Fremdkörper
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Fremdkörper

Miriam Pielhau

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  1. 216 pages
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Fremdkörper

Miriam Pielhau

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Anfang 2008 wurde bei der bekannten TV-Moderatorin Miriam Pielhau mit erst 32 Jahren Brustkrebs festgestellt. Innerhalb kurzer Zeit durchlief sie das gesamte medizinische Programm mit Operation, Chemotherapie und Bestrahlung. Parallel dazu hat sie ihre Erlebnisse, Gefühle und Gedanken dieser Zeit festgehalten. Sie erzählt spannend, emotional und humorvoll, was sie während der Therapie erlebt, was sie fühlt, welche Personen sie trifft, wie sich ihr Blick auf das Leben verändert. Und sie wird nicht müde, das Essenzielle, das Wichtigste und für alle gleich Geltende immer wieder ins Zentrum zu stellen: Gib nicht auf und kämpfe gegen den Krebs.In diesem einzigartigen Buch gibt sie all ihre Emotionen, ihre Kraft und ihren unverwüstlichen positiven Blick auf das Leben an uns alle weiter.Sie galt als geheilt, bis 2015 Leberkrebs diagnostiziert wurde. Auch diesem bot sie entschlossen die Stirn, hat aber im Alter von nur 41 Jahren den letzten Kampf verloren.

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Information

1. 
Hochzeitstag

Auf der Spüle steht ein Teller mit Essensresten. Eingetrocknete, plastikharte Nudeln, rötlich-braune Soße und fleischige Krümel. Kombiniere, kombiniere: Diese Indizien weisen auf die Spaghetti bolo vom Dienstagabend hin. Nicht gestern. Sondern Dienstag vor einer Woche Dienstag. Also: eine hübsche, 8 Tage alte, farblich absolut nicht mehr ansprechende, organische Kruste. Ein Seufzen wogt sich durch meinen Brustkorb. Mein Liebster ist absoluter Experte solcher – ich nenne sie mit dem Humor der Resignation – Projekte. Die Fragestellung und zur wissenschaftlichen Überprüfung freigegebene These ist dabei immer die gleiche: Was passiert wohl mit Biomüll in Raumtemperatur bei ausreichender Sauerstoffzufuhr und der konsequenten Verweigerung von Spülmittel und Schwamm? Auch wenn sich die Antwort (»Vergammeln!«) nicht verändert hat, seit wir uns Träume, Bett und Miete teilen, nimmt diese Versuchsreihe irgendwie kein Ende. Mich macht das kirre. So was. Und so kommt es, wie es in einem anständigen Haushalt halb zehn abends in Deutschland kommen muss: Das Weib meckert. Laut. Und lang. Und vor allem langweilig. Weil er die Sätze schon so gut kennt, dass er sie mitsprechen kann. Taktisch total unklug finden sich im Schimpfschauer überproportional oft die Worte »immer« und »nie« und »du«. Die ganzen BRIGITTE-Dossiers über harmonische Partnerschaften, sie haben nichts genützt. Natürlich nicht. Die Dame des Hauses echauffiert sich also aufs Feinste. Dabei weiß sie genau, dass das gar nichts bringt. Außer Ärger. Und zwar ihr. Und das auch noch doppelt. Wut, über seine Unordentlichkeit und ihre Kleinkariertheit. Danach geht es weiter wie immer. Sie grunzt. Er schmunzelt. Beide jeweils ein wenig vor sich hin. Dann nimmt er sie voller Liebe in den Arm und gelobt hoch und heilig Besserung. Das Versprechen hält. Zumindest bis zur nächsten biochemischen Studie. Zwei wie ganz schön viele auf der Welt. Ein Mittwochabend im frühen Frühling. Eigentlich alles ziemlich normal. Wenn da nicht diese Un-Normalität in ihrer Brust wäre.
Während der Groll sich trollt, macht er Platz für Gedanken an morgen. Morgen ist der 27. März. Und der ist besonders. Besonders schön. Aber auch besonders aufregend. Schön, weil wir an diesem Tag vor einigen Jahren geheiratet haben. Herrlich heimlich. In Las Vegas. Ohne Elvis. Mit Herzklopfen. Zwei, die nicht aus dem Spiele-Paradies abgeholt werden wollten. Und aufregend wird der morgige Tag, weil die Ärztin dann sagt, was das für ein dummes Ding ist, das mir seit geraumer Zeit Kummer macht.
