Was gilt als »Internet-Mem«? Häufig wird der Begriff für Motive, Phrasen, Bilder und Videos benutzt, die übers Internet starke Verbreitung finden. Zum Beispiel: LOLcats – millionenfach kopierte Fotos von Katzen, denen durch eingefügte Schrift menschliche Sätze mit einer eigenartigen Grammatik in den Mund gelegt werden. Oder: das Dancing Baby – die 3D-Animation eines tanzenden Säuglings, die Ende der 1990er-Jahre massenweise per E-Mail und im Web zirkulierte. Oder auch: »LOL«, »ROFL« und ähnliche Abkürzungen, die übers Internet in unsere schriftliche (und zuweilen auch mündliche) Sprache eingeflossen sind.
Aber nicht jedes Motiv, das übers Internet starke Verbreitung findet, gilt als Internet-Mem. Pornografie kreist rege durchs Netz – aber nur wenige pornografische Inhalte werden »Internet-Meme« genannt. Auch wichtigen Nachrichten wie Kriegsausbrüchen oder Wahlentscheidungen bleibt dieser Titel verwehrt, selbst wenn sie sich wie ein Lauffeuer im Netz verbreiten. Und was heißt »starke Verbreitung« schon? Das YouTube-Video »Charlie bit my finger« (»Charlie hat mir in den Finger gebissen«)[], das Kleinkinder beim Rumalbern zeigt, gilt als Internet-Mem und kann mehr als eine halbe Milliarde Abrufe vorweisen. Aber auch Inhalte, deren abgezähltes Publikum einige Zehnerpotenzen kleiner ist, werden gelegentlich »Internet-Mem« genannt.
Eines eint alle diese »Internet-Meme«: Sie gelten vor allem als populär durch die Verbreitungswege des Internets, nicht durch andere Medien. Sie gelten als stark verwurzelt in den Kulturen, die sich über das Internet entwickeln. Eine griffige Definition ist das freilich noch nicht. Um uns einer solchen zu nähern, müssen wir erstmal den Begriff des »Mems« an sich besser verstehen.
Kleine Einführung in die Memetik
Der Begriff »Mem« wurde von dem Evolutionstheoretiker Richard Dawkins in seinem 1976 erschienenen Buch The Selfish Gene (»Das egoistische Gen«) erfunden[]. Dort bezeichnet er kulturelle Informationen, die sich zwischen Menschen durch Nachahmung verbreiten, als Meme. Als Beispiele denkbar sind Melodien, die wir hören und nachpfeifen; Arbeitsweisen, die wir uns von anderen abschauen; Sprachen, die wir aus Schulbüchern und der Beobachtung ihres Gebrauchs lernen. »Mem« kann alles sein, was wir durch unsere Wahrnehmung erfassen und in Folge selbst nachmachen können: Verhaltensweisen, Verfahren, Ideen, Texte. Indem solche »Meme« von Mensch zu Mensch kopiert werden, verbreiten sie sich nicht nur, sondern entwickeln sich auch – denn nicht jede Nachahmung ist exakt. Manche Nachahmer führen Veränderungen gegenüber dem Original ein – sei es aus Unachtsamkeit, Unfähigkeit oder Absicht.
Das Wort »Mem« leitet Dawkins vom griechischen μίμημα (»mī-mēma«, »das Nachgemachte«) ab, dem französischen »le même« (»das selbe«) – und einem Gleichklang mit dem Wort »Gen«. Dawkins erkennt in der Verbreitung und Entwicklung von Memen nämlich Ähnlichkeiten zur Verbreitung und Entwicklung von Genen (und den von ihnen gestalteten Organismen) in der biologischen Evolution: Je nachdem, wie tauglich sie den Anforderungen ihrer Umwelt begegnen, pflanzen sie sich zahlreich fort oder gehen ein. (Ein Witz, den nur wenige lustig finden, wird beispielsweise kaum weitererzählt.) Im Verlauf ihrer Fortpflanzung mutieren sie – dabei entstehen untauglichere Varianten, aber auch tauglichere. (Fällt einem Nacherzähler des Witzes eine mächtigere Pointe ein, wird der Witz sich damit stärker verbreiten.) Sie konkurrieren miteinander um begrenzte Ressourcen. (Weiß ich um die begrenzte Aufnahmebereitschaft meiner Zuhörer, wähle ich unter allen mir bekannten Witzen nur den lustigsten zum Erzählen aus.)
