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the whole wide world is watchin'
Musik und Jugendprotest in den 1960er Jahren - Bob Dylan und The Grateful Dead
- 364 pages
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Musik und Jugendprotest in den 1960er Jahren - Bob Dylan und The Grateful Dead
About this book
An den Wendepunkten der Geschichte werdenMythen geboren. Leidenschaft und Verwirrungsind meist so groĂ, dass erst spĂ€ter, wennder Staub sich gelegt hat, sichtbar wird, wasgeschah. Vorausgesetzt, wir erinnern uns noch.Dieses Buch fĂŒhrt zurĂŒck an einige der Orte, an denen die Jugendrevolte begann â langevor 1968: in die Kellergewölbe des New YorkerGreenwich Village und die viktorianischenVillen von Haight Ashbury. Es wandert durchdie Geschichte sozialer Bewegungen undPopulĂ€rkulturen, um einer Frage nachzuspĂŒren: Wie war es möglich, dass Musik ins Zentrumeiner gesellschaftlichen UmwĂ€lzung rĂŒckte âund mit ihr ein schattenhafter junger KĂŒnstler, der vieles war und sein wollte, nur keinSprecher einer Bewegung oder Generation.
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Information
1 EINLEITUNG
Thereâs a time when the operation of the machine becomes so odious, makes you so sick at heart, that you canât take part. You canât even passively take part. And youâve got to put your bodies upon the gears and upon the wheels, upon the levers, upon all the apparatus, and youâve got to make it stop. And youâve got to indicate to the people who run it, to the people who own it, that unless youâre free, the machine will be prevented from working at all! Mario Savio (Berkeley 1964)1
FOLK- UND ROCKMUSIK: KRISTALLISATIONSPUNKT DER âGROSSEN WEIGERUNGâ
Versetzen wir uns zu Beginn einen Moment zurĂŒck ins Jahr 1967: Das Monterey-Festival nahe San Francisco hat soeben den âSummer of Loveâ eingelĂ€utet. Die Studentenbewegung gewinnt seit mindestens drei Jahren kontinuierlich an Kraft â nicht nur im nahe gelegenen Berkeley, wo sie mit den âFreedom Ridesâ gegen die âRassensegregationâ im SĂŒden und dem âFree Speech Movementâ ihren Anfang genommen hatte. Ein groĂer Teil der amerikanischen BĂŒrgerrechtsbewegung schlieĂt sich unter Martin Luther King den Vietnamkriegs-Protesten an und kĂ€mpft im BĂŒndnis mit Gewerkschafter_innen nun auch fĂŒr höhere Löhne und eine grundlegende UmwĂ€lzung der EigentumsverhĂ€ltnisse. Nachdem die meisten Kolonialregime bereits unter dem Druck der Befreiungsbewegungen gefallen sind, attackiert eine jĂŒngere Generation schwarzer Aktivist_innen unter dem Slogan âBlack is beautiful!â und der Forderung nach âBlack Powerâ die rassistischen Imaginationen der Mehrheitsgesellschaft und schĂŒttelt so, wenigstens fĂŒr einen historischen Augenblick, die kollektive Erfahrung Jahrhunderte wĂ€hrender Erniedrigungen ab. Der Funke der Revolte springt nach Europa ĂŒber. In Berlin löst der tödliche Schuss auf den Studenten Benno Ohnesorg eine rasche Ausweitung und Radikalisierung der Proteste aus. Auch jenseits des âeisernen Vorhangsâ gĂ€rt es: In der Tschechoslowakei brechen Studentenproteste los, erste Vorboten des âPrager FrĂŒhlingsâ. Noch sind die Hoffnungen auf fundamentalen Wandel lebendig. Erst im darauf folgenden Jahr, dem fĂŒr den Westen turbulentesten in der zweiten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts, werden die sozialen Bewegungen schwere RĂŒckschlĂ€ge erleiden â u. a. durch politische Morde, Repression und wachsende Militanz, in den USA auch durch einen politischen Rechtsruck infolge der Wahl von Richard Nixon. Die von Nationalgarden blutig niedergeschlagenen Unruhen in den vorwiegend von Schwarzen bewohnten Ghettos der US-Metropolen lassen diese Perspektive eines neokonservativen und schlieĂlich neoliberalen Rollbacks nur erahnen. Erst im Verlauf der 1970er Jahre wird sich dieser Entwicklungspfad, ĂŒber zahlreiche KĂ€mpfe und alternative Suchbewegungen hinweg, allmĂ€hlich verfestigen.