Der Tag beginnt – natürlich – da, wo der vorangegangene aufgehört hat: extrem gemütlich im Bett. Wir haben uns beide heute freigenommen. Beim Versuch, zu planen, wie die nächsten Stunden schön und möglichst schön romantisch gestaltet werden können, muss ich mir ziemlich schnell eingestehen: Meine Gedanken sind so klar wie die WG-Fenster meines Bruders. Gar nicht. Ich bin ziemlich zerzaust – auf wie im Kopf. Heute um 14 Uhr kann ich das Ergebnis meiner Biopsie, also der Gewebeprobe, erfragen. Um 14 Uhr. Erst. Es ist jetzt 8 Uhr. Das bedeutet noch grauenvolle sechs Stunden der auf die Probe gestellten Geduld vor mir. Bäh. Heute fühlt sich Warten so endlos und quälend lang an, wie als 5-jähriges Kind das Warten aufs Christkind. Wenigstens liefen damals super Sachen im Fernsehen. Mein TV-Überbrückungsprogramm dagegen ist jämmerlich. Ich muss mir Menschen ansehen, die sich unhöfliche Sachen mit grammatikalisch fragwürdiger Syntax an den Kopf werfen. Oder Seifenopern, die das auslösen, was Seife so tut, wenn man sie schluckt: Brechreiz.
Daher nehmen sich meine Gedanken die ihnen zustehende Freiheit und schweifen ab. Die vergangenen Tage gehen mir durch den Kopf. Und, sagen wir mal so, es gab wirklich angenehmere in meinem Leben. Gestern musste eine Gewebeprobe aus der Brust entnommen werden, weil auf dem zuvor angefertigten Mammografie-Bild zwar kein Knoten, aber verdächtige Verästelungen zu sehen waren. DCIS – ein duktuales Carcinoma in situ, wie wir schnell lernen müssen. Eine Karzinom-Vorstufe. Nichts Gutes, aber kein Grund, den Glauben daran zu verlieren. Eine Vorstufe. Noch kein »echter« K ... Das sage ich seit dem Befund meinem Herzenskerl immer wieder mal laut – und mir selbst innerlich, leise tausendmal hintereinander. Auch heute. Erst recht jetzt. Dann ist es endlich halb zwei. Ich befinde, dass ich getrost eine halbe Stunde zu früh dran sein darf und wähle die Nummer meiner Radiologin. Nach außen mache ich mein bestes Es-wird-schon-nichts-sein-Gesicht. Ich weiß nicht, wie überzeugend meine Vorstellung ist, vertraue aber auf mein darstellerisches Talent, während sich in mir Angst und Hoffnung ein packendes Kopf-an-Kopf-Rennen liefern. Es kommen durchaus Ellenbogen zum Einsatz.
