiß gestreiften Matratze war ein großer, feuchter Fleck. Der ausgewaschene rötliche Fleck, der vom Tod meines Vaters zeugte.
Wie unter Zwang musste ich in dem Raum mit seiner schrägen Decke und dem Dachfenster herumschauen. Dort waren der Schreibtisch, der Hocker, Bett und Nachttisch – alles in Chrom und schwarzem Marmor, außer der rot-weißen Schweizer Fahne, die mit vier Nägeln an die Wand geschlagen war.
Ich sah den knochigen, glatzköpfigen Mann vor mir, wie er meine Beine auseinanderriss und sich zwischen sie presste. Ich war neun, als es begann. Ich fühlte seine Schläge, wenn ich mich wand. Ich sah ihn, wie er schnell nach seiner goldgeränderten Brille auf dem Nachttisch griff, um mich besser betrachten zu können. Wie die Wolfsgroßmutter in ›Rotkäppchen‹.
Wieso musste ich jetzt ausgerechnet daran denken? Ein Märchen! Hu! Wie er gerieben und gezerrt und mich angestarrt hatte! Wie mein dünner Arm sich verkrampfte bei dem, was er mich zu tun zwang. Weiter und weiter und weiter, hoch und runter, bis er endlich zu keuchen und stöhnen begann. Widerlich – aber für mich das ersehnte Zeichen, dass ich bald schlafen gehen durfte.
»Sie haben Erde auf dich geworfen! Du bist nun unter ihr begraben, sicher in deinem Sarg vernagelt! Niemals mehr kannst du mir wehtun oder mich foltern!«
Dann drehte ich mich um und rannte die Treppe hinunter, ein letztes Mal.
Ich stürzte aus dem Haus und rannte über die Straße. Ich hatte nur einen Freund auf der Welt. Ich klopfte an.
Miss Abbott schlurfte herbei. Wie immer spähte sie durch einen Spalt in ihrer morschen Tür und fragte misstrauisch: »Wer ist da?«
»Ich bin es, Olivia.«
»Olivia, mein Liebes.«
Damit öffnete sie die Tür und betrachtete mich mit einer Bewunderung, die mich verlegen machte. Noch peinlicher war mir der nächste Teil ihres Begrüßungsrituals: Sie schloss mich in ihre Arme, ging langsam auf die Knie und presste ihr Ohr gegen meinen schmalen Körper, glitt an ihm hinunter, bis sie an meinen knochigen Knien zu lauschen schien! Ich hasste diesen Teil und fühlte mich unbehaglich, wurde rot, unterdrückte ein Lachen und fragte mich, warum in aller Welt sie dies immer tat.
Dann, wie auf ein geheimes Zeichen hin, erhob sich Miss Abbott würdevoll und führte mich in ihr Wohnzimmer.
Dankbar sank ich auf das Bärenfell, das das Sofa bedeckte, und legte meine Hand auf den riesigen Kopf mit den gelben Glasaugen. Hier im warmen Schein des Kaminfeuers entspannte ich mich zum ersten Mal seit dem Begräbnis. Miss Abbott hatte mir erzählt, dass sie ganz zurückgezogen von der Außenwelt lebe. Sie litt unter Platzangst. Sie las die Nächte hindurch und schlief viel tagsüber, doch für mich hatte sie immer Zeit. Wir waren uns das erste Mal begegnet, als sie gerade die Vögel in ihrem Garten fütterte.
Dank ihr lernte ich eine große Auswahl englischer Literatur kennen. Ich liebte es, wenn sie mir vorlas. Lachte in mich hinein, wenn sie aus Great Expectations vorlas, weil dort genau das beschrieben zu sein schien, das mir in ihrem altertümlichen Haus ins Auge fiel. Die Vorhänge waren zerrissen und fadenscheinig, die Tapete in Fetzen und verblichen, Zuckerkrusten klebten an ungewaschenen Teetassen. Dies alles übte eine sonderbare Anziehungskraft auf mich aus, ganz im Gegensatz zu unserer schweizerischen Perfektion, die durch ständiges Herumnörgeln und Abrackern, Rastlosigkeit und Frustration erreicht wurde.
Hier gefiel es mir. Vater hatte mir verboten hierherzukommen, doch nun stand es mir frei, Freunde zu haben. Dies begriff ich plötzlich, als ich nach dem Begräbnis bei ihr saß. Jetzt wurde mir bewusst, dass es mit den Schlägen, der Grausamkeit, der entwürdigenden Ungerechtigkeit meines Vaters ein Ende hatte.
Ich blickte in Miss Abbotts gütiges Gesicht, sah die abgetragene, moosgrüne Kittelschürze, die sie jahraus, jahrein trug, sah ihr ergrauendes, in zwei Zöpfe geflochtenes Haar. Alles war wunderschön und gab mir das Gefühl von Sicherheit. Ich begann, mich zu entspannen, und plötzlich wusste ich, dass ich dieses Gefühl von Sicherheit hier, mit diesem neuen Menschen in meinem Leben, in meiner eigenen Familie nie kennengelernt hatte. Ich dachte dabei an Mama, schob aber den Vergleich schnell wieder beiseite.
