Evi Agostini42
LektĂŒre von Vignetten
Reflexive Zugriffe auf ErfahrungsvollzĂŒge des Lernens
âGewöhnlich meint man, das Ich sei jemand, der aus den eigenen Augen herausschaut wie aus einem Fenster, um die Welt zu betrachten, die sich in ihrer ganzen Weite vor ihm erstreckt. Also gibt es ein Fenster, das sich zur Welt auftut. DrauĂen ist die Welt. Und drinnen? Auch die Welt, was denn sonst?â
(âHerr Palomarâ von Italo Calvino)
Wie Gilbert, Protagonist einer Vignette (in diesem Buch), wĂ€hrend des Unterrichts immer wieder neugierige Blicke aus dem Fenster wirft und dabei die regelmĂ€Ăige Wiederkehr einer Gruppe von Elstern um die Mittagszeit feststellt, ist auch Herr Palomar aus der ErzĂ€hlung von Italo Calvino (1985) ein ebenso eifriger Beobachter. Auch er versucht, Blicke aus dem Fenster zu werfen, wenn auch in einem ĂŒbertragenen Sinn des Wortes. In der Hoffnung, die Dinge in ihrer KomplexitĂ€t zu (be-)greifen und ihnen dadurch wahre Erkenntnis abzuringen, hat Herr Palomar es sich zum Ziel gesetzt, die Welt mit der richtigen Einstellung und durch exakte Wahrnehmung von auĂen zu ordnen und verstehbar zu machen. âLeicht kurzsichtig, wie er ist, zerstreut und introvertiert, scheint er vom Temperament her nicht gerade der Typ zu sein, den man gewöhnlich fĂŒr einen Beobachter hĂ€lt. Dennoch passiert es ihm immer wieder, daĂ sich bestimmte Dinge â eine Mauer, eine Muschelschale, ein Blatt, eine Teekanne â in sein Blickfeld drĂ€ngen, als bĂ€ten sie ihn um eine lĂ€ngere und minutiöse Aufmerksamkeitâ (ebd., 131). Nachdem sich Herr Palomars begieriger Blick jedoch immer wieder in den RĂ€tselhaftigkeiten und UnergrĂŒndlichkeiten seiner gelebten Welt verfĂ€ngt und dem auch nicht mit der BemĂŒhung, âdabei das eigene Ich aus dem Spiel zu lassenâ (ebd., 132) beizukommen ist, kommt er schlieĂlich zu dem Schluss, dass vom âbetrachteten Ding [âŠ] die Linie ausgehen [muss], die es mit dem betrachtenden Ding verbindet. Aus dem stummen Haufen der Dinge muĂ etwas kommen: ein Zeichen, ein Anruf, ein Wink. Ein Ding tritt aus der Masse der anderen Dinge hervor, um etwas zu bedeuten⊠Aber was?â (ebd., 133).
Die ErzĂ€hlung rund um Herrn Palomar wirft die Frage nach dem Akt der Wahrnehmung als Unterschied zwischen dem Wahrnehmen als Bewusstseinsakt und der Welt als Gegenstand der Wahrnehmung auf, in der PhĂ€nomenologie als Differenz zwischen Noesis und Noema bzw. Zugangsart und Sachgehalt bezeichnet (vgl. Husserl 1950, 179ff.). Mit dieser âsignifikativen Differenzâ (Waldenfels 2002, 29) im Etwas-als-Etwas-Wahrnehmen wird die Genese der Wahrnehmung einer Reflexion zugĂ€nglich und die strikte Trennung zwischen âSubjektâ und âObjektâ, âDrinnenâ und âDrauĂenâ (vgl. Calvino 1985, 110) und damit der Welt, wie sie uns erscheint, und der Welt, wie sie an sich ist, vermieden. Stattdessen wird der Blick auf die Art und Weise gerichtet, in der sich ein PhĂ€nomen als eine mögliche Erscheinungsweise eines Gegenstandes von sich selbst her fĂŒr den Wahrnehmenden zeigt (vgl. Heidegger 1994, 64). Die Frage, was sich zwischen uns als Wahrnehmende und dem wahrgenommenen Gegenstand im Wie der Wahrnehmung abspielt, soll hier dazu dienen, um dem nĂ€her zu kommen, was LektĂŒren sind. Die Vorgehensweise ist dabei mit jener zu vergleichen, die auch beim Lesen einer Vignette selbst zur Anwendung kommt. Den in der Vignette verkörperten Erfahrungen des Lernens soll in Suchbewegungen immer nĂ€hergekommen werden, ohne das aus den Augen zu verlieren, was sich dem ersten und auch dem zweiten Blick verschlieĂt und sich vielleicht auch nicht einem dritten Blick öffnet. Bereits Herr Palomar macht die eigentĂŒmliche Erfahrung, dass die Dinge ihm in dem MaĂe fremd werden, wie er ihnen scheinbar nĂ€herkommt.