Dawkins führte das »Mem« ursprünglich ein, um die breite Anwendbarkeit evolutionstheoretischer Konzepte zu verdeutlichen. In den folgenden Jahren wurde die Idee von ihm und anderen zu einer eigenen Denkschule entwickelt, die Kultur evolutionstheoretisch zu verstehen versucht. Zu den einflussreichsten Vertretern gehören unter anderem der Kognitionswissenschaftler Douglas Hofstadter (Metamagical Themas, 1985), der Philosoph Daniel Dennett (Darwin’s Dangerous Idea, 1995) und die Psychologin Susan Blackmore (The Meme Machine, 1999)[].
Aus Sicht dieser »Memetik« sind wir als Menschen nicht länger Sklaven unserer Gene (darauf optimiert, durch Fortpflanzung Genmaterial zu verbreiten), sondern unserer Meme. Über Jahrtausende der Auslese und Mutation haben sich Meme entwickelt und durchgesetzt, die sich extrem manipulativ in unsere Bedürfnisse und unsere Psychologie einhaken. Sie optimieren uns zu ihren Gefäßen, Schutz- und Verbreitungs-Apparaten. Unsere Kultur, vielleicht auch unser Sprachvermögen, unser Bewusstsein und unser Gehirn, ist Ergebnis und Instrument des Wettstreits dieser Meme[]. Ein unter Memetikern beliebtes Beispiel sind Religionen[]: »Mem-Komplexe«, die ihre Träger antreiben, sie missionarisch zu verbreiten und Ideenkonkurrenz zu bekämpfen. Ihre Macht wird sichtbar an der Ergebenheit ihrer Träger selbst da, wo sie deren Wohlbefinden und körperlichem Trieb widerspricht: Religionen lehren die Bereitschaft, für den eigenen Glaubensauftrag auf Fortpflanzung zu verzichten (Zölibat), sich zu verstümmeln (Beschneidung) oder zu opfern (Selbstgeißelung und Selbstmordanschlag). Sie verteidigen ihren Platz in den Köpfen durch verstörende Elemente wie die Drohung mit dem Höllenfeuer als Strafe für den Abfall vom Glauben.
Ihre Hochzeit hatte die Memetik in den 1990er Jahren. Damals wurde sie unter anderem als revolutionärer Ansatz für die Verwissenschaftlichung von Werbe-Technik angepriesen[]. 1997 entstand ein Journal of Memetics[]. Auf dem erhofften Weg zur Wissenschaft geriet die Memetik aber bald ins Stocken. 2005 wurde das Journal wieder eingestellt. Seitdem ist es still geworden um die Memetik – wenn man davon absieht, dass ihr Begriff des »Mems« ein reges Eigenleben entwickelt hat.
Internet-Meme als virale Inhalte
Die Ideen der Memetik wurden gleichzeitig mit dem Internet populär. Die Netz-Pioniere der 1990er Jahre kamen mit ihrem Vokabular in Berührung und übernahmen es lose[]. Dabei wurde die Menge der Phänomene, die das Wort »Mem« bezeichnet, langsam eingeengt: von allen kulturellen Informationen, die sich durch Nachahmung verbreiten (vielleicht: allen kulturellen Informationen überhaupt), auf jene, bei denen es mit auffälliger bis verwunderlicher Stärke geschieht. Das neue Medium Internet bot genug Anwend...