Teil III
Auf der Suche nach Antworten, Ansätzen und Vorbildern
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Aktives Altern in werteschaffender Beschäftigung: Strategien zur Umsetzung eines positiven Leitbilds
Jens U. Prager, Ulrich Schoof
Zeit für Paradigmenwechsel
Die vorangegangenen Beiträge haben die vielfältigen Herausforderungen, die sich mit der alternden Gesellschaft für den Wirtschafts- und Sozialstandort Deutschland verbinden, aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet und ausführlich diskutiert. Das dabei aufgedeckte breite Spektrum zeigt: Es ist höchste Zeit für einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel - weg von der vorzeitigen Inaktivierung der Wertschaffungspotenziale Älterer, hin zu längeren und differenzierteren Tätigkeitsbiographien mit einem positiven Leitbild des aktiven Alterns.
Doch die bloße Einsicht, dass etwas getan werden muss, reicht nicht aus. Vielmehr müssen nun auch konkrete Taten folgen, wenn ein von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragener Prozess des Umsteuerns in Gang kommen soll.
Einseitige Zumutbarkeitsdebatte
Aktuell hat die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Lebensjahre zur Sicherung des gesetzlichen Rentensystems und zur Stabilisierung der Lohnnebenkosten in Deutschland eine überaus kontroverse Diskussion darüber angestoßen, was notwendig und zumutbar ist. Ohne an dieser Stelle eine Bewertung vornehmen zu wollen, ob diese Maßnahme notwendig und zielführend ist, fällt doch auf, dass die öffentliche Debatte sich mehrheitlich um die damit verbundenen Zumutungen rankt. Die vielfältigen Chancen, die sich für jeden Einzelnen und für die Gesellschaft aus der insgesamt gestiegenen Lebenserwartung ergeben, finden in der Diskussion kaum Niederschlag.
Vor diesem Hintergrund scheint die Situation derzeit eher verfahren und der Weg hin zu einem positiven Leitbild des aktiven Alterns noch weit zu sein - wenn nicht sogar versperrt. Damit stellt sich zwangsläufig die Frage nach einem »Masterplan«, einer Blaupause, einem breiten Ansatz oder einer umfassenden Strategie, auf deren Basis gesellschaftliches wie politisches Handeln erfolgen oder zumindest aufbauen oder ansetzen kann. Auf diese Frage sollen mit dem vorliegenden Beitrag erste Antworten gegeben werden.
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Active aging: Begriff und Konzepte
Der Begriff des »active aging« findet im internationalen Kontext immer häufiger Verwendung und unterliegt dabei einer permanenten Entwicklung. Parallel dazu wurden im Ausland erste Erfolg versprechende active-aging-Konzepte entwickelt und umgesetzt. Hieraus lassen sich zentrale Anforderungen und Prinzipien ableiten, denen weitergehende, nationale Strategien zur Aktivierung der Wertschaffungspotenziale Älterer genügen müssen, wenn hierdurch ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel - hin zu längeren und differenzierteren Tätigkeitsbiographien mit einem positiven Leitbild des aktiven Alterns - erreicht werden soll.
Von erfolgreichem zu produktivem Altern
Während der Begriff active aging in Europa vor allem in den letzten fünf Jahren in die Diskussion Einzug gehalten hat, lassen sich seine Wurzeln in den Vereinigten Staaten bis in die frühen 60er Jahre zurückverfolgen. Diskutiert wurde zur damaligen Zeit das »successful aging« (Pfeiffer 1974; Rowe und Kahn 1987), das sich an den Aktivitätsmustern und Werten des mittleren Lebensalters orientierte (Havinghurst 1963). Nach diesem Ansatz sollte nach Möglichkeit schlicht dem Alter getrotzt werden. Das bloße Ersetzen von sozialen Beziehungen, Aktivitäten und Rollen im mittleren Alter durch neue Aktivitäten, Beziehungen und Rollen im fortgeschrittenen Alter sollte nach Auffassung der Verfechter des successful aging zu einer höheren Lebensqualität und Zufriedenheit führen. Wenngleich man bei der Realisierung dieser Vorstellung schnell an Grenzen stieß, ist eine ihrer Kernaussagen, die den positiven Zusammenhang zwischen Aktivität und Wohlbefinden beschreibt, bis heute gültig und empirisch nachgewiesen (Walker 2006: 83).