Während es tutet, muss ich an den Knubbel denken, den ich vor zwei Wochen in meiner Brust gefühlt, dem ich aber keine weitere Bedeutung beigemessen habe. Es lebe die Devise: »Was ich nicht wichtig nehme, ist es auch nicht.« Das Gesicht meiner Internistin taucht vor mir auf. Nicht besonders glücklich. Sie hatte bei mir vor einigen Tagen, kurz nach der Entdeckung des Knubbels, aufgrund meiner stark geschwollenen Lymphknoten am Hals eine Art Pfeiffer’sches Drüsenfieber diagnostiziert. (Das war zu meiner Studentenzeit sehr verbreitet. Jaja. Weil man als Student die Lebensabschnittsgefährten pro Semester zwei bis sieben Mal wechselt. Schon klar. Was hatte das bitte schön jetzt in meiner schon vor Langem eingeläuteten postakademischen Ära zu suchen?) Als ich ihr von meinem Tastbefund in der Brust berichte, bleibt das fest einkalkulierte: »Ach, das ist nichts«, aus. Stattdessen schickt sie mich zu meiner Gynäkologin. »Am besten heute noch.« Die sucht per Ultraschall nach der Ursache meines Übels. Findet nichts – und genau deswegen, dass ich dringend zur Mammografie gehen soll. Noch am selben Tag. Die plötzliche Eile allerorts hätte mich stutzig werden lassen müssen. Doch das schier endlose Vertrauen in mein persönliches Happy End wirkt wie ein Tranquilizer für die Seele. Spitzensystem mit prima Sicherheitsprogramm, unser Körper. Kaum etwas, das mich aus der Ruhe bringen kann. Noch nicht einmal dieser doch recht würdelose und durchaus schmerzvolle Vorgang des Brustscreenings, dem ich mich plötzlich ausgesetzt sehe. Meine schönen Stücke Fraulichkeit werden also abwechselnd zwischen diese Plexiglas-Platten gequetscht, bis sie trotz ihrer Fülle den flachestmöglichen Zustand erreicht haben. Das sieht nicht nur scheußlich aus, sondern tut mindestens genauso scheußlich weh. Allein: das Wissen um den Sinn dieser Übung macht die Sache aushaltbar. Die Bilder meines Busens machen auf den ersten Blick einen fantastischen Eindruck. Allerdings leider nur auf mich. In den Zügen der Ärztin lese ich Besorgnis. Das gute, gesunde Gewebe sieht gleichmäßig scheckig-fleckig aus. Eine Mammografie-Sinfonie in dunkel- und hellgrau. Was ihr nicht gefällt, das sind die weißen, zackigen, Ypsilon-ähnlichen Linien. Mikroverkalkungen. Aha. Zur Sicherheit soll das Gewebe probiert werden. Wieder geht alles ganz schnell. Termin schon am übernächsten Tag. Die Stunden jener Ungewissheit hätten quälend sein können. Waren sie aber nicht. Unerschütterlich meine Überzeugung, dass das alles gut ausgeht. Was soll denn schon sein? Sind wir nicht alle ein bisschen Wonderwoman? Bis jetzt immer unverwundbar. Selten beim Arzt. Nie wirklich krank. Ich treibe Sport, esse gesund und gut und habe auch keine familiäre Vorbelastung bei diesem Thema. Im Gespräch sage ich zu Thom: »Außerdem bin doch noch viel zu jung für ... für ... für diese Sache.« Versuch der Beruhigung, bei dem es mir schwerfällt, das Wort auszusprechen. Das fiese K-Wort. Das für eine Krankheit steht, mit der ich allzu oft kahle Köpfe, fahle Gesichter und den Tod in Verbindung gebracht habe. Das passt nicht in das Bild, das ich mir von meiner kleinen Welt gemalt habe. Denn im Pielhau’schen Paradies fließen Milch und Honig in Strömen, Bambis dopsen wie Doktor Schnaggels über Felder und Wiesen und alle sind glücklich und gesund. Diese K-Krankheit aber, die ist furchtbar. Und furchtbar weit weg. Menschen bekommen leider K ... . Andere. Aber doch nicht ich.
Am Tag der Biopsie laufe ich mit dem Selbstvertrauen wie nach einem Bad in Drachenblut in der Klinik auf. Erst im Wartezimmer kriechen langsam Zweifel an meiner Wird-schon-Theorie in mir nach oben. Warum ist die Lächelquote der mich betreuenden Ärzte in den vergangenen Tagen so niedrig? Warum muss alles so schnell gehen? Warum hat mich bis jetzt keiner entwarnt oder ermutigt? Und: Warum hat noch keiner gesagt, was auch im Internet steht, dass nämlich 80 Prozent aller Biopsien einen gutartigen Befund liefern? (Und damit bestimmt natürlich unbedingt auch bei mir.) Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, später aber durch vermutlich nervtötendes Nachfragen erfahren sollte: Schon damals befürchten alle das Schlimmste. Die Prinzessin würde unglücklicherweise nicht glücklich bis an das Ende ihrer Tage leben.