Vignetten können uns darauf aufmerksam machen, dass Menschen als âErfahrungstiereâ (vgl. Foucault 1996) stets mehr tun, als lediglich neutrale Fensterblicke auf eine unbewegliche und wohlgeordnete Wirklichkeit zu werfen. Als leibliche Wesen sind wir keineswegs nur Subjekte, die einer vermeintlich objektiven Welt frontal gegenĂŒberstehen. Vielmehr finden wir uns vor in einer Welt, die wir hören, riechen, berĂŒhren, sehen und schmecken, in der wir, kurz gesagt, Erfahrungen machen, aus denen wir verĂ€ndert hervorgehen (vgl. ebd., 24). Stets nehmen wir im handelnden Umgang mit der Welt etwas als ein bestimmtes Etwas wahr, sodass wahrgenommener Gegenstand (Sachverhalt) und unsere Wahrnehmung davon (Zugangsart) nicht voneinander zu trennen sind (vgl. Waldenfels 1992, 19). Ein einfaches Beispiel, das einen Gegenstand in den Vordergrund stellt, der zweckgemÀà in seiner Funktion als SchlĂŒsselanhĂ€nger Verwendung findet, mag diesen Gedankengang veranschaulichen: So gerĂ€t dieser in seinem sachgemĂ€Ăen Gebrauch lediglich als ein SchlĂŒsselanhĂ€nger in den Blick. Je nach Situation, nach frĂŒheren Erfahrungen oder augenblicklichen Interessen kann er jedoch auch als Wurfgeschoss oder als Spielgegenstand wahrgenommen werden (vgl. Agostini 2015, 146). âAnders wahrnehmen ist Anderes wahrnehmenâ, bemerkt der französisch-litauische Philosoph Emmanuel LĂ©vinas (1983, 156). Indem ein Gegenstand in einer bestimmten Art und Weise wahrgenommen wird, tritt er in unserer Erfahrung als ein ganz bestimmter Gegenstand auf. Dass ein Gegenstand als ein bestimmter Gegenstand erscheint, meint nicht, dass er ein bestimmter Gegenstand ist, sondern dass er zu einem bestimmten Gegenstand wird, indem er einen Sinn gewinnt und sich damit ĂŒberhaupt erst als ein bestimmter Gegenstand zeigen kann. Diesem Gegenstand haftet eine unabdingbare PerspektivitĂ€t an, denn âschattenlos erkennt allein der Gottâ (Fink 1976, 203). Gerade als leiblich Wahrnehmende können wir niemals einen absoluten Beobachterstandpunkt einnehmen, sondern die ErfahrungsgegenstĂ€nde lediglich in ihren Grenzen, beispielsweise vor einem bestimmten (theoretischen) Hintergrund, in einem bestimmten Kontext und mit einem bestimmten Sinn zum Erscheinen bringen. Wir, die wir eine konstitutive Bedeutung fĂŒr die jeweilige Erscheinungsweise des wahrgenommenen Gegenstandes haben, mĂŒssen damit zugleich mit der KrĂ€nkung leben, dass die GegenstĂ€nde auch ohne unsere Beteiligung existieren. Genauso wie der SchĂŒler Gilbert intuitiv ahnt, dass sich die Elstern vor dem Fenster auch ohne seinen aufmerksamen Blick auf dem Schulhof versammeln, macht Herr Palomar die Erfahrung, dass der ganz plötzlich auftauchende Nachmittagsmond als visuelle Erscheinung auf seine Perzeption nicht angewiesen ist (vgl. Calvino 1985, 46).
