1. Einleitung
Wer schon einmal einen TĆkyĆ-ReisefĂŒhrer zur Hand genommen hat, kennt das als 'schrilles' Modeviertel beworbene Harajuku. Mit einer nahezu professionellen FotoausrĂŒstung, ohne die heutzutage kaum ein Reisender1 auszukommen scheint, begibt sich der Tourist auf die Jagd nach ebenso bunten Bildern, wie er ihnen bereits zuvor in seinen Recherchen begegnet ist. Am Ziel stellt er fest, dass die Takeshita DĆri von AuslĂ€ndern in Turnschuhen und kurzen Hosen bevölkert wird; und die BrĂŒcke, an der sich vermeintlich jeden Sonntag die 'verrĂŒckt' gekleideten Jugendlichen treffen, scheint â sehen wir von den Touristen selbst ab â ebenfalls leer. Der Tourist ist auf der Suche nach Motiven, die er aber nicht kennt und nicht zu deuten weiĂ. Deshalb begnĂŒgt er sich mit dem Hello Kitty-HandyanhĂ€nger im Lolita-Look. Er ahnt nicht, dass sich die von ihm gesuchte Szene nur wenige FuĂminuten weiter trifft, im Schutz des groĂen Kaufhauses La Foret oder in einem der vielen LĂ€den in den schmalen Seitengassen. Auf der Omote SandĆ posieren Lolitas und andere 'aufgebrezelte' Jugendliche vor groĂen Kameralinsen, doch diese Fotos landen nicht in irgendeinem der Flickr-Accounts2 fĂŒndig gewordener Touristen. Die MĂ€dchen posieren fĂŒr Modemagazine, um die sich weltweit Trendscouts reiĂen. Harajuku ist zum Inbegriff der Street Fashion geworden. Japan hat dieses PhĂ€nomen erkannt und reagiert: Das Auslandsministerium benannte am 25. Februar 2009 drei junge Damen aus dem Modeumfeld zu âKawaii Ambassadorsâ [niedliche Botschafterinnen], um fĂŒr Japans stetig wachsende Popkultur weltweit zu werben. Auserkoren wurde u. a. Aoki Misako, ein bekanntes Model der Gothic & Lolita Bible (im Folgendem: G&LB),3 der fĂŒhrenden Zeitschrift fĂŒr Liebhaberinnen der Gothic- und Lolita-Mode, die inzwischen JahresumsĂ€tze von 20 Mrd. Yen (ca. 180 Mio. Euro) erzielt.4 Im Gegenzug zu den Botschafterinnen, die die Street Fashion im Ausland vertreten sollen, prĂ€sentieren sich internationale Popstars wie Katy Perry und Lady Gaga bei ihren Japanbesuchen von Kopf bis FuĂ im Lolita-Stil. Die Mode ist damit nicht nur eine Randerscheinung, die als eine weitere KuriositĂ€t aus Japan gelten könnte â nein, sie erreicht ein weltweites Publikum und internationale Beachtung.
Es sind Frauen, die aussehen wie Porzellanpuppen und in ihren ĂŒppig berĂŒschten, zugeknöpften Kleidern fast alterslos erscheinen. Voreilige SchlĂŒsse ĂŒber eine frauenfeindliche, unemanzipierte Mode und RealitĂ€tsflucht lĂ€gen verlockend nahe, doch was verrĂ€t uns die gröĂte Szenezeitschrift Gothic & Lolita Bible ĂŒber diese Menschen?
Die Zeitschrift ist ein Medium, welches sich besonders zur Analyse von Mode und Szenekultur eignet. Sie ermöglicht es, verschiedene Ebenen zu betrachten, die bei einer Untersuchung berĂŒcksichtigt werden können. Werbeanzeigen zeigen und erzeugen BedĂŒrfnisse, Models geben Leitbilder ab, Artikel wecken das Interesse fĂŒr bestimmte Themen, Anleitungen lehren, wie was richtig gemacht wird, und Sprache zeigt, wer wie angesprochen wird. Was diese Mode ist, was sie zum Ausdruck bringt, was die dazugehörige Szene ausmacht und was das fĂŒr Menschen sind, sind die Fragen, die mich in dieser Arbeit beschĂ€ftigen und die ich am Ende beantworten werde.
