Der Gesellschaftsvertrag von Jean-Jacques Rousseau.
Eine EinfĂŒhrung von Timo Pongrac
1. Einleitung
Wer sich heute mit dem Gesellschaftsvertrag von Rousseau beschĂ€ftigt, wird dazu vermutlich eine von zwei Veranlassungen haben. Die erste könnte historisches Interesse sein: Die Schrift erscheint als ein wertvolles Dokument vergangenen Denkens, das uns einen Einblick in die politischen Ideenwelten zurĂŒckliegender Zeiten eröffnet. Man liest sie in derselben Einstellung, mit der man ein Museum betritt. Ein solcher Zugang ist zweifellos naheliegend, denn Rousseaus Zeiten waren bewegte Zeiten. Er lebte in der Epoche der europĂ€ischen AufklĂ€rung und damit in einer spannungsreichen Umbruchphase, in der die Fundamente der modernen Welt gelegt wurden. Das schlug sich auch in seinem Werk nieder. Es ist ein Dokument des sozialen Wandels, Ausdruck des bĂŒrgerlichen Strebens nach Emanzipation und Selbstbestimmung, des Kampfes gegen die feudalen und kirchlichen Fesseln der Vergangenheit. Dies gilt selbst dann noch, wenn man einrĂ€umt, dass Rousseau in vielen Dingen gerade gegen den herrschenden Zeitgeist, auch den der AufklĂ€rung, anschrieb. Man mag ihn als Zivilisationsfeind, als rĂŒckwĂ€rtsgewandten Kritiker von Wissenschaft und Technik ansehen, erfĂŒllt von den SehnsĂŒchten nach einem einfachen Leben.i Und doch ist Rousseau immer auch AufklĂ€rer geblieben. Er beklagt die MissstĂ€nde seiner Zeit und entwirft, in steter Auseinandersetzung mit seinen Zeitgenossen, Visionen des Besseren.
Letzteres wird wohl in keiner Schrift so deutlich wie in seinem Gesellschaftsvertrag, den man ohne zu ĂŒbertreiben als wichtigsten oder zumindest einflussreichsten demokratietheoretischen Grundtext der Moderne bezeichnen kann. In ihm bĂŒndeln sich nicht nur die zentralen politikphilosophischen Interpretationslinien der europĂ€ischen Neuzeit. Er stellt auch eine bleibende Quelle der Inspiration fĂŒr alle radikaldemokratischen Bewegungen der jĂŒngeren Geschichte dar. Den Jakobinern etwa galt der Gesellschaftsvertrag gleichsam als Programmschrift der Französischen Revolution.ii Man könnte sich daher geneigt sehen, den historischen wie werkgeschichtlichen Ort des Textes auszuloten und Rousseaus Abhandlung vor dem Hintergrund ihrer Zeit zu erschlieĂen, um sie in die vielgestaltigen und weitreichenden Diskurse der AufklĂ€rung einzuordnen. Doch obzwar ein solcher Zugang zweifelsohne aussichtsreich und verlockend erscheinen mag, soll er in der hier vorliegenden EinfĂŒhrung ausdrĂŒcklich nicht verfolgt werden bzw. zumindest nicht im Zentrum stehen. Denn man kann sich der Schrift auch aus einer alternativen Perspektive und mit anderen als musealen Absichten anzunĂ€hern versuchen.
