DIE ACHTZIGER JAHRE UND DAS ENDE DER DDR
PER ANHALTER MIT DER U-BAHN
8. März 1980: Dieter Wendt (28) arbeitet als Stellwerksmechaniker bei der Ost-Berliner BVB. Er kennt den »Waisentunnel« an der Klosterstraße, der die Ost- und West-U-Bahn miteinander verbindet. Er soll für ihn, seinen Cousin Thomas und dessen Frau Sabine mit ihrem zweijährigen Sohn David der Fluchtweg werden. Unbemerkt gelangen die vier an die U-Bahn-Trasse. Ein Zug rumpelt heran. »Leinestraße« steht drauf. Das ist im Westen. Neukölln.
Das Signal 655 über ihnen leuchtet grün, doch Dieter Wendt lässt seine rote Lampe kreisen. Er hat Angst. Was ist, wenn ein Genosse des West-Berliner SED-Ablegers SEW die Bahn steuert oder der Fahrer einfach nur vorsichtig ist? Doch die U-Bahn hält außerplanmäßig kurz nach 21.30 Uhr. »Rein und hinlegen«, sagt der Mann im Steuerstand nur. Um drei Uhr früh sitzen die Wendts bei einem Bekannten im Märkischen Viertel auf dem Balkon: »Unten sah ich nur West-Autos«, erinnert sich Dieter Wendt, »erst da wusste ich richtig: Es hat geklappt!«
Die spektakuläre Flucht wird auf beiden Seiten streng geheim gehalten, damit niemand auf die Idee kommt, sie nachzuahmen.
EIN LUFTTAXI AUS DEM WESTEN
4. April 1980: Am Ende dauert der Flug nur vier Minuten und 25 Sekunden und kostet 45 000 DM. Das ist es dem ostdeutschen Diplom-Mathematiker Hans B. wert, um sich, seine Frau und die beiden Töchter (8 und 13) aus der DDR her-ausholen zu lassen. Dabei helfen ihm Heizungsmonteur Hans Vogtmann und Kunstflugweltmeister Manfred Strößenreuther aus Bayern. In Speichersdorf zwischen Bayreuth und der tschechischen Grenze wird der Plan geschmiedet, auf der anderen Seite, bei Cheb (Eger) ein Hochplateau für die kurze Landung ausgeforscht. Da mit Schüssen auf den Hubschrauber zu rechnen ist, sucht Vogtmann einen wagemutigen Piloten. Er findet ihn mit dem pensionierten amerikanischen Kunstflieger und Luftwaffenoberst Jim Hill, der für den Job am feuchtkalten Karfreitag 1980 extra aus den Staaten anreist. Er bringt Kunstflieger Chipper Melton mit, der aus purem Nervenkitzel dabei sein will und auf dem Co-Pilotensitz des feuerroten Jet-Ranger Platz nimmt. Dann geht alles ganz schnell.
Als auf der tschechischen Seite die Abfangjäger aufsteigen, ist Hans B. mit seiner Familie schon im Westen.
VON DDR-HANDELSSCHIFF AUFGEGRIFFEN
17. Mai 1980: Stundenlang paddelt ein junger Mann durch die Ostsee. Er hat völlig die Orientierung verloren. Am Morgen gegen 8 Uhr erreicht er entkräftet die Tonne R/A auf dem internationalen Schifffahrtsweg in Höhe Heiligendamm. Er klettert drauf und hofft, ein westliches Schiff würde ihn an Bord nehmen. Und es kommt auch ein Schiff, aber es ist der DDR-Frachter MS Freiburg. Der 21-jährige Kraftfahrer wird nach elfeinhalb Stunden zwangsweise »gerettet«. Das Kontrollboot G 413 holt ihn zurück ins DDR-Gefängnis.
OPERATION »SKORPION«
22. Mai 1980: Im Sommer 1985 reisen Wolfgang Welsch, seine Frau Hilde und Tochter Nathalie-Dominique gemeinsam mit Freund Peter H. und dessen Bekannter Susan im Wohnmobil durch den Sinai. Südlich von Eilat campen sie am Roten Meer. Familie Welsch geht baden, Peter H. brät Bouletten zum Abendbrot. Er und Susan haben bei fast 50 Grad Hitze keinen Hunger, aber Wolfgang lässt es sich schmecken.