1.1 Untersuchungsgegenstand und Fragestellung
Gegenstand dieser Arbeit ist die Szenekultur der Lolitas, wie sie im japanischen Printmedium G&LB dargestellt wird. ZunĂ€chst wird der Begriff âSzenekulturâ genauer untersucht und definiert. Anhand wiederkehrender Thematik, Bildinszenierung und sprachlicher Besonderheiten in der G&LB soll eine Landkarte des Lebensstils und -inhalts der Lolita-Szene erstellt werden, um das PhĂ€nomen greifbar und verstĂ€ndlich zu machen. Mein Ziel ist es, zukĂŒnftige Forscher fĂŒr die ausgeprĂ€gte Symbolwelt zu sensibilisieren, die diese Szene prĂ€gt, um einer der Wirklichkeit nicht gerecht werdenden Trivialisierung â speziell dieser â japanischen AusprĂ€gung der Popkultur entgegenzuwirken. Hieraus erschlieĂt sich meine Fragestellung: Wie sieht die Szenekultur der Lolitas nach Auffassung der Gothic & Lolita Bible aus?
1.2 Forschungsstand
Die Fachliteratur zum PhĂ€nomen der Lolita-Mode ist, gelinde gesagt, ĂŒberschaubar. Es gibt durchaus Modetheoretiker, die sich dem Thema angenĂ€hert haben, jedoch ist die Datenlage, auf die sie sich beziehen, dĂŒrftig. Dr. Noriko Onohara, Dozentin an der HyĆgo UniversitĂ€t in Japan, schreibt derzeit an einem Buch ĂŒber Vivienne Westwood, Gothic Lolita und UnterwĂ€sche. Einige ihrer AufsĂ€tze ĂŒber dieses Thema finden sich auch auf ihrer Internetseite. Es zeigt sich, dass ihre Quelle aus einigen befreundeten TrĂ€gerinnen von Lolita-Mode besteht. Untersuchungen der Szene, die ĂŒber die Feldforschung hinausgehen, wurden bisher nicht von ihr vorgenommen. Ăber ihre Faszination fĂŒr die britische Designerin Vivienne Westwood ist sie auf die Lolita-Mode aufmerksam geworden, jedoch interessiert sie sich mehr fĂŒr die BekleidungsgegenstĂ€nde und deren Herkunft als fĂŒr die dazugehörige Szene (ONOHARA 2006a).5 Ihr Vortrag âRomantic European Nostalgia and Japanese âGosuroriâ Fashionâ, welchen sie am 27. September 2009 auf der 1st Global Conference: Fashions â Exploring Critical Issues in Manchester hielt,6 bietet dennoch einige nĂŒtzliche Erkenntnisse aus ihren bisherigen Forschungen. Sie behauptet zwar, dass sich die Lolita-Mode im Westen bereits als Forschungsobjekt etabliert hĂ€tte,7 jedoch sind diese westlichen ForschungsbeitrĂ€ge bisher sehr eingeschrĂ€nkt und fokussieren auf die Beschreibung des PhĂ€nomens und dessen Verbreitung im Westen.
Die G&LB blieb bisher nur genannt und wurde selbst noch nicht untersucht. Matsuura Momo, die ihr PĂ€dagogikstudium an der Yokohama National University absolviert hat, ist dagegen selber bereits seit 2002 dem Reiz der Lolita-Mode verfallen und prĂ€sentierte 2007 ihr Buch sekai to watashi to rorÄ«tafasshon [Die Welt, Ich und Lolita-Mode], welches sich vor allem mit der Entstehungsgeschichte und Entwicklung der Lolita-Mode befasst. Dabei stĂŒtzt sie sich stets auf den Schriftsteller Takemoto Nobara, der diverse Romane zum Thema Lolita geschrieben hat. Auch Ueda YĆ«ko, die als freie Schriftstellerin und Redakteurin an diversen Projekten arbeitet, befasste sich mit den zahlreichen 'Regeln', welche mit der Lolita-Mode verbunden sind. Daraus resultierten ihre beiden lexikonĂ€hnlichen Werke rorÄ«ta ishĆdĆraku â Lolita Fashion Fancier I und II, die jeweils 2005 bzw. 2006 erschienen. Mit der ReprĂ€sentation von Lolita-Mode in den Medien befasst sich nur Matsuura peripher, wobei er sich dabei lediglich auf die Nennung einiger Medien, wie der G&LB, beschrĂ€nkt.