Dies fĂŒhrt uns zu dem zweiten möglichen Grund fĂŒr eine Auseinandersetzung mit Rousseaus Abhandlung: Wer den Gesellschaftsvertrag nicht aus historischem Interesse zur Hand nimmt, der oder die dĂŒrfte vor allem wissen wollen, was uns das Werk heute noch zu sagen hat. Eine derartige Absicht kann man als systematisches Erkenntnisinteresse bezeichnen. Und auch sie erscheint legitim, denn Rousseaus Abhandlung ist eine philosophische Schrift. Als eine solche sucht sie nach allgemeinen und ĂŒberhistorischen Wahrheiten, die im hier vorliegenden Falle die GrundsĂ€tze des Staatsrechts betreffen. Mit diesem Anspruch kann man den Gesellschaftsvertrag durchaus ernst nehmen. Man wird sich dann weniger fĂŒr die vielfĂ€ltigen geschichtlichen BezĂŒge und Querverweise interessieren. Im Zentrum steht vielmehr die Frage nach der Ăberzeugungskraft der im Text vertretenen Positionen und der zu ihrer BegrĂŒndung angefĂŒhrten Argumente. Man möchte wissen, wie schlĂŒssig und plausibel die von Rousseau vorgebrachte Konzeption ist, um sich auf diesem Wege Anregungen fĂŒr das heutige politische Denken und Handeln zu verschaffen. DafĂŒr mĂŒssen die BegrĂŒndungszusammenhĂ€nge des Textes selbst in den Blick genommen werden. Denn nur deren Kenntnis gestattet ein informiertes Urteil darĂŒber, welche Ăberlegungen und Einsichten des Gesellschaftsvertrags auch fĂŒr die Gegenwart noch relevant sein könnten. Diesem Erkenntnisinteresse entgegenzukommen, ist die erklĂ€rte Absicht der vorliegenden Einleitung. Sie möchte den Zugang zum Text erleichtern, indem sie die konzeptionellen Grundlagen und systematischen ZusammenhĂ€nge der von Rousseau verfolgten Argumentationslinien so transparent und plausibel wie möglich nachzuzeichnen versucht. Auch wenn dies manchmal mĂŒhevoll erscheinen mag, ist es der einzige Weg, sich das Anliegen des Gesellschaftsvertrags zu vergegenwĂ€rtigen.
Das soll indes nicht bedeuten, dass dabei ohne jede kritische Distanz verfahren wird. Mitdenken heiĂt Weiterdenken! Eine systematische Rekonstruktion des Gesellschaftsvertrags wird daher nicht nur die StĂ€rken der Abhandlung, sondern ebenso die Schwachpunkte und Schwierigkeiten der rousseauschen Konzeption zu berĂŒcksichtigen haben. Auch das ist ein Gebot ernsthafter Auseinandersetzung mit dem Text. Nur wenn man diesen in allen seinen Facetten, also auch den problematischen, zur Kenntnis nimmt, kann man sich ein ausgewogenes Gesamturteil bilden.
Eine kritisch-distanzierte Einstellung einzunehmen, bedeutet aber auch, dass man nicht alle Ansichten des Autors teilen muss, um sich der Grundintention seines Werks zu vergewissern. Dadurch eröffnen sich gewisse FreiheitsspielrĂ€ume. Von ihnen soll in der hier vorliegenden EinfĂŒhrung vor allem in einer Hinsicht Gebrauch gemacht werden: Wie viele seiner Zeitgenossen war auch Rousseau davon ĂŒberzeugt, dass Politik eine ausschlieĂlich mĂ€nnliche DomĂ€ne darstellt. Frauen sollten sich seiner Auffassung zufolge nicht um die öffentlichen Angelegenheiten bekĂŒmmern, sondern in der SphĂ€re des Haushalts ihren vermeintlich ânatĂŒrlichenâ Pflichten und Bestimmungen nachkommen. Obwohl sich diese Position nicht explizit im Gesellschaftsvertrag selbst ausgefĂŒhrt findet, wird man sie durch Hinzuziehen anderer Schriften Rousseaus ohne weiteres belegen können.iii Inwiefern diese Ansicht auch sein politiktheoretisches Hauptwerk berĂŒhrt, ist jedoch fraglich.iv Wir wollen im Folgenden jedenfalls davon ausgehen, dass sich der Gesellschaftsvertrag auch dann plausibel rekonstruieren lĂ€sst, wenn man dabei keinen politischen Ausschluss von Frauen voraussetzt. Das hat zur Folge, dass bei der Darstellung von Rousseaus politiktheoretischer Konzeption ganz selbstverstĂ€ndlich stets von BĂŒrgern wie von BĂŒrgerinnen die Rede sein wird. So viel interpretatorische Freiheit wird man sich herausnehmen mĂŒssen, um das rousseausche Projekt nicht bereits von seinen Grundlagen her hoffnungslos zu diskreditieren.