Wenig später plagen ihn Magenkrämpfe. Auch seine Frau und die Tochter müssen sich übergeben, doch dann ist es bei den beiden wieder gut. Nur Wolfgang quält sich. Es wird immer schlimmer: Gliederschmerzen kommen hinzu, er kann nicht mehr richtig sehen, es kribbelt am ganzen Körper.
Peter H. muss plötzlich weg, auch Susan bricht den Urlaub ab. Jahre später sagt Wolfgang Welsch, wenn er an den Sommer auf dem Sinai denkt: »Mein Henker saß neben mir und beobachtete die Vollstreckung des Todesurteils.«
Was steckt hinter einer solch herben Anklage? Wolfgang Welsch stammt aus der DDR. Mit 20 will der Schauspielschüler 1964 fliehen. Dafür kommt er ins Gefängnis. 1971 wird er freigekauft. Er lässt sich nach Ost-Berlin entlassen, leistet Widerstand gegen das DDR-Regime und muss wieder ins Gefängnis. Danach, nun im Westen, wird Wolfgang Welsch Fluchthelfer. Er will sich an der DDR rächen. Über 200 Leute schleust er in den Westen.
Nun bearbeitet ihn die Stasi unter der Nummer MfS/XV/3359 in der »Operation Skorpion«. Die Geheimdienstler sorgen dafür, dass Welsch mit Peter H. bekannt wird. Weshalb, steht in den Akten: »Das Ziel operativer Kampfmaßnahmen gegen die KMHB (»Kriminelle Menschhändler-Bande« – K. B.) Welsch ist mit deren Vernichtung klar definiert. Erreicht wird es durch die koordinierte Heranführung eines IM an diese Organisation mit dem Ziel, sie zu lähmen, zu zerstören und ihren Leiter zu liquidieren.«
Das geschieht zunächst mit einigen erfolglosen Attentatversuchen. Dann brät Peter H., Deckname »Alfons«, die Todes-Bouletten am Roten Meer.
Sie sind mit Thalium, einem geruch- und geschmacklosen Gift versetzt. Welsch überlebt, weil es ihm gelingt, nach Deutschland zu gelangen und den richtigen Arzt zu finden. Peter H. ist derweil spurlos verschwunden. Das macht ihn Jahre später für Wolfgang Welsch verdächtig. 1990 erstattet er Strafanzeige wegen versuchten Mordes.
Doch der lässt sich nicht beweisen, bis Stern-Reporter am 23. November 1993 Peter H. alias »Alfons« finden. Er gesteht und wird am 28. November 1994 »wegen tateinheitlich begangenen dreifachen Mordversuchs« zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Stasi-Drahtzieher des Mordkomplotts bleiben straffrei.
Wolfgang Welsch sitzt als Nebenkläger im Gerichtssaal. In einer Prozesspause geht er zu seinem früheren Freund, nimmt all seine Kraft zusammen und sagt: »Ich vergebe dir, Peter. Ich vergebe dir als Mensch.«
AN DER AUTOBAHN ERDROSSELT
15. Juli 1980: Bernd Moldenhauer arbeitet nach seiner Haft wegen »versuchter Republikflucht« und der daraufhin erfolgten Abschiebung am 12. September 1973 nach West-Berlin aktiv gegen die DDR in der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM). Am 15. Juli 1980 wird er auf einem Autobahnrastplatz bei Bad Hersfeld ermordet.
Schnell ist der Täter ermittelt: Aribert F., der auch zugibt, Moldenhauer mit der Kordel seiner Parka »aus Habgier« ermordet zu haben. Dafür wird er im Juni 1983 zu zehn Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt.
Weniger Beachtung findet die beim Verhör »zur Überraschung des Kriminalbeamten« gemachte Aussage F.’s, dass er seit 1971 als inoffizieller Mitarbeiter »Günter Frank« für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR in der Terrorabwehr tätig gewesen sei. Sein drei Tage vor dem Mord, am 12. Juli 1980, erfolgter Besuch in der Ost-Berliner Stasi-Wohnung »Laube« bleibt ebenso unerwähnt, wie Bernd Moldenhauers öffentliche Ankündigungen, angeblich »ein großes Ding gegen die DDR« zu planen.
Und es gibt noch eine Merkwürdigkeit: Obwohl der Vorgang »Kontakt« zu Aribert F. bei der Stasi längst abgelegt war, gibt es einen erneuten Archivierungsbeschluss vom 26. November 1989 – also nach dem Mauerfall! Zu diesem Zeitpunkt wurden auf dem Deckblatt Offiziersnamen und Daten an insgesamt acht Stellen ausradiert und durch andere ersetzt.