In jenem Jahr 1967, auf dem Höhe- und Umschlagspunkt der sozialen Bewegungen in den USA, erscheint die erste Ausgabe des Rolling Stone â damals noch ein gemĂ€Ăigtes Organ der Alternativöffentlichkeit der Gegenkulturen. In dessen programmatischem Editorial schreibt Jann S. Wenner:
Die Rockmusik ist das Energiezentrum aller Arten von VerĂ€nderung, die sich rapide um uns entfalten: sozial, politisch, kulturell und wie immer man es beschreiben will. Tatsache ist, dass fĂŒr viele von uns, die nach dem zweiten Weltkrieg aufwuchsen, der Rock den ersten revolutionĂ€ren Einblick in uns selbst lieferte. (Zitiert nach Wicke 2004, S. 129)
Man mag den euphorischen Ăberschwang und das Pathos dieser Huldigung des Rock heute, wo dieses leicht angestaubte Genre zum Mainstream gehört und nicht selten mit narzisstischem, mĂ€nnlichem Potenzgehabe assoziiert wird, belĂ€cheln. Und doch fĂ€ngt das Zitat die enorme symbolische Aufladung dieser damals noch sehr jungen Musik treffend ein. Rockmusik erscheint nicht nur als markantester Ausdruck des kollektiven BedĂŒrfnisses nach radikaler VerĂ€nderung sowohl der Gesellschaft als auch der eigenen Person. Sie vermittelt vielmehr âEinblickâ, gilt als elementare Form der Erkenntnis und Kristallisationspunkt der âgroĂen Weigerungâ (Marcuse).
Auch innerhalb der Bewegungsforschung wird mit Blick auf die, vor allem von jungen Menschen getragenen, Proteste der 1960er Jahre die zentrale Funktion der Musik fĂŒr die ReprĂ€sentation geteilter Erfahrungen und damit die Konstruktion âkollektiver ProtestidentitĂ€tenâ betont.2 So lautet etwa die, in diesem Falle allerdings vor allem auf das Folk-Revival3 bezogene, These von Ron Eyerman und Andrew Jamison:
During the early to mid-1960s the collective identity of what was later called The Movement was articulated not merely through organisations or even mass demonstrations, although there were plenty of both, but perhaps even more significantly through popular music. (Eyerman/Jamison 1995, S. 452)
Das AusmaĂ, in dem in den 1960er Jahren Musik ins Zentrum einer gesellschaftlichen Umbruchkonstellation rĂŒckte, dĂŒrfte fĂŒr die westlichen Gesellschaften historisch beispiellos sein. Norbert Frei stellt in seiner zum JubilĂ€umsjahr 2008 erschienen Studie ĂŒber â1968â sogar fest: Musik war âdie ohne jeden Zweifel wichtigste kulturelle Artikulationsform und Antriebskraft des Jahrzehntsâ (Frei 2008, S. 63).
Dies wirft weit reichende Fragen zum Charakter und historischen Stellenwert der Jugendrevolten der 1960er Jahre und der sie reprÀsentierenden Musik auf. Einigen dieser Fragen geht die vorliegende Arbeit nach.
Parallelen und VerknĂŒpfungen zwischen der Entstehung des Folk-Revivals und der Rockmusik einerseits und politisch-kulturellen Orientierungen und Aktionen der sozialen Bewegungen andererseits sind vielfach herausgearbeitet worden â vor allem durch den Nachweis inhaltlicher und personeller Ăberschneidungen.4 Dabei wird immer wieder auf die Rolle der Musik als Verbreitungsmedium der âkognitiven Praxisformenâ der sozialen Bewegungen hingewiesen. ZunĂ€chst der sozialkritische Folk und ab Mitte des Jahrzehnts vor allem die Rockmusik wirkten demnach als Katalysatoren der Proteste, akustische âBrandbeschleunigerâ, welche die verbindenden Leitideen und ErzĂ€hlungen der sozialen Bewegungen in eine hoch emotionalisierte musikalische Form ĂŒbersetzten und sie damit weit ĂŒber den harten Kern der politisch Aktiven hinaus popularisierten. Entsprechende Analysen konzentrieren sich in der Regel auf die explizite Artikulation von normativ gehaltvollen Deutungsweisen und Forderungen der sozialen Bewegungen durch Musiker_innen. Zugleich zeigen sie, inwieweit letztere in- und auĂerhalb der Bewegungsöffentlichkeiten als herausragende ReprĂ€sentant_innen etwa des Kampfes gegen Rassismus und den Vietnamkrieg oder als Personifikation von Ausstiegsphantasien wahrgenommen wurden. Songtexte, AuffĂŒhrungs- und Rezeptionskontexte oder verbalisierte Deutungsweisen in der Alternativ- oder Mainstreamöffentlichkeit geraten damit ins Blickfeld der Forschung. Auf diese Weise lĂ€sst sich empirisch nachweisen, dass die Musik der aufbegehrenden Jugendlichen damals als unmittelbar politisch empfunden wurde und zentral war fĂŒr die Ausgestaltung kollektiver ProtestidentitĂ€ten.