Damit ist die Absicht der vorliegenden EinfĂŒhrung in groben ZĂŒgen umrissen. Ihr Ziel besteht in einer systematischen Rekonstruktion des Gesellschaftsvertrags, bei der die wichtigsten BegrĂŒndungszusammenhĂ€nge und Argumentationsfiguren des Textes betrachtet und diskutiert werden sollen. Historische BezĂŒge und Querverweise geraten dabei nur insoweit in den Blick, wie dies fĂŒr eine Veranschaulichung des Grundanliegens der Schrift angebracht erscheint. Sie werden uns zudem ausnahmslos in Gestalt von anderen politischen Theorien begegnen â solchen nĂ€mlich, mit denen sich Rousseau in seinem Werk selbst auseinandergesetzt hat. Realgeschichtliche Darlegungen wird man in der Einleitung hingegen ebenso wenig finden wie biographische AusfĂŒhrungen. Darin besteht eine Konsequenz der hier verfolgten theoretischen Schwerpunktsetzung.v
Die systematische Rekonstruktion des Gesellschaftsvertrags soll dabei in vier Schritten erfolgen. ZunĂ€chst wollen wir uns mit der grundlegenden Absicht des Textes vertraut machen. In diesem Zusammenhang werden auch die theoretischen Modelle anderer politischer Philosophen eine Rolle spielen. Sodann ist das spezifische BegrĂŒndungskonzept in den Blick zu nehmen, mit dessen Hilfe Rousseau das von ihm ins Auge gefasste Gesellschaftsmodell zu rechtfertigen sucht: die titelgebende Figur eines hypothetischen Gesellschaftsvertrags. Welche konkreten politischen Einrichtungen und Institutionen auf diesem Wege Legitimation und BegrĂŒndung finden sollen, wird das Thema des folgenden Kapitels sein. AbschlieĂend widmen wir uns den externen Bedingungen, unter denen eine Umsetzung des rousseauschen Modells möglich schiene. Mit diesen Hintergrundinformationen sollte der Leser bzw. die Leserin imstande sein, sich durch die LektĂŒre des Gesellschaftsvertrags ein eigenes Urteil ĂŒber die Ăberzeugungskraft und den möglichen bleibenden Wert der Schrift zu verschaffen.
2. Absicht und Kontexte des Gesellschaftsvertrags
Rousseaus Gesellschaftsvertrag ist ein Werk von bescheidenem Umfang. Lediglich eine âkleine Abhandlungâ könne er vorlegen, einige kurze Passagen aus dem, was ursprĂŒnglich einmal ein umfassenderes Werk ĂŒber die Natur politischer Institutionen hĂ€tte werden sollen, das zu vollenden jedoch die KrĂ€fte des Verfassers ĂŒberstiegen habe.vi Rousseau, der im Laufe seiner Studien zu der Ăberzeugung gelangt war, âdaĂ alles im letzten Grunde auf die Politik ankĂ€me und daĂ, wie man es auch anstellte, jedes Volk stets nur das wĂŒrde, was die Natur seiner Regierung aus ihm machen wĂŒrdeâvii, eröffnet sein politiktheoretisches Hauptwerk mit dem EingestĂ€ndnis, dass es sich dabei um nicht viel mehr als um ein BruchstĂŒck handele. Eine solche Bemerkung lĂ€sst aufhorchen. Fragmente lesen sich nicht leicht. Vieles bleibt in ihnen unausgefĂŒhrt, was eigentlich umfangreichere Betrachtungen und ErlĂ€uterungen erfordert hĂ€tte. Es geht um das Ganze â aber nur Teile davon werden prĂ€sentiert. Rousseau warnt uns also vor: Der Gesellschaftsvertrag ist das Resultat einer jahrelangen Arbeit, die nun in komprimierter und verdichteter Form verabreicht wird. Damit ist KomplexitĂ€t vorgezeichnet. Um trotzdem den Ăberblick zu behalten, ist es hilfreich, sich vor der ersten LektĂŒre zunĂ€chst mit dem Grundanliegen der Schrift vertraut zu machen. Was ist die generelle Absicht von Rousseaus kurzer Abhandlung ĂŒber die GrundsĂ€tze des Staatsrechts?