LektĂŒre ist, vereinfacht ausgedrĂŒckt, der Versuch zu verstehen, was sich zwischen Menschen und Welt, Wahrnehmenden und Wahrgenommenem ereignet. Notwendigerweise geht mit diesem Versuch, eine bestimmte Erscheinungsweise eines Gegenstandes zu begreifen und die Sinnstrukturen reflexiv zu untersuchen, keine Vereinfachung, sondern eine Steigerung von KomplexitĂ€t einher (vgl. Merleau-Ponty, 1976). Nicht nur in den Vignetten, auch in den LektĂŒren sind die Forschenden âeinem höchst fragilen Ereignis, nĂ€mlich dem Moment, in dem Sinn entstehtâ (Meyer-Drawe 2010, 7), auf der Spur. Diese Genesis von Sinn, beispielsweise im Ăbergang von einem âlebensweltliche[n] Auskennenâ zu einem âwissenschaftliche[n] Erkennenâ (Meyer-Drawe 1996, 88), in Worte zu kleiden und somit fĂŒr die sinnlich-leiblichen und jeglicher Reflexion vorausgehenden Expressionen einen sprachlichen Ausdruck zu finden, ist das Anliegen der LektĂŒre. In den Vignetten werden durch die sprachlichen Verdichtungen die Bedeutungen des Wahrgenommenen mitkonstituiert. Durch diese gezielte Komposition und Darstellung wird der Wahrnehmungsfokus in der LektĂŒre bereits auf eine bestimmte Auswahl von Erfahrungselementen gerichtet. Obgleich Vignetten somit in eine bestimmte Richtung deuten, generieren sie in ihrer âanschauliche[n] Dichteâ (Gabriel 2010, 379), aufgrund ihrer leiblichen und vorreflexiven Elemente, spĂŒrbare Sinn- und BedeutungsĂŒberschĂŒsse fĂŒr die Lesenden. Damit zeigen Vignetten im Sinne der ursprĂŒnglichen Bedeutung des Wortes âdeutenâ âin eine Richtung [âŠ], d. h. aber in ein Offenes, das sich verschieden ausfĂŒllen kannâ (Gadamer 1967, 10f.). Wenn also auf dieser elementaren Ebene von Deutung gesprochen wird, so muss diese im Sinne einer produktiven Deutung, als Antwort auf den SinnĂŒberschuss, der PrĂ€gnanz des Wahrgenommenen verstanden werden, die von der explikativen Deutung vorliegender Sinn- und TextbestĂ€nde zu unterscheiden ist (vgl. Waldenfels 2004b, 813). Damit steht in der LektĂŒre weniger das Geben von abschlieĂenden Antworten in Form von ErklĂ€rungen, von Zuschreibungen oder Festschreibungen im Vordergrund, als vielmehr das Aufwerfen von Fragen, die dazu einladen, sich auf die niemals eindeutigen Spuren des Lernens zu begeben.
Die sprachlich minutiösen Beschreibungen der leiblichen Expressionen, angezeigt durch die Blicke, die zwischen den Lehrenden, den Lernenden und den Forschenden hin und her wandern, und ihre Bewegungen in Zeit und Raum lassen einen bedeutungsschwangeren Resonanzraum entstehen und bringen die Vignette zum Klingen. Diese klingende Bedeutungsvielfalt einer Vignette ermutigt, diesen Klang âals Fortsetzung einer Artikulation [âŠ], die ihren Anfang in der gelebten Welt selbst nimmtâ (Meyer-Drawe 2010, 7) in der LektĂŒre der Vignette aufzunehmen und mit eigenen Bedeutungen zu versehen. Um dem Klang der Vignette in all seinen Tonvariationen und Bewegungsnuancen angemessen nachspĂŒren zu können, ist ein Einstellungswechsel bei uns als Wahrnehmende erforderlich. So muss in der phĂ€nomenologischen Grundhaltung der âEpochĂ©â43 durch die Möglichkeit zur Distanzierung die vorreflexive Wahrnehmungswelt suspendiert werden, in der wir von vermeintlich objektiven GegenstĂ€nden ausgehen (vgl. Husserl 1962, 260). In der phĂ€nomenologischen Reduktion wird anschlieĂend skeptisch die Beziehung zwischen Gegenstand der Wahrnehmung und uns als Wahrnehmende reflektiert (vgl. Husserl 1973, 61). Da die LektĂŒre ihren Ausgangspunkt bei unseren eigenen