Teil II:
Entwicklungswege im Vergleich: Ein Streifzug durch Europa
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Berufsbildung in Europa - Herausforderungen und Strategien
Manfred Tessaring
EuropÀische Strategien
WettbewerbsfÀhiges Europa
Der EuropĂ€ische Rat von Lissabon hat im Jahr 2000 das strategische Ziel aufgestellt, Europa bis 2010 zum wettbewerbsfĂ€higsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen und hierbei dauerhaftes Wirtschaftswachstum und BeschĂ€ftigung mit gröĂerem sozialem Zusammenhalt zu verbinden. Alle Mitgliedstaaten haben sich verpflichtet, der Verwirklichung der Lissabonner Ziele und der damit verbundenen Vorgaben in ihrem jeweiligen nationalen Kontext gebĂŒhrende Aufmerksamkeit zu schenken. Dem lebenslangen Lernen wurde dabei eine SchlĂŒsselrolle zuerkannt.
Lebenslanges Lernen in beruflicher Aus- und Weiterbildung
Der Lissabonner Prozess wurde 2002 in Barcelona und Kopenhagen durch die Strategie »Allgemeine und berufliche Bildung 2010« ergĂ€nzt. Der EuropĂ€ische Rat von Barcelona hat als weiteres Ziel festgelegt, die Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung bis 2010 zu einer weltweiten QualitĂ€tsreferenz zu gestalten. Die Mitgliedstaaten kamen ĂŒberein, kohĂ€rente Strategien des lebenslangen Lernens zu entwickeln, in denen die berufliche Ausund Weiterbildung einen zentralen Stellenwert erhalten solle.
Der Kopenhagen-Prozess (2002) definierte den Rahmen fĂŒr die Entwicklung der Berufsbildung in Europa. Er hat die Zusammenarbeit, den Vergleich und die KompatibilitĂ€t der Berufsbildungspolitik beschleunigt, wobei die europĂ€ische Dimension, Transparenz, Information und Orientierung, Anerkennung von FĂ€higkeiten und Qualifikationen, QualitĂ€tssicherung sowie LehrkrĂ€fte und Ausbilder Vorrang haben sollten. Das Maastricht-KommuniquĂ© (2004) und die Helsinki-ErklĂ€rung (2006) sind weitere Etappen zur Konkretisierung der Kopenhagener Ziele und der Setzung von PrioritĂ€ten.
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Verbesserungsbedarf bei Berufsbildungssystemen
Obwohl viele LĂ€nder MaĂnahmen zur Förderung des lebenslangen Lernens und zur Modernisierung ihrer Berufsbildungssysteme eingeleitet haben, fehlen oftmals noch immer die grundlegenden Voraussetzungen fĂŒr eine qualitativ hochwertige Ausbildung: die Aufwertung des Status und der Rolle der LehrkrĂ€fte und Ausbilder in der Berufsbildung, die EinfĂŒhrung von QualitĂ€tssicherungssystemen, Information, Beratung und UnterstĂŒtzung sowie eine stĂ€rkere DurchlĂ€ssigkeit zwischen den verschiedenen Bildungswegen.
Definition: berufliche Bildung auf europÀischer Ebene
Umfassendes BerufsbildungsverstÀndnis
Berufsbildung bezeichnet alle mehr oder weniger organisierten oder strukturierten AktivitĂ€ten, die darauf zielen, den Einzelnen solche Kenntnisse, Qualifikationen und Kompetenzen zu vermitteln, die fĂŒr die AusĂŒbung einer beruflichen TĂ€tigkeit oder einer Reihe beruflicher TĂ€tigkeiten notwendig und hinreichend sind - unabhĂ€ngig davon, ob sie zu einem formalen BefĂ€higungsnachweis fĂŒhren. Berufsbildung ist unabhĂ€ngig vom Lernort, vom Alter oder anderen Merkmalen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer und vom bisherigen Qualifikationsniveau.
Berufsbildung findet in den einzelnen LĂ€ndern, aber auch innerhalb eines Landes, auf unterschiedliche Art und Weise statt. Sie kann als Berufsvorbereitung organisiert sein, um Jugendliche auf den Ăbergang zu einem Berufsbildungsprogramm der Sekundarstufe II vorzubereiten. Die berufliche Erstausbildung fĂŒhrt in der Regel zu einem Abschluss der Sekundarstufe II. Dabei kann es sich um eine schulische oder betriebliche Ausbildung oder eine Kombination beider Formen (wie im dualen System) handeln.