Die weitergehende Frage, wieso gerade Musik (und wieso gerade diese Musik) vor vierzig Jahren eine symbolische Bedeutung erlangen konnte, die heutzutage selbst hoch politisierte Liebhaber_innen der Rock- und Folkmusik zu irritieren vermag, kann auf diesem Wege jedoch nicht wirklich geklĂ€rt werden. Genauso wenig lĂ€sst sich bestimmen, in welcher Weise die Fokussierung auf spezifische musikvermittelte Vergemeinschaftungsformen die sozialen Bewegungen und Gegenkulturen prĂ€gte und damit den Lauf der Geschichte nachhaltig beeinflusste. Der Nachweis, dass die Songs populĂ€rer Bands faktisch als Mittel des Aufbegehrens eingesetzt und wahrgenommen wurden, mĂŒsste ergĂ€nzt werden durch den Versuch einer historisch und theoretisch weiter ausgreifenden und zugleich exemplarisch in die Tiefe gehenden Deutung des VerhĂ€ltnisses von Musik und politisch-kulturellem Protest. Hierzu einen Beitrag zu leisten, ist eine Hauptintention der vorliegenden Arbeit.
ZEITENWENDE DAMALS UND HEUTE: DAS GEGENWĂRTIGE IM ERINNERTEN UND DER âTRAUM VON EINER SACHEâ
Meine Untersuchung zielt zugleich auf eine, als dezidiert politisch verstandene, Erinnerungsarbeit. Das im kollektiven GedĂ€chtnis tradierte Bild der Gegenkulturen der 1960er Jahre ist Gegenstand anhaltender DeutungskĂ€mpfe. NachtrĂ€gliche Entwicklungen, Konflikte und Ideologien der Gegenwart filtern unseren Blick auf das Vergangene, geben ihm eine je spezifische, meist unreflektierte Tönung. Das ist immer so. Aber nur selten tritt das GegenwĂ€rtige im Erinnerten so scharf hervor, macht sich in so hitzigen Kontroversen geltend, wie in diesem Fall. Die 1960er Jahre und ihre Musik sind uns auf eigentĂŒmliche Weise nah â vielleicht zu nah, um sie nĂŒchtern zu betrachten. Das gilt auch fĂŒr Nachgeborene wie mich, zumindest dann, wenn sie im Umfeld der Neuen Sozialen Bewegungen und der aus ihnen hervorgegangenen Milieus sozialisiert wurden, wenn sie die KlĂ€nge der Revolte schon als Kind aus der Stereoanlage der Eltern gehört haben.
Mit diesem Hinweis soll mein wissenschaftlicher Anspruch nicht relativiert werden. Vielmehr denke ich, dass die Suche nach einer quasi unparteiischen Diagnose, mit der die vergangenen KĂ€mpfe âzu den Akten gelegtâ werden könnten, eine falsche Zielstellung wĂ€re. Die Arbeit des Verstandes muss das eigene emotionale involviert Sein und den unauflöslichen Konfliktcharakter der Geschichtsschreibung transparent machen, ihre normativen MaĂstĂ€be hinterfragen und ggf. neu justieren, statt sie zu verwerfen bzw. schlechterdings zu leugnen. FĂŒr mich heiĂt das vor allem: Der emanzipatorische Gehalt der damaligen Bewegungen soll ein StĂŒck weit freigelegt und zugleich in seinen historischen Grenzen reflektiert werden.
Das scheint mir heute, mitten in einer neuerlichen groĂen Krise und Transformation des Kapitalismus, in besonderem MaĂe geboten (vgl. hierzu insbesondere Kapitel 5.1). Die sozialen Bewegungen stellen wieder unĂŒberhörbar die Systemfrage, sie fordern einen radikalen Bruch mit den etablierten Institutionen, um âechte Demokratieâ möglich zu machen. Sie beginnen, ihre Zeit wieder als eine zu begreifen, in der die Weichen neu gestellt werden. Als die Aktivist_innen von Occupy Wallstreet im Herbst 2011 die Brooklyn Bridge blockierten und ihre Massenverhaftung eine globale Welle der SolidaritĂ€t auslöste, da riefen sie einen Slogan, der schon 1968 zu hören war. Damals ging er von den gewaltsam niedergeschlagenen Protesten anlĂ€sslich des Demokratischen Parteitages in Chicago aus. Nach der Ermordung des PrĂ€sidentschaftskandidaten Robert Kennedy wurden dort die Hoffnungen auf politischen Wandel begraben. Seiter hat sich dieser Slogan in die Protestgeschichte eingeschrieben. Er war auch 1999, als die globalisierungskritische Bewegung mit der Blockade der WTO-Konferenz in Seattle ihren Durchbruch erreichte, zu hören. Er lautet: âThe whole world is watchingâ.