Erfahrungen nimmt, versuchen wir, die Vignette von unserer Lebenswelt her zu verstehen, im erkundenden Modus unserer vorwissenschaftlichen Welterfahrung als selbstverstĂ€ndliche, unbefragte Basis unseres alltĂ€glichen Denkens und Handelns. Allerdings dĂŒrfen wir nicht vollstĂ€ndig in diesen Erfahrungswelten aufgehen, da wir sonst die in den Vignetten verdichteten Erfahrungsspuren nicht mehr angemessen reflektieren können. Konkret ist damit eine Suspendierung der lebensweltlichen Formen des Wissens und Meinens gemeint, sodass vage Vormeinungen und VorverstĂ€ndnisse, mit denen schulisches Lernen, beispielsweise aufgrund der eigenen Schulerfahrungen, behaftet ist, zum Vorschein kommen, aber ebenso suspendiert sind. Zugleich bedeutet dies einen methodischen Bruch mit der Befangenheit in unseren ErfahrungsvollzĂŒgen, der es uns erlaubt, in einem ersten Schritt zu ihnen auf Distanz zu gehen, um in einem zweiten umso deutlicher unserer Verstrickung mit ihnen gewahr zu werden sowie diese VollzĂŒge im Modus des Etwas-als-Etwas beschreiben zu können. Damit wird die phĂ€nomenologische Reduktion, welche in den Vignetten beginnt, in der LektĂŒre fortgesetzt: Der Unterschied zwischen Thema und Deutung bzw. Sachverhalt und Zugangsart wird in den Blick genommen und das, âwas sich zeigt, auf die Art und Weise zurĂŒckgefĂŒhrt, wie es sich zeigtâ (Waldenfels 1992, 15).
Fragen, die in der LektĂŒre im Vordergrund stehen, sind die folgenden: Als was zeigt sich in der Vignette ein ganz bestimmter Gegenstand? Wie zeigt sich dieser? So gerĂ€t beispielsweise ein Gummiband in seinem zweckmĂ€Ăigen Gebrauch lediglich als elastisches Band in den Blick. Aufgrund der produktiven Vieldeutigkeit der Dinge kann das Gummiband je nach Situation jedoch auch als Kaugummi oder als Gegenstand zur Veranschaulichung eines didaktischen Sachverhaltes wahrgenommen werden (vgl. die LektĂŒre âDie produktive Kluft zwischen Lehren und Lernen. Oder: Spannung liegt in der Luftâ von Agostini in diesem Buch). Als was zeigt sich in der Vignette ein ganz bestimmtes PhĂ€nomen? Wie zeigt sich dieses? So affiziert uns in einer anderen Vignette zum Beispiel der Satz der SchĂŒlerin Sara: âDu und du und du â ihr dĂŒrft auch nicht singen.â In der LektĂŒre von Hans Karl Peterlini wird deutlich, dass je nach Zugangsart dieses Nicht-DĂŒrfen auch als Nicht-Wollen oder als Nicht-Können gedeutet werden kann. Wenn wir etwas aufgrund seines Auftretens in unserer Erfahrung als ein bestimmtes Etwas deuten, dann weist dieses âalsâ unweigerlich auf einen Bruch hin, der jeglicher Wahrnehmung immanent ist. Die Form der Deutung, die in der LektĂŒre zur Anwendung kommt, entspricht dabei im Sinne des deutschen Philosophen Hans-Georg Gadamer (1967, 10f.) dem âpointing toâ (Finlay 2009, 11), das sich ganz klar von einem âpointing out the meaning of something by imposing an external frameworkâ (ebd.) abgrenzt. Die erstgenannte Art der Deutung ist im Gegensatz zur zweitgenannten nicht ein Herauslesen von Bedeutungen aufgrund einer externen Bedeutungszuschreibung, welche mit dem ĂberstĂŒlpen eines fremden Theorierahmens einhergeht, sondern ein Hindeuten auf etwas, sodass sich, je nach Zugangsart, etwas zuallererst als ein bestimmtes Etwas zeigen kann. Im Verlauf der LektĂŒre kommt es darauf an, dieses âalsâ, das einen Spalt zwischen dem gegebenen Gegenstand als solchem und dem Gegenstand unserer Wahrnehmung auftut und damit ĂŒberhaupt erst Sinn oder Bedeutung entstehen lĂ€sst (vgl. Waldenfels 2002, 