Der Abschluss einer beruflichen Erstausbildung befĂ€higt zur AusĂŒbung eines Facharbeiterberufs und ermöglicht den Zugang zu einem Programm der Postsekundarstufe und mitunter auch zur Hochschulbildung. Die Berufsbildung im Postsekundarbereich ermöglicht höher qualifizierte TĂ€tigkeiten (z. B. Meister oder Techniker) und kann auch den Weg zur Hochschulbildung ebnen. Die berufliche Weiterbildung ist sehr vielfĂ€ltig und reicht von KurzlehrgĂ€ngen bis zu fortgeschrittenen und lĂ€ngeren Ausbildungsprogrammen. Berufliche Weiterbildung kann von Unternehmen oder Unternehmensnetzen, Organisationen der Sozialpartner sowie von lokalen, regionalen und staatlichen Gremien organisiert werden.
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Die wichtigsten Herausforderungen
Wirtschaftlich leistungsfÀhig durch allgemeine und berufliche Bildung
Nutzen von Bildung und Ausbildung
Das Humankapital, das durch allgemeine und berufliche Bildung, Erfahrung und nicht formales Lernen entsteht, hat signifikant positive Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung. Neben dem materiellen Nutzen, beispielsweise der Förderung von nachhaltigem Wirtschaftswachstum sowie ProduktivitĂ€ts- und EinkommenszuwĂ€chsen, sind mit Bildung und Ausbildung auch nicht-materielle Vorteile verbunden: z. B. gröĂerer sozialer Zusammenhalt, verringerte KriminalitĂ€tsraten, eine verbesserte Gesundheitslage und Erziehung der Kinder. Diese Nutzen von Bildung und Ausbildung sind jedoch vielen Menschen nur unzureichend bewusst.
Investitionen in die Bildung und Ausbildung sowie der Qualifikationserwerb werden in zahlreichen Forschungsstudien als SchlĂŒsseldeterminanten wirtschaftlichen Wohlstands eingestuft (vgl. Descy und Tessaring 2005). Das Gleiche gilt fĂŒr die Erhöhung der allgemeinen Lese- und SchreibfĂ€higkeiten sowie anderer Grundfertigkeiten (Coulombe, Tremblay und Marchand 2004). Investitionen in Programme fĂŒr Menschen mit eingeschrĂ€nkten Leseund SchreibfĂ€higkeiten sind somit nicht nur aus GrĂŒnden der Chancengleichheit, sondern auch unter ökonomischen Gesichtspunkten sinnvoll. Die berufliche Bildung trĂ€gt in erheblichem MaĂe zur Vermittlung solcher Grundfertigkeiten bei.
Finanzierung von AusbildungsmaĂnahmen
Investitionen in die berufliche Bildung - sowohl Erstausbildung als auch Weiterbildung - sind auch fĂŒr Unternehmen lohnend, und zwar im Hinblick auf ProduktivitĂ€t, Ertragslage, Marktanteil, Börsenkurswert und WettbewerbsfĂ€higkeit. Dies ist der Grund, warum immer mehr Unternehmen allgemeine wie auch spezifische AusbildungsmaĂnahmen finanzieren.
Humankapitalinvestitionen
Forschungsergebnisse ĂŒber den Nutzen allgemeiner und beruflicher Bildung fĂŒr die Einzelnen zeigen, dass Humankapitalinvestitionen in den meisten LĂ€ndern höhere ErtrĂ€ge abwerfen als Investitionen in Sachkapital. Humankapitalinvestitionen sind fĂŒr die DurchschnittsbĂŒrger ein attraktiver Weg zu mehr Wohlstand (OECD 2003: 161). Abgesehen von diesen finanziellen Renditen erhöht die Qualifikation die Chancen auf dem Arbeitsmarkt und verringert das Risiko der Arbeitslosigkeit. Allgemeine und berufliche Bildung sowie Qualifikationen bedeuten zudem mehr LebensqualitĂ€t, höherwertige ArbeitsplĂ€tze und einen besseren sozialen Status.
Der Nutzen von Bildung und Ausbildung stellt fĂŒr die Einzelnen einen starken Anreiz zur Weiterqualifizierung und fĂŒr Unternehmen und die öffentliche Hand eine ebenso starke Motivation zu vermehrten Investitionen in diesen Bereich dar. LehrkrĂ€fte, Ausbilder, Beratungsstellen und Sozialpartner sollten den Privatpersonen und Unternehmen diese Vorteile stĂ€rker bewusst machen.