Dieser Ausruf drĂŒckte in der Geschichte der sozialen Bewegungen immer wieder das Bewusstsein fĂŒr einen historischen Moment aus, jenen Augenblick, in dem sich viele Menschen gemeinsam und zugleich als je Einzelne entschieden, ihre Körper in einem Akt des zivilen Ungehorsams der Gewalt der Herrschenden entgegenzustellen, eben weil sie wussten oder wenigstens hofften, dass die Blicke der Welt auf sie gerichtet waren und ihr Beispiel so etwas wie einen ethisch-moralischen Schock auszulösen vermochte. Den wenigsten jungen Aktivist_innen unserer Tage dĂŒrfte bewusst sein, dass es sich bei diesem Slogan um die Abwandlung der Zeile aus einem Folk-Song handelt, einem Lied, das ein junger, der gröĂeren Ăffentlichkeit noch kaum bekannter SĂ€nger beim Marsch auf Washington 1963, dem Höhepunkt der BĂŒrgerrechtsbewegung, vortrug, direkt neben Martin Luther King, der an selber Stelle seine historische Rede unter dem Titel I Have A Dream hielt. Der Name dieses SĂ€ngers war Bob Dylan.
Anders als die damaligen Bewegungen, die die Zeit auf ihrer Seite wĂ€hnten, stehen die Aktivist_innen von heute (wenigstens in Europa und den USA) mehr oder weniger bewusst mit dem RĂŒcken zur Wand â politisch, aber auch kulturell: Ihr revolutionĂ€res SelbstverstĂ€ndnis wirkt nicht nur angesichts der faktischen KrĂ€fteverhĂ€ltnisse etwas tollkĂŒhn. Problematischer noch erscheint mir, dass diesem radikalen politischen Anspruch auf der Ebene des Alltagsbewusstseins oft nur ein schwacher Sinn fĂŒr das entspricht, was einmal als âkonkrete Utopieâ bezeichnet wurde: Die in AnsĂ€tzen schon gelebte, statt bloĂ abstrakt postulierte Ăberzeugung, dass eine ganz andere Art des Zusammenlebens, des Denkens und FĂŒhlens, wirklich möglich ist â eine Gesellschaft, in der die je besonderen Handlungs- und Empfindungsweisen eines jeden Menschen bedeutsam sind und die nicht als fernes Paradies oder beschauliches Ăkodorf erscheint, sondern als der âTraum von einer Sacheâ, die bei allem Irrsinn der kapitalistischen Moderne erstmals in der Menschheitsgeschichte zum Greifen nahe liegt und von der die Welt, wie der junge Marx einst schrieb, ânur das Bewusstsein besitzen muĂ, um sie wirklich zu besitzen.â (Marx 1976, S. 346)
TrĂ€umen heiĂt immer, sich erinnern. Oder genauer: Das Erlebte in der Phantasie neu zusammenfĂŒgen. Das geschieht oft scheinbar willkĂŒrlich, dient aber immer der Verarbeitung und Integration auseinanderstrebender Erfahrungen. Manchmal helfen TrĂ€ume, VerdrĂ€ngtes zu Bewusstsein zu bringen oder die eigenen WĂŒnsche und BedĂŒrfnisse zu klĂ€ren. Sie können dazu beitragen, etwas in Zukunft vielleicht Mögliches vorzustellen. Um Erkenntnisse und VerĂ€nderungen in der Welt der Wirklichkeit zu bewirken, bedĂŒrfen TrĂ€ume allerdings der nachtrĂ€glichen Reflexion. Ohne die rĂŒckblickende Analyse des wachen Verstandes bleibt der ertrĂ€umte Möglichkeitssinn diffus und irrational. Umgekehrt wird noch der klĂŒgste Geist, dem die FĂ€higkeit zu trĂ€umen verloren gegangen ist, krank und destruktiv. Den Schleier zwischen beiden Welten zu lĂŒften, das Vergessen nach dem schweren Erwachen im Morgengrauen zu ĂŒberbrĂŒcken bleibt ein schwieriges, aber gerade in der Krise heilend wirkendes Projekt â das gilt auch fĂŒr die TrĂ€ume und Reflexionen in der Geschichte sozialer Bewegungen.