In den 80er und 90er Jahren bekam der Begriff des active aging eine neue - produktivitätsorientierte - Zielausrichtung, die sich bis heute in vielen Konzeptualisierungen wiederfindet. Der Schwerpunkt dieser Sichtweise liegt auf der Nutzung und dem Ausbau der produktiven Kapazitäten bzw. Potenziale älter werdender Menschen. »Productive Aging is any activity by an older individual that produces goods or services, or develops the capacity to produce them, whether they are paid for or not« (Bass, Caro and Chen 1993: 6). Dementsprechend liegt der Fokus der Politik und politischer Maßnahmen nach diesem Ansatz auf den Feldern Arbeitsmarkt- und Pensionspolitik - und dabei im Besonderen auf der »Frühpensionsproblematik«.
Durch den demographischen Wandel und seine Auswirkungen auf Wirtschaftswachstum und finanzielle Solidität der sozialen Sicherungssysteme hat sich diese produktive Ausrichtung eines active-aging-Konzepts gerade in den industrialisierten Ländern weit verbreitet. So zeichnet sich auch der OECD-Ansatz durch eine produktivitätsorientierte Definition aus. »Active Aging refers to the capacity of people, as they grow older, to lead productive lives in society and the economy« (OECD 2000: 126).
Betonung von physischem und mentalem Wohlbefinden
Erweiterung des produktivistischen Ansatzes WHO-Ansatz
Neuere active-aging-Konzepte erweitern den »produktivistischen Ansatz« um zwei wichtige Aspekte: physisches und mentales Wohlbefinden als Ausdruck von Gesundheit und Lebensqualität.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat diese neue Konzeptualisierung, bei welcher der zentrale Zusammenhang zwischen Aktivität und Gesundheit bzw. gesundem Altern herausgestellt wird, maßgeblich mitbestimmt (WHO 2002). Der WHO-Ansatz stützt sich dabei auf die UN-Charta »human rights of older people«, die für ältere Menschen die Prinzipien der Unabhängigkeit, Partizipation, (Menschen-)Würde, Fürsorge und Selbstbestimmtheit als »Rechtsanspruch« festschreibt. Dementsprechend stellt das active-aging-Konzept der WHO auch die anhaltende und nachhaltige Teilhabe und Inklusion älterer Menschen am sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Leben in den Vordergrund. Ein besonderes Merkmal dieses Konzepts ist die lebenszyklische Perspektive; danach erfordert active aging präventive Maßnahmen in allen Lebensabschnitten (Götz 2005: 9).
Die lebenszyklusbasierte Perspektive wurde auch von der EU-Kommission im Rahmen der Lissabon-Strategie (2000) aufgegriffen. Das Kommissionskonzept zu active aging wird in dem Kommissionspapier »Towards a Europe for all Ages« (1999) deutlich: »... a coherent strategy to make Aging well possible in Aging societies. Active Aging is about adjusting our life practices to the fact that we live longer and are more resourceful and in better health than ever before, and about seizing the opportunities offered by these improvements. In practice it means adopting healthy life styles, working longer, retiring later and being active after retirement. Promoting Active Aging is about promoting opportunities for better lives, not about reducing rights. Adequate income provision and care is a part of the agenda« (European Commission 1999).
Lebenszyklus im Mittelpunkt
Im Gegensatz zum rein produktivitätsorientierten Konzept adressieren beide hier beschriebenen Ansätze den gesamten Lebenszyklus der Zielpersonen. Darüber hinaus sind sie in ihrer politischen Ausrichtung sehr viel holistischer angelegt und nicht nur auf wenige ausgewählte Politikfelder (Arbeitsmarkt- und Pensionspolitik) fokussiert, sondern gleich auf eine Vielzahl von Politikfeldern. Schließlich betonen beide die besondere Bedeutung von sozialer Teilhabe, Partizipation und Inklusion.