378), so genau wie möglich zu beschreiben. Dies geschieht im responsiven Antworten auf jene Erfahrungen in den Vignetten, welche die Lesenden ansprechen und betroffen machen. âDiese Polyphonie ruft Resonanzen hervor, die zum schreibenden ErlĂ€utern drĂ€ngen, das sich in den LektĂŒren niederschlĂ€gt oder festsetzt, die verschriftlichte Schatten der eigenen Erfahrung, Stellungnahmen oder eines Standortes im Rahmen eines gegebenen Horizontes sein könnenâ (Baur & Schratz 2015, 172). Da eine Aufforderung immer eine Aufforderung von etwas fĂŒr jemanden darstellt, kommt je nach Lesendem/Lesender anderes zum Vorschein und in den Blick. Wichtig ist, dass die (theoretische) Herkunft der Lesarten aufgezeigt und fĂŒr andere transparent gemacht wird (vgl. Schratz, Schwarz & Westfall-Greiter 2012, 39). Die Mitglieder der Forschungsgruppe versuchen daher diese in den Vignetten verdichteten Erfahrungen aufzugreifen und in der LektĂŒre als jene zur Sprache zu bringen, als welche sie sich den Lesenden ausgehend von den Erfahrungen der Lernenden zeigen. In der LektĂŒre wird damit ein Reflexionsraum eröffnet, indem die in der Vignette dargestellten und in der Lebenswelt der SchĂŒler/innen und der Forschenden verwurzelten prĂ€-reflexiven und vor-bewussten ZusammenhĂ€nge mit spezifischen (theoretischen) BezĂŒgen als eine bestimmte Erfahrung expliziert und diese somit zugĂ€nglich und verstehbar gemacht werden. Denn, wie Beekmann (1987, 23) meint, werden diese ZusammenhĂ€nge âim Erleben und im Tun nicht immer als solche erkannt und thematischâ. Wie die PĂ€dagogin und PhĂ€nomenologin KĂ€te Meyer-Drawe (2011, 24) betont, besteht die âparadoxe Aufgabe des sprachlichen Ausdrucks [âŠ] in diesem Kontext darin, das zur Erscheinung zu bringen, was, um zu existieren, seiner nicht bedarf, das aber, um verstanden zu werden, auf ihn angewiesen istâ.
WĂ€hrend sich das Schreiben der Vignette am Konzept des Beispiel-Gebens orientiert, richtet sich die LektĂŒre einer Vignette am Beispiel-Verstehen aus. In dem skizzierten Erfahrungsreichtum, den Vignetten artikulieren, verweisen sie ebenso wie Beispiele auf intersubjektive und damit relationale Erfahrungen, welche intuitiv nachvollzogen und deshalb wieder erkannt werden können. Der Sinn einer Vignette als Beispiel erschlieĂt sich nĂ€mlich ânicht als Objektivierung und Generalisierung einer allgemeinen Regel, sondern er stellt sich im intuitiven Nachvollzug einâ (Brinkmann, 2012b, 44). Damit machen wir als Lesende anhand der Vignette und der in ihr dargestellten Erfahrung eine eigentĂŒmliche Evidenz-Erfahrung, in welcher das PhĂ€nomen, um das es in dem konkreten Beispiel geht, vor Augen gebracht wird. Dabei transzendiert die eigentĂŒmliche Struktur des Beispiels seine eigene Absicht, sodass gezeigt und nicht gesagt wird, wie das Beispiel verstanden werden soll. GĂŒnther Buck (vgl. 1989, 97ff.), ein deutscher Philosoph und PĂ€dagoge, hat das Beispiel unter Bezugnahme auf die Epagoge, das heiĂt bei Aristoteles den Weg der âHinfĂŒhrungâ eines Einzelnen und Besonderen zum Allgemeinen, als eine wichtige Möglichkeit der VerstĂ€ndigung, des Verstehens sowie des Lernens wiederentdeckt. Er nimmt eine genaue Analyse der reflexiven âZirkelstrukturâ (Buck 1989, 158) des intuitiven Verstehensprozesses vor, der durch das Beispiel in Gang kommt. Diese Struktur der ReflexivitĂ€t eröffnet BedeutungszusammenhĂ€nge und ermöglicht es, dass âBeispiele [âŠ] ĂŒber sich hinaus[weisen], indem sie auf etwas zurĂŒckweisenâ (ebd., 