In einer Zeit, die trotz neuer Massenproteste durch verbreitete GefĂŒhle der Ohnmacht und Entfremdung geprĂ€gt ist, gilt es, sich eine verschĂŒttete Erinnerung an vergangene KĂ€mpfe neu anzueignen. Dazu mĂŒssen wir uns nicht nur historische Ereignisse, Strukturen und Ideen vergegenwĂ€rtigen, sondern vor allem eine spezifische kollektive Erfahrung. Und diese Erfahrung ist in der Musik der rebellischen Jugendkulturen vermutlich auf prĂ€zisere und subtilere Weise eingefangen als in jedem anderen Medium. Die damals ĂŒberkochenden GefĂŒhle und ihre historischen GrĂŒnde klingen im kollektiven Unterbewussten nach. Sie können durch gedankliche und emotionale Grabungsarbeiten wenigstens teilweise als noch heiĂe Glut unter den verhĂ€rteten Schichten der hegemonialen Erinnerungskultur freigelegt werden. Die nur partiell realisierte und (vorlĂ€ufig) wieder verlorene Ahnung einer reicheren menschlichen Existenzform, die ganz wesentlich in der Musik kristallisiert ist, soll durch eine historische Deutung neu angeeignet werden. Das ist der politische â und wenn man so will auch Ă€sthetische â Sinn dieses Buches.
Ein erster Schritt zur Erinnerung dieses Erbes besteht darin, dem eigenen wie dem kollektiven GedĂ€chtnis zu misstrauen, sich also bewusst mit den klischeebehafteten Bildern, die heute in den hegemonialen Diskursen von den Gegenkulturen der 1960er Jahre kursieren, auseinanderzusetzen. Denn mit Blick auf die so genannte 68er-Bewegung und dabei im Speziellen die Rockmusik und andere kulturelle Artikulationsformen der Jugendrevolte dominiert in Sozialwissenschaften und Ăffentlichkeit eine affirmative Perspektive: Demnach bildeten die Gegenkulturen letztlich nicht mehr als eine Art StoĂtrupp fĂŒr die Durchsetzung individualistischer und hedonistischer Werte. Dies wurde in den 1980er und 1990er Jahren in der Soziologie zunĂ€chst ĂŒberwiegend als Ausdruck einer schönen neuen âErlebnisgesellschaftâ (Schulze) begrĂŒĂt.5 In den massenmedialen und alltagskulturellen Sechziger-Jahre-Revivals findet sich diese Sicht hĂ€ufig in Form einer banalisierenden Rekonstruktion von Fragmenten der Gegenkulturen, die als Lifestyle-Accessoires angeboten werden: Lange Haare, Batik-Klamotten, Drogen und sexuelle Befreiung, allgemein eine Liberalisierung der Umgangsformen und eine Ăsthetisierung des Alltagslebens: Alles wird âschön bunt und irgendwie lockererâ. War da â abgesehen von K-Gruppen-Orthodoxie und natĂŒrlich den Gewaltexzessen der RAF â sonst noch etwas?
In der Soziologie, den Geschichtswissenschaften und der (vor allem biographisch-subjektiv geprĂ€gten) Publizistik erscheinen die mit â1968â assoziierten Liberalisierungstendenzen des âWertewandelsâ heute â nach der exzessiven Ăkonomisierung kreativer EntfaltungsbedĂŒrfnisse und im Angesicht einer Systemkrise des deregulierten Kapitalismus â nicht selten in einem anderen, weniger freundlichen Licht: Abgesehen von mystifizierten Vorst...
Table of contents
- Cover
- Titel
- Impressum
- INHALT
- Vorwort
- 1 Einleitung
- 2 Eingrenzungen
- 3 Kulturtheoretische Ausgangspunkte
- 4 Thesen und Perspektiven zu â1968â und Rockmusik: Eine kritische Rekapitulation
- 5 SubjektivitĂ€t und Ăffentlichkeit: Historische Entwicklungslinien
- 6 Rock- und Folkmusik als Gegenöffentlichkeit in den 1960er Jahren: Kontroverse AnnÀherungen
- 7 The Grateful Dead: ââŠallowing us to meld our consciousnesses togetherâ
- 8 Bob Dylan und das authentische Spiel mit Masken
- 9 Fazit
- Literatur- und Quellenverzeichnis