Eine Antwort darauf findet sich bereits auf den ersten Seiten des Gesellschaftsvertrags. âDer Menschâ, so heiĂt es im ersten Kapitel des ersten Buches, âwird frei geboren, und ĂŒberall ist er in Ketten. Mancher hĂ€lt sich fĂŒr den Herrn seiner Mitmenschen und ist trotzdem mehr Sklave als sie. Wie hat sich diese Umwandlung zugetragen? Ich weiĂ es nicht. Was kann ihr RechtmĂ€Ăigkeit verleihen? Diese Frage glaube ich beantworten zu können.âviii Man sollte sich von der Formulierung nicht in die Irre fĂŒhren lassen. Rousseaus Anliegen ist es keinesfalls, irgendwelche Formen personaler AbhĂ€ngigkeit zu rechtfertigen â auch wenn es dem Anspruch nach durchaus um eine Legitimierung von Ketten geht. Aber welcher Art von Ketten? Das ist die Frage! Denn fĂŒr Rousseau sind nicht alle Fesseln gleichermaĂen akzeptabel. Solche jedenfalls sind es mit Sicherheit nicht, die einzelne Menschen der willkĂŒrlichen VerfĂŒgung durch andere unterwerfen. Man sollte das Wort âKettenâ vielleicht mit dem neutraleren Wort âBindungenâ ĂŒbersetzen. Wenn wir eine Bindung miteinander eingehen, wie dies in gesellschaftlichen VerhĂ€ltnissen stets der Fall ist, bedeutet dies, dass wir einen Teil unserer UnabhĂ€ngigkeit aufgeben und etwas von unserer Autarkie preisgeben mĂŒssen. Die Frage lautet dann: Wie können wir uns so miteinander vereinigen, dass die konkrete Form dieser freiheitseinschrĂ€nkenden Bindung zugleich als rechtmĂ€Ăig angesehen werden kann? Welche sozialen und politischen Ketten sind hinnehmbar und akzeptabel?
Das Grundanliegen des Gesellschaftsvertrags ist damit ein normatives. Anders als noch in seinen berĂŒhmten kulturkritischen Schriftenix geht es Rousseau hier nicht um eine historische ErklĂ€rung der Entstehung von gesellschaftlichen bzw. politischen AbhĂ€ngigkeitsverhĂ€ltnissen; geschichtliche Beschreibungen dienen im Gesellschaftsvertrag allenfalls zur Veranschaulichung und nicht zur systematischen BegrĂŒndung. Rousseaus eigentliche Absicht ist eine andere: Er fragt nicht danach, wie gesellschaftliche Verbindungen tatsĂ€chlich entstanden sind, sondern wie sie beschaffen sein mĂŒssten, um LegitimitĂ€t beanspruchen zu können. Rousseau sucht also nach geeigneten MaĂstĂ€ben, anhand deren sich beurteilen lĂ€sst, ob soziale Beziehungsformen anerkennenswĂŒrdig sind oder nicht. Wie sollte ein Gemeinwesen aufgebaut und institutionell verfasst sein, damit es die rational motivierte Zustimmung seiner Mitglieder verdient? Das ist die Grundfrage des Gesellschaftsvertrags.