Die Analyse von Mode und Darstellungen in Zeitschriften ist freilich nicht neu. Auf diesem Feld finden sich viele wissenschaftliche AufsĂ€tze, die Inhalte, Werbung, Schönheitsideale und Rollenstereotype der Frau untersucht haben. Ochiai Emiko, Professorin fĂŒr Soziologie an der Graduate School of Letters der KyĆto UniversitĂ€t, untersuchte Darstellungen von Frauen in japanischen Zeitschriften verschiedener Epochen in ihrem Aufsatz âDecent Housewives and sensual white women â representations of women in postwar japanese magazinesâ (1997). Auch Tanaka Keiko, ebenfalls Professorin fĂŒr Soziologie an der University of Kentucky, prĂ€sentierte im Jahr 2000 eine Abhandlung zum gleichen Thema: âJapanese Women's Magazines â the language of aspirationâ. Beide waren fĂŒr meine Analysearbeiten ausschlaggebend. In ihrem 2006 erschienenen Buch Beauty Up: Exploring Contemporary Japanese Body Aesthetics beschreibt die Professorin fĂŒr Anthropologie Laura Miller u. a., wie die japanische Kosmetikindustrie funktioniert und wie welche Schönheitsideale entstanden sind. Dabei geht sie auch auf mĂ€dchenhafte Szenen ein, die in den 1990er Jahren aufkeimten.
DarĂŒber hinaus gibt es Forschungen, die sich mit der in Japan verbreiteten, niedlichen Ăsthetik in vielen Bereichen befassen, aber nicht in Bezug auf Lolita-Mode oder andere speziell japanische, modische AusprĂ€gungen. Mit meiner Diplomarbeit beschreite ich demnach aus wissenschaftlicher Sicht neue Wege, was sich letztlich auch in einem hohen Anteil an Eigenleistung niederschlĂ€gt. Werke, die fĂŒr meine Methodik und mein Vorgehen grundlegend sind, möchte ich im Folgenden vorstellen.
1.3 Methode
Bevor ich mich mit dem Begriff der Szenekultur auseinandersetze, habe ich untersucht, was Lebensstil bedeutet und aus welchen Komponenten er besteht. Pierre Bourdieu beschreibt in seinem Werk Die feinen Unterschiede â Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft verschiedene Merkmale zur Bestimmung von Geschmack und Lebensstil. Neben Bildung und Einkommen spielen dabei Mode, Wohnungseinrichtung, Kunst, Musik, Literatur, Freizeitgestaltung und Essen eine Rolle (BOURDIEU 1987: 212-213). Anhand dieser Merkmale werde auch ich ein genaues Bild vom Geschmack und Lebensstil der Lolitas erstellen können.
Um meine Untersuchung der G&LB zu unterstĂŒtzen, benutze ich neben Bourdieus Lebensstilkonzept auch Vorgehensweisen, Methoden und Ergebnisse aus den Bereichen der visuellen Soziologie und der Marktforschung, wie sie in Bezug auf (japanische) Zeitschriften u. a. von Tanaka Keiko, Ochiai Emiko und Helen Kopnina â die sich selbst mit der Analyse von kulturellen Inhalten beschĂ€ftigt haben â veröffentlicht wurden. FĂŒr die Bildanalyse verwende ich die von Erving Goffman â und spĂ€ter auch von Ueno Chizuko in sekushi gyaru no daikenkyĆ« [Die groĂe Studie der Sexy Girls] (1. Auflage 1981) â in Gender Advertisement (1. Auflage 1976) angewandten Methoden.