Ob die Stasi Moldenhauer durch ihren geheimen Mitarbeiter im Westen ermorden ließ, ist nicht nachweisbar.
DAS ENDE DES »ROTEN ADMIRALS«
18. Juli 1980: Der Bundesnachrichtendienst hat eine Leiche im Keller, über die bis heute nicht gern gesprochen wird. Alles beginnt mit einem Angebot aus dem Osten. Angeblich will ein Offizier aus dem Nachrichtendienst der NVA für den BND spionieren, wenn er dafür in den Westen geholt wird. Erste Kontakte lassen im Westen den Versuch verheißungsvoll erscheinen. Der Mann wird als »Roter Admiral« registriert. Am 18. Juli 1980 wird er in der DDR hingerichtet.
Die Geschichte: Bis zum Admiral hat es Winfried Baumann, geborener Zakrzowski, in Wirklichkeit nie gebracht. Der Mann, Jahrgang 1930, war zwar mal – nicht zuletzt durch Protektion seiner Verwandtschaft aus der SED-Spitze – Fregattenkapitän im NVA-Nachrichtendienst, doch den Posten hatte er wegen seiner Alkoholsucht und einem daraus folgenden Suizidversuch längst verloren. Es folgten ein Job bei der Nationalen Front, dann wieder der Absturz und eine Gefängnisstrafe. Schließlich wird Winfried Baumann bei der Tribüne untergebracht, der Zeitung des FDGB.
All das bleibt dem BND unbekannt, denn über ehemalige Kollegen des Nachrichtendienstes der NVA erfährt Baumann immer noch einiges und für den Westen ist der Kantinentratsch voller geheimer Informationen. Über die neue Freundin Winfried Baumanns, eine 42-jährige Ärztin mit zwei Kindern, läuft die Verbindung zum BND.
Der schickt am 7. März 1979 seinen Agenten Horst H., Deckname »Sissi«, nach Ost-Berlin, um die Modalitäten der Ausschleusung zu besprechen. Dabei geschieht ein schwerer handwerklicher Fehler, denn »Sissi« ist der Stasi aus einer anderen geheimdienstlichen Operation bereits bekannt. So führt die Stasi-Operation »Bär« schnell auf die Spur Winfried Baumanns.
Am 5. Juni 1979 werden er und seine Freundin verhaftet. Das bleibt dem BND verborgen. So tappt auch »Sissi« in die Falle. Nun kümmert sich der BND nicht mehr um seine »verbrannten« Agenten.
Am 9. Juli 1980 wird der »Rote Admiral« zum Tode verurteilt und am 18. Juli hingerichtet. Das wird selbst vor seiner Familie geheim gehalten. Seine Freundin und der BND-Kurier erhalten Haftstrafen. Sie werden erst Jahre später ausgetauscht.
Nun zeigt sich, dass der BND auch Winfried Baumann hätte retten können, wenn er sich zu ihm als Agenten bekannt hätte. Das ist jedoch unterblieben.
Nach dem Ende der DDR betreibt Winfried Baumanns Tochter Liane die Rehabilitierung ihres Vaters. Das Landgericht Berlin erklärt das gegen ihn verhängte Todesurteil für »rechtsstaatswidrig« und hebt es auf.
DAS BOOT
27. August 1980: Im August 1979 beginnt Walter Gerber aus Rostock in seiner Garage mit dem Bau eines Mini-U-Bootes. Er stemmt den Betonboden auf und legt ein 2000-Liter-Wasserbecken an. Das ist sein Versuchsbecken. Unermüdlich baut er ein Jahr lang. Sein U-Boot wird schließlich zwei Meter lang, einen halben Meter breit und 70 Kilogramm schwer. Es hat einen Elektromotor und sogar ein Peilgerät für die Seefunkfeuer.
Der Grund für die ungewöhnlich umfangreichen Fluchtvorbereitungen: Walter Gerber ist Diplom-Ingenieur für Mikroelektronik im VEB Schiffselektronik Rostock. Die Stasi will ihn zur Mitarbeit erpressen. Gerber will kein Denunziant sein, er macht falsche Angaben und versucht, in einen anderen Beruf zu wechseln. Doch der Druck wird immer größer. Deshalb sieht er keinen Ausweg.