Rousseau zielt dabei insbesondere auf eine BegrĂŒndung angemessener politischer Institutionen. Solche Institutionen gehen in aller Regel mit hierarchischen Beziehungsmustern einher. Es gibt Regierende und Regierte. Damit sind HerrschaftsverhĂ€ltnisse im Spiel. Aber aus welchem Grund bemĂŒht sich der Verfasser des Gesellschaftsvertrags, politische AutoritĂ€tsstrukturen zu legitimieren, wenn doch der Mensch ein zur Freiheit geborenes Wesen ist? WĂ€ren nicht auch horizontalere Beziehungsformen möglich?
Eine Antwort auf diese Fragen lĂ€sst sich im Sinne Rousseaus wie folgt umreiĂen: Zwar sind die Menschen in der Tat frei geboren. Allerdings sind sie, jedenfalls unter normalen UmstĂ€nden, gezwungen, in gesellschaftlichen Beziehungen zu leben, die ihnen ein kooperatives Verhalten abverlangen. In einer Gesellschaft kann nicht jeder und jede einfach immer das tun, wonach ihm oder ihr gerade der Sinn stehen mag. Er oder sie muss vielmehr RĂŒcksicht auf die WĂŒnsche und Nöte der anderen nehmen. WĂ€ren Menschen vollkommene moralische Geschöpfe, so wĂŒrden sie bei allen ihren individuellen Entscheidungen stets von sich aus das Wohl aller anderen im Auge behalten â vorausgesetzt, dass sie sich ĂŒber sĂ€mtliche Konsequenzen ihres Handelns im Klaren sein können. Eine solche Annahme ist aber unrealistisch. Menschen sind zwar durchaus zu moralischen RĂŒcksichten in der Lage. Sie sind aber ebenso egoistische Wesen, die in vielen Situationen primĂ€r auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind, der nicht immer automatisch im Einklang mit den Forderungen der Moral zu stehen braucht. Deshalb bedarf es anderer als moralischer Garantien, um ein kooperatives Miteinander zu gewĂ€hrleisten, das auch unter Bedingungen von Interessenkonkurrenz aufrechterhalten werden kann.
Dies ist exakt der Punkt, an dem fĂŒr Rousseau die Politik ins Spiel kommt: âGĂ€be es keine verschiedenen Interessenâ, heiĂt es in einer FuĂnote des Gesellschaftsvertrags, âwĂŒrde [alles] ganz von selbst gehen, und die Politik aufhören, eine Kunst zu sein.âx Da die Menschen aber, wie beschrieben, oftmals dazu tendieren, eher ihren partikularen Neigungen als allgemeinen GrundsĂ€tzen der Moral zu folgen, bedarf es nach Rousseau der Kunst der Politik. Diese erzwingt, machtgestĂŒtzt und sanktionsbasiert, kooperatives Verhalten auch in solchen FĂ€llen, in denen die moralischen Ressourcen der Individuen dafĂŒr nicht ausreichend wĂ€ren. Ihre Aufgabe ist es, kollektiv bindende Regeln des Miteinanders festzulegen und diese, wenn nötig unter Androhung von Strafe, gegenĂŒber den Einzelnen durchzusetzen, damit diese von ihren Freiheiten keinen missbrĂ€uchlichen Gebrauch machen. Wie aber muss Politik institutionalisiert und organisiert werden, damit sie ihrerseits die ihr zukommende Macht und AutoritĂ€t nicht ausnutzt â indem etwa Gesetze verabschiedet werden, die ausschlieĂlich den partikularen Interessen der Herrschenden zugute kommen? Das fĂŒhrt uns wieder zur Ausgangsfrage des Gesellschaftsvertrags zurĂŒck. Was sind die GrundzĂŒge eines rechtmĂ€Ăigen Gemeinwesens?