Doch wie kommen Bekleidung und Lebensstil zusammen? Die Modeindustrie hat unbestreitbar einen gewaltigen Einfluss auf die Ausbildung der Persönlichkeit. Sie schafft die Möglichkeit, in eine andere HĂŒlle zu schlĂŒpfen, mit der wir uns dann von anderen Stilen unterscheiden können (KOPNINA 2005: 378). Mode bestimmt sogar, wie diese Stile auszusehen haben. Und zwar dadurch, dass sie durch die Medien allgegenwĂ€rtig unsere Sinne stimuliert. Modezeitschriften gelten als die Stimme der Modeindustrie. Neben der OberflĂ€che, die aus Werbung und Neuheiten besteht, sind sie auch kulturelle Objekte, die den kulturellen Zeitgeist sowohl visuell als auch textlich widerspiegeln (KOPNINA 2005: 369).
FĂŒr Joanne Entwistle, promovierte Modesoziologin am London College of Fashion, besitzt Kleidung sowohl die FĂ€higkeit, die eigene IdentitĂ€t zu zeigen, als auch die Möglichkeit sie zu verhĂŒllen. Dahinter stehen einerseits das Verlangen, sich selbst treu zu sein sowie die Suche nach AuthentizitĂ€t, andererseits das Spiel mit dem KĂŒnstlichen und der eigenen Optik. Das, was mit der Bekleidung letztendlich nach auĂen getragen wird, ist sowohl eine Mischung aus natĂŒrlichen und authentischen als auch konstruierten und (selbst) stilisierten Elementen (ENTWISTLE 2000: 112-113). Goffman unterscheidet in seinem 1959 verfassten Werk Wir alle spielen Theater â Die Selbstdarstellung im Alltag zwischen Erscheinung und Verhalten, und spricht sogar von einer Maske, die einen Menschen erst zu einer Person werden lĂ€sst (GOFFMAN 2010: 21; 25) Diese Erscheinung kann, Ă€hnlich wie die konstruierten Elemente bei Entwistle, strategisch eingesetzt werden. Welchen Inhalt wir unserer ProjektionsflĂ€che, die die Bekleidung ausmacht, geben, steht uns frei. Es gibt viele mögliche AusprĂ€gungen und Inspirationsquellen: Eine Quelle, die uns einen Blick in die Seele einer bestimmten Szenekultur8 gewĂ€hrt, ist die Szenezeitschrift, in diesem Falle die G&LB. Allein an dem von den Machern kreierten Namen zeigt sich schon, wie wichtig diese Zeitschrift fĂŒr AnhĂ€ngerinnen dieses Stils ist: Sie ist die Bibel der Lolitas.
Um ein möglichst vollstĂ€ndiges Bild der Szenekultur der Lolitas erschlieĂen zu können, unterscheide ich verschiedene Ebenen, die untersucht, kategorisiert und analysiert werden. Da es sich um eine Zeitschrift handelt, die zum Zeitpunkt dieser Arbeit bereits 38 Ausgaben und diverse Sonderausgaben zĂ€hlt, beschrĂ€nke ich mich auf die Ausgaben 01, 06, 11, 16, 21, 26, 31 und 36. So erhalte ich einen guten Inhaltsquerschnitt und kann mögliche VerĂ€nderungen, die sich ĂŒber einen lĂ€ngeren Zeitraum ergeben haben, besser verfolgen. Meine Datengrundlage formen die Artikel, Fotostrecken und Textpassagen, sodass es mir optimal möglich ist, jeden Aspekt der Szenekultur untersuchen zu können. Anhand der Ergebnisse, die mir durch die Sammlung von Merkmalen aus diesen verschiedenen Ebenen zur VerfĂŒgung stehen, ist es mir möglich, eine prĂ€zise Aussage bezĂŒglich meiner Fragestellung zu treffen. HierfĂŒr verwende ich die qualitative Analyse, gestĂŒtzt auf quantitative Betrachtungen.
1.3.1 Inhaltsanalyse
Eine genaue Analyse der verschiedenen Themenbereiche, die in den Artikeln zur Geltung kommen sowie des inhaltlichen Aufbaus der Zeitschrift soll zeigen, an welchen Stellen identitĂ€tsstiftende Inhalte vermittelt werden und auf welchem Wege das Lebensstil-Konzept vermarktet wird. In Kapitel 4.1 âInhaltâ wird zunĂ€ch...