Bildungsausgaben und Anreize
Die Frage, wer aus welchen GrĂŒnden fĂŒr die Ausbildungskosten aufkommen sollte, ist seit jeher Gegenstand von Auseinandersetzungen. Eine naheliegende Lösung besteht darin, dass die direkten NutznieĂer der Ausbildung auch ihre Kosten tragen. Doch diese Lösung erweist sich bei genauerem Hinsehen als kompliziert, da sich der Nutzen von allgemeiner und beruflicher Bildung nur schwer beziffern lĂ€sst. Hinzu kommt, dass die Bildung erhebliche externe Effekte aufweist, die Dritten zugutekommen.
Ausbildungsfinanzierung: input-orientiert
Ăber die Ausgaben fĂŒr die berufliche Erstausbildung auf europĂ€ischer und internationaler Ebene gibt es zu wenig Informationen - ein Missstand, dem dringend abgeholfen werden muss. In DĂ€nemark, Deutschland, Frankreich und Ăsterreich tragen die Arbeitgeber die Kosten fĂŒr die Lehrlingsausbildung entweder direkt oder durch gemeinsame Fonds. In den Niederlanden, Finnland und Schweden entstammen die Gelder fĂŒr die Lehrlingsausbildung gröĂtenteils staatlichen Quellen. Ungeachtet diverser Innovationen, wie leistungsbezogener Mittelzuweisung oder Ausbildungsgutscheinen, ist die Finanzierung der beruflichen Erstausbildung nach wie vor stark input-orientiert.
EU-weiter Anstieg von Weiterbildungsausgaben
Die letzten vergleichbaren Daten auf europĂ€ischer Ebene zu den Weiterbildungsausgaben der Unternehmen stammen von 1999 (die Ergebnisse der dritten Erhebung liegen im Laufe des Jahres 2007 vor). Sie zeigen, dass sich diese Ausgaben fĂŒr die EU-15 auf etwa ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) belaufen. Dabei gibt es ausgeprĂ€gte Unterschiede: zwischen 0,3 Prozent in RumĂ€nien und 3,6 Prozent im Vereinigten Königreich. Im Zeitraum von 1993 bis 1999 stiegen die Ausgaben fĂŒr die berufliche Weiterbildung als Prozentsatz der Arbeitskosten in fast allen LĂ€ndern (mit Ausnahme Griechenlands) an. Am deutlichsten war der Anstieg in DĂ€nemark, Irland, Italien, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich.
Anreize zur Investition in Lernprogramme
Die Staaten bemĂŒhen sich um Anreize fĂŒr die Weiterbildung. Drei Formen zielen auf die Einzelnen ab: finanzielle Anreize zur Teilnahme an Lernprogrammen, Umschulungsprogramme, die auf die individuellen BedĂŒrfnisse erwachsener Arbeitnehmer zugeschnitten sind, sowie Beratungsdienste fĂŒr erwachsene Lernende. Die Anreize, mit denen Unternehmen zu Investitionen in Lernprogramme motiviert werden sollen, sind im Allgemeinen finanzieller Art, beispielsweise SteuervergĂŒnstigungen oder direkte ZuschĂŒsse fĂŒr BildungsmaĂnahmen oder Ausbildungsverpflichtungen. Nur wenige LĂ€nder haben UnterstĂŒtzungs- und Beratungsdienste fĂŒr Unternehmen eingefĂŒhrt.
Gemeinsame Verantwortung
Obwohl die Qualifikationen und Kompetenzen der BeschĂ€ftigten fĂŒr die LeistungsfĂ€higkeit des Unternehmens eine groĂe Rolle spielen, werden Ausgaben fĂŒr die Aus- oder Weiterbildung hĂ€ufig nicht als Investitionen, sondern als Kosten eingestuft. Die öffentliche Hand, die Unternehmen, die Sozialpartner und die Einzelnen mĂŒssen sich der Verantwortung stellen, Umfang und Effizienz der Humankapitalinvestitionen zu steigern. Der europĂ€ische Haushalt und die Haushalte der Einzelstaaten mĂŒssen die PrioritĂ€ten der Lissabonner Strategie zur Steigerung der wirtschaftlichen WettbewerbsfĂ€higkeit widerspiegeln. Hierzu zĂ€hlen auch die allgemeine und die berufliche Bildung (K...