NatĂŒrlich ist diese Frage alles andere als neu. Die Suche nach der guten und gerechten Ordnung beschĂ€ftigt das europĂ€ische Politikdenken mindestens seit Platon.xi Rousseau zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass er beinahe alle bisherigen Ăberlegungen seiner VorlĂ€ufer als fehlerhaft zurĂŒckweist. Seine Kritik verfolgt dabei im Wesentlichen zwei StoĂrichtungen: Einerseits kritisiert er die grundbegrifflichen Fundamente, von denen ausgehend politische AutoritĂ€t in vielen FĂ€llen abgeleitet wurde. Andererseits verwirft er die InstitutionalisierungsvorschlĂ€ge seiner VorgĂ€nger. In Abgrenzung dazu entwickelt Rousseau seine eigenen GrundsĂ€tze des Staatsrechts â die zugleich auf die von ihm favorisierte Einrichtung von Politik vorausweisen. Das ist das hauptsĂ€chliche Thema des ersten Buchs des Gesellschaftsvertrags, um das es nun zunĂ€chst gehen soll.
Wir fangen mit dem ersten Punkt von Rousseaus Kritik an seinen VorgĂ€ngern an: den fehlerhaften grundbegrifflichen Fundamenten, die zur Rechtfertigung politischer AutoritĂ€tsansprĂŒche herangezogen wurden. Rousseau weist hier insbesondere alle Versuche zurĂŒck, die LegitimitĂ€t politischer Herrschaft in irgendeiner Weise von der Natur abzuleiten. So lĂ€sst sich eine Berechtigung zur AusĂŒbung politischer AutoritĂ€t seiner Ansicht nach zum Beispiel nicht auf ein ursprĂŒngliches Recht des StĂ€rkeren zurĂŒckfĂŒhren. Das ist eine BegrĂŒndungsstrategie, wie sie etwa in der Antike von dem griechischen Sophisten Thrasymachos vertreten wurde.xii Was ist daran falsch? Nun, es mag zwar sein, dass in der Geschichte tatsĂ€chlich oftmals die StĂ€rksten die Geschicke der Politik bestimmen konnten. Aber wir erinnern uns: Rousseau fragt nicht danach, wie politische AutoritĂ€t de facto zustande gekommen ist, sondern wie sie beschaffen sein muss, um LegitimitĂ€t beanspruchen zu können. Tatsachen schaffen kein Recht; und StĂ€rke vermag dies ebenso wenig. âDie StĂ€rke ist ein physisches Vermögen; ich begreife nicht, welche sittliche Verpflichtung sie bewirken könnte. [âŠ] Muss man aus Zwang gehorchen, so braucht man nicht aus Pflicht zu gehorchen, und wird man nicht mehr zum Gehorchen gezwungen, so ist man dazu auch nicht mehr verpflichtet. Man sieht also, dass das Wort âRechtâ der StĂ€rke nichts verleiht; es ist hier vollkommen bedeutungslos.âxiii
Physische Gewalt stiftet keine sittliche Verpflichtung, ihr Folge zu leisten. Die Berechtigung zu politischer MachtausĂŒbung ergibt sich daher nicht aus dem schieren Faktum körperlicher Ăberlegenheit. Sie lĂ€sst sich aber auch nicht aus anderen als ânatĂŒrlichâ aufgefassten QualitĂ€ten und Beziehungsformen ableiten. Weder gibt es naturhaft zur Herrschaft und zur Sklaverei geborene Menschen, wie es die Ansicht von Aristoteles war;xiv noch kann politische AutoritĂ€t auf eine vermeintlich ânatĂŒrlicheâ AutoritĂ€t des Vaters ĂŒber seine Kinder zurĂŒckgefĂŒhrt werden, wie es die Verteidiger der Erbmonarchie, allen voran Robert ...