Ich betrachtete die Bücherstapel, die überall herumlagen, die Ölgemälde in schweren Goldrahmen und die Glaskästen mit den ausgestopften Vögeln, das Straußenei, das ich manchmal in die Hand nehmen durfte.
Gleich würde sie sagen: ›Ich hole dir eine Tasse Tee und deine Scho-ko-laden-kekse‹, und ich würde antworten: ›Ich mag es, wie du Scho-ko-lade sagst‹, und sie würde fortfahren: ›Und ich mag es, wie du Seal-y-a-hamhund sagst.‹ Dann müssten wir beide lachen. Ich wegen ihres sehr englischen Akzents und sie wegen meines schweizerischen.
Ich bat sie, mir die Balkonszene oder »Sein oder nicht sein« vorzulesen, doch dann sah ich ein, dass es keine Lösung wäre, mich abzulenken, dass ich sprechen musste. Ich musste mich ihr anvertrauen, musste versuchen zu verstehen, was geschehen war.
»Ich würde gern mit Ihnen sprechen, aber ich weiß nicht, wie.«
»Ich verstehe. Dein marineblaues Kleid gefällt mir. Es ist viel hübscher als schwarz.«
»Man hat ihn heute begraben. Ich konnte nicht weinen.«
Sie sagte nur: »Liebes.«
Schweigen. Nach einer Weile sagte ich, während ich jeden Muskel in ihrem Gesicht beobachtete: »Er hat sich erschossen.«
Ihr Gesicht ließ keine schlimme Reaktion erkennen. Meine Spannung löste sich noch mehr. Ich musste sprechen, musste es herausbringen.
»Er hat es meinetwegen getan.«
Ich fühlte mich kalt wie Stein.
»Du kannst mir alles erzählen, doch nur, wenn du wirklich willst, mein Liebes. Nur wenn du meinst, es hilft dir. Ich weiß seit Langem, dass da etwas nicht stimmte. Du schienst immer so bedrückt.«
»Es ist schwer, darüber zu sprechen, und alles ist so …«
»Komm, komm, es ist alles gut. Es wird dir viel besser gehen, wenn du dich einmal richtig ausweinst.«
Ich stammelte: »Es ist, als ob all der Schmerz aus mir herausbrechen möchte mit Worten … aber Mama meint, es sei zu schockierend. Ich soll nicht darüber sprechen. Aber ich musste es mit ihm tun, und das war nicht zu schockierend, nicht wahr, dass ich das machen musste? Oh! Ich habe nur zweimal darüber gesprochen, weil ich es nicht mehr aushalten konnte. Einmal mit diesen Leuten, die zu Besuch kamen, und die gingen dann zur Polizei, und danach mit der Polizistin.«
»Schsch …, mein Liebes. Da hast du ein Taschentuch.«
»Wenn ich doch nur verstehen könnte, warum er das alles tat. Sehen Sie, Miss Abbott, er machte diese schrecklichen Dinge mit mir und sagte, dies sei ganz normal, doch man dürfe niemals darüber reden. Ich bin so durcheinander, und ich verstehe es einfach nicht … Und als ich darüber sprach, als ich es einfach nicht mehr aushalten konnte, peng, da stirbt er, erschießt sich, und es ist alles meine Schuld, und ich kann nicht einmal weinen bei seinem Begräbnis, und ich konnte ihn nicht lieb haben … Mitleid, ja, er tat mir leid, weil er hinkte und immer solche Schmerzen hatte, oh doch, aber dann war er so gemein! Nie ein Papa, nie eine Familie …«
Sie zog mich an sich, legte ihren Arm um meine Schulter, und ich schluchzte wie nie zuvor.
»Es ist die einzige Familie, die ich habe, hatte …«, schrie ich auf, »und wahrscheinlich ist das besser, als überhaupt keine Familie zu haben.« Vor lauter Schluchzen konnte ich kaum noch atmen.
»Komm, komm, mein Liebes. Ich hatte keine Ahnung … Es ist einfach zu fürchterlich, was er dir angetan hat. Dass du so gelitten hast, so schrecklich unglücklich warst direkt unter meinen Augen, und keiner hat davon gewusst!«
»Er machte mir solche Angst und drohte, mich umzubringen.«
»Olivia!«
»Wenn Sie alles wüssten, würden Sie mich nicht mehr mögen. Sie würden nicht mehr meine Freundin sein wollen. Das weiß ich. Ich weiß es.«
»Olivia, ich werde dich immer mögen und deine Freundin sein. Es ist nur ein solch unglaublicher Schock! Wenn ich daran denke, dass niemand davon wusste und dir helfen konnte! Wa...

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