157). Damit ermöglicht die spezifische Struktur des Beispiels, dass die konkrete und besondere Erfahrung, die am Beispiel zur Darstellung kommt, auf eigene vergangene Erfahrungen verweist. Zugleich wird durch das Beispiel die Möglichkeit der zukĂŒnftigen Erkenntnis fĂŒr eine Vielzahl von Erfahrungen von gleicher oder analoger Natur eröffnet (vgl. ebd., 40). Indem das Beispiel auf uns als Nachvollziehende zielt, mĂŒssen wir die ErfahrungsvollzĂŒge, welche Vignetten verkörpern, immer schon in einer gewissen Art und Weise selbst unausdrĂŒcklich vorverstanden haben. Im Lesen des Beispiels wird dieses unausgedrĂŒckte, unbestimmte und naive Erfahrungswissen aufgrund von eigenen Erwartungen als unreflektiertes VerstĂ€ndnis eines besonderen Falles thematisch und ein allgemeiner Sinn wird explizit. Mit der Absicht, jemanden zum Nachdenken zu bewegen, vergegenwĂ€rtigen Beispiele somit einen bestimmten Erfahrungsvollzug, der widerfĂ€hrt und sich aufdrĂ€ngt. Ausgehend von eigenen vorreflexiven Erfahrungen erfolgt in einer reflexiven RĂŒckwendung auf unser VorverstĂ€ndnis eine Konfrontation mit dem in unseren Erfahrungen wirksamen Vorwissen sowie mit uns selbst als Lernenden. Nur weil wir vertraute Erfahrungen gemacht haben, verweisen Beispiele damit auf frĂŒhere Erfahrungen, sodass wir, werden Erwartungen nicht erfĂŒllt, eine neue Erfahrung machen, aufgrund derer das eigene Vorwissen ĂŒber eine Sache und uns selbst als Lernende umstrukturiert werden muss â und wir dabei selbst lernen (vgl. Meyer-Drawe 2012b, 15; vgl. auch Buck 1989, 80). Die alte Erfahrung und ihr Gegenstand des Wissens werden â wie dies insbesondere neurobiologische Diskurse vermuten lassen könnten â jedoch nicht einfach ersetzt, sondern lediglich in ihrer alleinigen GĂŒltigkeit in Frage gestellt sowie neu indiziert. Alte Meinungen und Auffassungen gelangen zu Bewusstsein, ohne dass sie aufgelöst werden (vgl. Meyer-Drawe 1996, 89).
Im Gegensatz zu einem interpretativen, hermeneutischen Verstehenszugang, so wie er von GĂŒnther Buck (1989) angestrebt wird, und der sich vorwiegend auf sprachliche Akte und schriftliche Zeugnisse konzentriert, wird bei einer phĂ€nomenologischen Betrachtungsweise die in den Vignetten verkörperte âLeibhaftigkeit der Wahrnehmungâ (Brinkmann 2014, 216) ernst genommen und die fĂŒr uns fremde Erfahrung im Zwischenfeld von Skepsis und NaivitĂ€t nicht lediglich als Defizit im Sinne einer noch-nicht verstandenen Erfahrung angesehen, sondern als WiderstĂ€ndiges und Unbestimmtes, das sich einem radikalen Verstehen entzieht (vgl. Meyer-Drawe 2003, 505; Agostini 2016, 81). Nur dadurch ist es möglich, das in der Vignette zur Darstellung kommende Fremde und Andere in der LektĂŒre nicht zu assimilieren und damit einhergehend vorgefundenen Sinn lediglich zu rekonstruieren, sondern aus dem Bestehenden etwas Neues und aus dem Vorhandenen einen Vorgriff auf etwas Nichtvorhandenes zu generieren (vgl. Brinkmann, 2014, 200ff.). âEine unmittelbare Sicht auf Lernen ist uns versagtâ, so KĂ€te Meyer-Drawe (1996, 89). Einerseits entfernen wir uns in der LektĂŒre von den lebendigen ErfahrungsvollzĂŒgen, die in der Vignette anhand von konkreten Handlungen beschrieben werden, andererseits kann erst in der Distanz zu diesen, in der nachtrĂ€glichen und perspektivistischen Reflexion des Geschehens, ein neuer Sinn gestiftet werden. Es sind gerade diese Grenzen pĂ€dagogischen Verstehens, welche einen Ăberschuss freisetzen und damit die ProduktivitĂ€t und Revision von le...