dp n="136" folio="144" ? Von werteschöpfender zu werteschaffender Beschäftigung
Neuer Beschäftigungsbegriff
Die Prämissen der neueren active-aging-Konzepte werfen auch ein neues Licht auf den Begriff der Beschäftigung. Mit Blick auf die herausgestellte Bedeutung der sozialen Teilhabe und Inklusion muss der Bedeutung zwischenund nachberuflicher Tätigkeitsfelder älterer Menschen zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt werden. Beschäftigung ist demnach nicht nur unter reinen ökonomischen - werteschöpfenden -, sondern auch unter gesellschaftlichen - werteschaffenden - Gesichtspunkten zu definieren. Gleichermaßen muss ihre Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt erkannt werden. Dies könnte gewährleistet werden, indem Versorgungsarbeit, Gemeinschaftsarbeit und Eigenarbeit in Kombination mit der Erwerbsarbeit als werteschaffende Beschäftigung umgesetzt werden und es durch die Setzung geeigneter Rahmenbedingungen ermöglicht wird, alle Tätigkeitsformen lebenslang, nebeneinander und in wechselnder Intensität zu realisieren.
Anforderungen an Politik und »governance«
»A rising tide lifts all boats.«
John F. Kennedy
Anspruch vs. Wirklichkeit
Die modernen active-aging-Konzepte und -Ansätze bieten ein breites Fundament und vielfältige Optionen für gesellschaftspolitisches Handeln. Dabei besteht grundsätzlich die Gefahr, den holistischen Ansatz zwar zu propagieren, jedoch reduzierte politische Lösungen und Umsetzungen anzubieten und zu verfolgen.
Gerade in Europa ist dieses Phänomen vielfach zu beobachten. Das politische Handeln ist tendenziell geprägt durch ein eher passives Vorgehen - man reagiert vor allem kurz- bis mittelfristig auf die am drängendsten erscheinenden Probleme. Mit Blick auf die Alterungsthematik stehen die Probleme der nachhaltigen Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme und des drohenden Fachkräftemangels im Vordergrund. Politische Aktivitäten sind daher primär auf den Arbeitsmarkt und die Pensionspolitik ausgerichtet - und hierbei insbesondere auf die Beseitigung der Frühverrentungsanreize.
Um langfristig und nachhaltig erfolgreich auf den Alterungsprozess einer Gesellschaft reagieren zu können, bedarf es jedoch vielmehr einer umfassenden konzertierten und konsistenten nationalen Strategie des aktiven Alterns, die in Anlehnung an die modernen active-aging-Ansätze folgende Grundprinzipien berücksichtigen sollte (Walker 2006: 85 f.):
1. »Activity means more than paid work«: Neubestimmung von Arbeit jenseits der »Normalarbeit«: von klassischer Erwerbsarbeit hin zu einem mehrdimensionalen Beschäftigungsbegriff.
2. (Präventive) Lebenszyklische Ausrichtung: Adressierung des gesamten Lebenszyklus der Zielpersonen. Dabei stehen vor allem präventive Maßnahmen im Bereich der Gesundheit und Bildung als Voraussetzung für Wohlbefinden und werteschaffende Beschäftigung im Vordergrund.
3. Sozialer Zusammenhalt und Solidarität zwischen den Generationen: Fairness und Bewusstsein, dass alle Personen und Bürger Stakeholder innerhalb des active-aging-Prozesses sind. Förderung von altersunabhängigen bzw. -übergreifenden Aktivitäten.
4. Klare Identifizierung von Rechten und Pflichten, Möglichkeiten und Notwendigkeiten: Rechte, Vorteile, Chancen und Möglichkeiten des active aging müssen klar im Vordergrund stehen. Zugleich muss die Strategie auf Notwendigkeiten, Nachteile und vor allem Pflichten hinweisen, welche die Rechte und Möglichkeiten bedingen.
5. Partizipation, Inklusion und »empowerment«: Die Strategie muss eine Kombination von Maßnahmen einer »top down-policy« und »bottom up«- bzw. »grass-roots«-Aktivitäten ermöglichen, die auf die Gesamtheit der Älteren abzielt.
6. Respekt gegenüber nationaler und kultureller Diversität: Berücksichtigung unterschiedlicher Formen der gesellschaftlichen Partizipation, verschiedener W...