Der erste Versuch mit seinem U-Boot am 12. August 1980 scheitert an einer nassen Wiese. Der Hänger versinkt im Morast. Für den zweiten Versuch am 27. August 1980 um 2.00 Uhr bei Stove, nordöstlich von Wismar, baut der Tüftler den Ballasttank aus, um das so leichter gemachte U-Boot überhaupt ins Wasser zu bekommen. Nun schwimmt es, doch es ist nicht mehr lenkbar. Walter Gerber versenkt sein Boot enttäuscht und wütend am Strand. Nun will er die Flucht über die ČSSR versuchen.
Am 1. Oktober 1980 wird er schon vor der Grenze, in Pirna, verhaftet. Die Stasi hatte das U-Boot gefunden.
Walter Gerber bekommt vier Jahre und sechs Monate Haft. Im Oktober 1984 kauft ihn die Bundesrepublik frei. Er findet eine Arbeit an der Uni Lübeck. Am 21. Dezember 1984 dürfen dann endlich auch seine Frau Ingrid und Tochter Stefanie ausreisen.
HEIMTÜCKISCHER MORD
4. November 1980: »Die Zeit bei der Armee kann gar nicht schnell genug vergehen«, schreibt Grenzer Ulrich Steinhauer im April 1980 an seine Eltern in Ribnitz: »Nächstes Jahr um diese Zeit sieht die Welt ganz anders aus.« Und ein halbes Jahr später: »Noch 172 Tage. Warte auf Antwort!« Das tut er vergebens, denn als seine Familie am 7. November 1980 den Brief erhält, ist Ulrich Steinhauer schon drei Tage tot.
Der 4. November ist ein kalter Herbsttag. Ulrich Steinhauer zieht um 13.00 Uhr mit dem ihm gerade frisch zugeteilten Posten Egon B. auf Wache an der Grenze im Abschnitt Staaken-Schönwalde, gegenüber dem West-Berliner Ortsteil Eiskeller. Er geht vorweg. Egon B. schießt Ulrich Steinhauer von hinten eine Kugel ins Herz und steigt über die Mauer. Dann stellt er sich der West-Berliner Polizei.
Ein Auslieferungsersuchen der DDR-Generalstaatsanwaltschaft lehnen deren West-Kollegen ab, weil B. im Osten nicht nach Jugend- sondern nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden würde. Allerdings klagen auch sie ihn wegen Mordes an. Der Schuss in den Rücken beweise Heimtücke.
Das sieht der Jugendrichter als nicht zwingend an. Er verurteilt Egon B. wegen Totschlags zu sechs Jahren Jugendstrafe. Nach Aufhebung des Urteils durch den BGH wird im Juni 1982 die Strafe bestätigt, in einer erneuten Revision dann aber auf vier Jahre, neun Monate zur Bewährung herabgesetzt. Bereits im Juni 1982 bekommt Egon B. Haftverschonung.
In der DDR wird der Tod Steinhauers politisch instrumentalisiert. Ulrichs Schwester Ilona: »Mein Bruder hat nur seinen Dienst getan. Man hat ihn uns ein zweites Mal genommen, als er zum Helden stilisiert wurde.«
NICHT EINMAL EIN FOTO BLIEB
22. November 1980: Von Marienetta Jirkowsky gab es nach ihrer Flucht nicht einmal mehr ein Foto. Die Staatssicherheit sammelte alles ein. Warum?
Der Tod der gerade 18 Jahre alt gewordenen Frau, die als »Textilverarbeiterin« ihr erstes Geld verdiente, war wohl ein besonders deutliches Beispiel für das sinnlose Sterben an der Mauer.
Das Mädchen, das ihre Freunde »Micki« nannten, hatte sich in einen jungen Mann verliebt. Der passte den Eltern nicht – zu dritt, mit einem weiteren Freund, wollten sie deshalb im Dezember 1980 nach West-Berlin. Marienetta wird erschossen, als sie an der Mauer hängt, die beiden anderen schaffen die Flucht.
Am Reichstagsufer in West-Berlin wird ein Gedenkkreuz aufgestellt und mit dem (falsch geschriebenen) Namen »Jirkowski« versehen. Der inoffizielle Stasi-Mitarbeiter »Brunnen« demontiert es und bringt es nach Ost-Berlin. Jegliche Erinnerung soll ausgelöscht werden.
Das gelingt nicht. Ein Mauerschütze wird 1995 zu 15 Monaten auf Bewährung verurteilt, sein damaliger Postenführer aber nicht ...