Zunächst muss die Prinzessin sich allerdings einmal mehr ganz und gar unmajestätisch bäuchlings in die Horizontale begeben. Die betroffene Brust entblößt und durch eine Öffnung im Tisch dem Arzt zur Gewebeentnahme freigegeben. Immer wieder knallt die spießähnliche Gerätschaft in mein weibliches Weichteil, wovon ich (Halleluja, Betäubung) weder etwas spüre noch sehe. Aber die Geräusche reichen, um den Vorhang in meinem Kopfkino zu heben. Der Film, der sich da abspielt, kreist um eine naive, gänzlich unmedizinische Frage: »Kann der mit dieser Kanüle nicht die ganzen vermaledeiten X- und Ypsilon-Äste raussaugen, wenn er schon so rumstochern muss? Dann wäre dieses Aktenzeichen wenigstens gelöst.« Der Wunsch ist Vater der Idee. Doch der Herr im weißen Kittel ist nicht der Weihnachtsmann und die Liege hier kein Gabentisch. Und so bleibt es beim enttäuschten Gedanken an eine unerfüllte Bitte. Das Pieks-Prozedere dauert glücklicherweise nicht wirklich lang. Die Assistentin bemüht sich um Aufmunterung, als sie abschließend sagt: »Na ja, wenn es denn etwas Bösartiges sein sollte, dann sind Sie ja wenigstens noch früh dran, nicht?« Dankeschön. Das ging daneben. Wirkung fürchterlich verfehlt. Bösartig? Ich will nix Bösartiges. So steht es nicht in meinem Drehbuch. Das hier war bis jetzt mein Märchen. Und ich möchte Bestimmer sein, was das Ende angeht. Und mein »Ende aller Tage«, an das ich gefälligst glücklich und zufrieden heranleben will, ist jetzt schon mal gar nicht gekommen. Punkt.
Punkt. Punkt. Komma. Strich. Strich allerdings mit Mundwinkeln nach unten. Wieder warten. Meine Geduld wird strapaziert. Erstaunlicherweise und mit einer den Umständen entsprechend verwundernden Gelassenheit halte ich die zähen 24 Stunden ganz gut aus. Bis jetzt. Herzklopfen bis zur Gurgel.
Am anderen Ende der Leitung geht jemand ans Telefon. Mein Optimismus ist in dieser Sekunde einen Hauch größer als die Furcht vor einer Horror-Diagnose. Dementsprechend energetisch frage ich: »Na, Frau Dr. Gonzalez – was haben Sie denn Schönes gefunden in meiner Brust?« Sie zögert. Und raunt: »Wollen wir das nicht um 14 Uhr hier bei mir besprechen?« Das körpereigene Martinshorn nimmt seinen Betrieb auf. Und mein Herz beginnt zu rennen. Warum hat sie nicht einfach gesagt: »Nichts. Wir haben nichts gefunden. Es ist alles gut. Der Verdacht war unbegründet. Schönes Leben noch, Prinzessin. Glücklich und zufrieden, möglichst.« Das heißt noch nichts. Das heißt alles noch nichts, hämmert es in mir. Dennoch spüre ich eine ausgewachsene Hysterie aufkommen. Meine Stimmbänder hat sie schon erreicht, als ich ziemlich luftlos krächze: «Sagen Sie mir wenigstens eine Tendenz ...« (Bescheuert. Es gibt ja nur schwarz oder weiß. Aber es ist längst kein Einzelfall in der Menschheitsgeschichte, was ich gerade erlebe, dass die Angst den Verstand frisst. Restlos. Auch die Krümel.) Die Pause fühlt sich lang an. Sehr lang. Herzlich willkommen zu einem jener Momente im Leben, die man sonst nur aus Filmen kennt. Die Zeit scheint stehen zu bleiben. Alles verlangsamt sich. In mir und um mich. Und gleichzeitig wird alles schwer. Die Beine, der Hörer in der Hand, der eigene Atem. Marie Gonzalez scheint selbst etwas um Fassung zu ringen. Sie räuspert sich: »Es ist nicht gutartig.«
Rrrrummmms. Der Unfall ist eingetreten. Hat es außer mir noch jemand gesehen? Ich habe mich eben in die Fahrbahnmitte der A2 zwischen Berlin und Hannover gestellt, Höhe Magdeburg, zur Hauptverkehrszeit. Ein polnischer Laster hat mich frontal an seinen Kühlergrill geklatscht. Und da klebt sie nun, die Masse Mensch, die mal Miriam war. Denn mehr ist von meinem Ich gerade nicht mehr übrig. Der Fall, der nicht eintreten durfte. Mein persönlicher, privater, ureigener Un-Fall. » ... Nicht gutartig ... nicht gutartig ... nicht gutartig ...« Das verdammte Echo im Kopf hört nicht auf. Ich gebe den Hörer aus der Hand, starre vor mich hin und fühle mich plötzlich unglaublich leer. Das Einzige, was ich in diesem Hohlraum spüre, ist ein immer stärker werdender Schmerz. Wunde, entzündete, blutende Innenwände meiner Körperhülle. Es puckert. In der Brust. Im Kopf. In den Ohren. Ich höre und fühle nichts mehr. Außer Sturmwellen aus Blut, die mich fluten. Auf diesen Aufprall war ich nicht vorbereitet. Leider gibt es für so etwas keinen Airbag. Fuck it. Was mache ich jetzt? Ich ... erst einmal gar nichts. Thom nimmt mich in den Arm. Und bringt so meine Seele nach dem Crash in die stabile Seitenlage.
Er hat das Telefonat übernommen. Im Hintergrund murmelt er Fragen, seufzt hin und wieder ein »Hm ...« und vereinbart Termine. In mir steigen Bilder auf, die ich weder mag noch in irgendeiner Form verhindern kann.
Ich sehe mich in einem offenen Sarg. Stopp. Ich will das nicht. Bleich, grau und ohne Haare. Weg mit dem Bild. Weg. Ich sehe meine zierliche, geliebte Mutter, die weinend zusammenbricht. Meinen bärigen Vater, der hilflos schreit. Nicht weinen. Es wird alles gut. Meine Geschwister mit roten, verquollenen Augen. Ich sehe Thom, wie er weint und mich schüttelt, als würde mich das wieder lebendig machen ... Nicht, Liebster. Ich bin doch hier. Von mir gibt es aber nicht nur dieses leblose Ich, sondern auch einen Schatten. Unbemerkt von meiner Familie steht mein Schatten-Ich in einer Ecke und führt ein Zwiegespräch mit Gott: »Warum? Was hab ich so sehr falsch gemacht? Ich habe mich doch immer bemüht, so zu leben, wie du es gut findest. Warum darf ich nicht auch alt werden und Kinder und Enkelkinder haben? Warum?« Meine Kehle verengt sich unangenehm. Eine unsichtbare, aber monströse, kräftige Macht würgt mich. Und auch wenn ich sie nicht sehen kann, so kenne ich diese Gewalt schon. Ich hatte bereits einmal das zweifelhafte Vergnügen, ihr zu begegnen. Damals sind wir vor der Tsunami-Welle in Thailand geflohen. Meine Widersacherin hat einen einfachen, sehr hässlichen Namen: Todesangst.
Minuten des schweigenden Schocks. Schrecklich laute Stille. Kaum hörbares Atmen. Langsam kriechen meine Muskeln aus ihrer Starre hervor und versuchen sich in Zeitlupenbewegungen. Endlich, endlich, endlich lösen sich Tränen aus den Augen und es plumpsen fiepsige Töne aus mir heraus. Erbärmlich klingt das. Die Rinnsale aus Salz werden schnell viele und strömen über die Wangen. Zunächst ein leises Schluchzen, erfährt das Weinen langsam die Wucht der Verzweiflung. Es fließt aus mir heraus. Als hätte sich alles im Körper verfügbare Wasser hinter den Augen versammelt und nur darauf gewartet, dass der Schleusenwärter das Tor aufmacht. »Ich will nicht sterben, Thom! Noch nicht. Wir hatten doch noch so viel vor. Ich will nicht schon bald tot sein.« Zum ersten Mal, seit wir uns kennen, ist auch er sprach- und trostlos. Das Einzige, was ich spüre, sind warme Tropfen an meinem Hals. Und das unkontrollierte Zittern, das diesen sonst so stabilen Kerl durchfährt. Und so sitzen wir auf unserem Bett. Zwei wässrige Wesen, ein Doppelhäufchen Elend. An unserem Hochzeitstag.

2.
Der K-Klub

»Ich habe ... K... – ich habe das also.« Nach einer kleinen Weile bringe ich diesen Satz über die vom Heulen trockenen und aufgeplatzten Lippen. Mann-o-meter. Was ist da gerade passiert? Das war ein Erdbeben. Meine heile Welt wurde erschüttert. Mein ausgefeilter Lebensplan auch. So wie mein Glauben daran, dass alles einen Sinn hat. Denn diese Diagnose halte ich für reichlich sinnlos. Nicht nur bei mir. Bei allen. Die ganze Scheiß-K-Krankheit ist es. Mein Kopf wusste genau das selbstverständlich schon immer. Mein Herz fühlt es gerade jetzt zum ersten Mal. So sehr, dass es wehtut. Überhaupt tut nichts nicht weh in diesem Augenblick. Alles ist schmerzhaft. Jeder Gedanke, jede Faser, jede Bewegung. So fühlt sich wohl porentiefe Hilflosigkeit an. In aller Schwäche bleibt noch ein kleines Plätzchen für bittere Ironie und ich heiße mich selbst willkommen. Na, dann. Tusch. Fanfare. Wir begrüßen unser neues Mitglied im K-Klub.
»War es das jetzt?«, frage ich mich abends. Habe ich wirklich schon kapiert und akzeptiert, dass nun mal ist, was ist – nämlich augenblicklich nichts wirklich gut? Mein Kopf bockt noch ordentlich und sieht nicht ein, dass offenkundig wenige Stunden reichen, um so einen Schock zu verkraften. Also bewege ich mich in Hab-acht-Stellung in meinen eigenen Gefühlen vorwärts, auf der Hut vor dem nächsten Tiefschlag.
Hinter uns liegt ein Nachmittag in der Radiologie. Wir sind natürlich noch hingefahren nach der telefonischen Desaster-Diagnose. So, als würde das das Ergebnis verbessern. Im Institut wurde ich quasi klinisch geprüft. Wie jede anständige Hautcreme. Befund- und Lagebesprechung. Dr. Gonzalez wiederholt das Unaussprechliche und bereitet mich auf die nächsten Schritte vor. Eine Magnet-Resonanz-Tomografie (MRT) soll nach dem unguten Ergebnis der Gewebeprobe Aufschluss darüber geben, ob und wenn ja, was für ein garstiger Gesell es sich da in mir bequem gemacht hat. Und was mit meinen Lymphknoten wirklich los ist. »Wieso? Was könnte denn da sonst noch sein, außer der Drüsenerkrankung, die schon festgestellt wurde? Ist doch alles klar so weit.« Ich bin miserabel im Versuch darin, mir Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Dr. Gonzalez macht wieder das Gesicht. Hochgezogene Augenbrauen, kurzes Zögern, Luft holen: »Nun ja, wir müssen ausschließen, dass sich in den Lymphknoten schon Krebszellen befinden.« Und nach einer kleinen Pause: »Oder sonst wo im Körper.« Furcht sackt als flaues, schweres Gefühl in den Bauch. Ich sehne mich nach guten Nachrichten. Jetzt allerdings gilt es erst einmal herauszufinden, wie gravierend die schlechten sind.
Die MRT wird sofort durchgeführt und der Tumor ist alsbald ausgemacht. Er ist nicht riesig, aber auch nicht mehr winzig. Also schnell raus damit. Sagt Dr. Gonzalez. Mir geht das alles ein bisschen zu fix. Zu meiner natürlichen Abneigung gegenüber Ärzten und Krankenhäusern beziehungsweise allem, was an nicht gesund sein erinnert, kommt eine ausgeprägte Angst, um nicht zu sagen Panik, vor Operationen. Das hat nichts mit den Herren und Damen Doktoren oder ihren schicken Wirkungsstätten zu tun. Ich mag mich nicht, wenn ich nicht funktioniere. Und sowohl Arzt als auch Ambulanz sind eindeutige Zeichen fürs Funktionsuntüchtigsein. Deshalb. Seufzen. »OP? O.k. …« Von der Notwendigkei...

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