Mit dem Tod leben
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Mit dem Tod leben

Kinder achtsam in ihrer Trauer begleiten - Ein Ratgeber für verwitwete Eltern

Miriam Haagen

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  1. 100 pages
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Mit dem Tod leben

Kinder achtsam in ihrer Trauer begleiten - Ein Ratgeber für verwitwete Eltern

Miriam Haagen

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Nach dem Tod des Partners sind Eltern alleinerziehend wider Willen. Neben der eigenen Trauer um den geliebten Menschen sind sie mit den Reaktionen ihrer Kinder auf den Verlust eines Elternteils beschäftigt und nicht selten damit belastet. "Woran erkenne ich, ob meine Kinder Hilfe brauchen?", ist eine häufig gestellte Frage von Eltern. Aufbauend auf dem Konzept von Reflective Parenting und mentalisierungsbasierter Paar- und Familientherapie werden praktische Vorgehensweisen aufgezeigt und erklärt, die verwitweten Eltern helfen, die Entwicklung ihres Kindes/ihrer Kinder auch in dieser schwierigen Lebenssituation zu verstehen und zu fördern. Damit werden lebendige, nahe Beziehungen in Familien in diesen traurigen Lebensumständen ermöglicht und die Resilienz von Familien wird gestärkt.

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Information

Year
2017
ISBN
9783170312807
 

1          Einleitung

 
 
 
Liebe Leserin, lieber Leser!
Der Verlust von sehr nahen Angehörigen gehört zu den wichtigsten Risikofaktoren für die Ausbildung von späteren Krankheitssymptomen im Leben eines Menschen. Viele wissen oder spüren das. Zu dem Verlust des Partners kommt für Eltern noch die Sorge um die Kinder. Was erleben sie? Wie trauern sie? Wie kann ich ihnen hilfreich zur Seite stehen? Jetzt bräuchte ich doch gerade meinen Partner, um diese schwere Aufgabe gemeinsam zu meistern. »Man weiß nicht, was man braucht«, sagte eine verwitwete Mutter von zwei Jugendlichen. Der ältere Sohn hatte seinen Vater morgens tot im Badezimmer gefunden. Er war völlig überraschend an einem plötzlichen Herztod verstorben.
In meiner jahrelangen Arbeit, in der ich trauernde Familien begleitete (beratend oder psychotherapeutisch), habe ich erfahren, wie tröstlich und ermutigend es wirken kann, wenn ich verwitweten Eltern helfen konnte, ihre Beziehungen zu ihren Kindern und anderen Familienangehörigen zu vertiefen, zu harmonisieren und sie das Gefühl wiedergewinnen konnten, dass das Leben trotz des schweren Verlustes lebbar und teilweise sogar schön sein kann. Dabei ging es nicht nur darum, die Kinder in dieser besonderen Lebenssituation zu verstehen, sondern gerade auch sich selbst als verwitweten Elternteil. Wie kann ich in dieser Situation beeltern? Was macht gutes Beeltern aus? Wie soll ich das je schaffen? Es gehört Mut dazu, sich mit dem Thema zu befassen.
Dieses Buch will kein Ratgeber im engeren Sinne sein, in dem Lösungsvorschläge für bestimmte Verhaltensweisen, die bei vielen Kindern funktionieren, dargeboten werden. Was hier vermittelt werden soll, ist eine andere Art, über sich selbst als Eltern und über das Kind/die Kinder nachzudenken und hinzufühlen. Sowohl in meiner Beratungstätigkeit als auch in psychotherapeutischen Behandlungen beziehe ich mich auf bestimmte Verfahren aus der Psychotherapie, die ich hier auch vorstellen möchte. Nach meiner Erfahrung sind die diesen Verfahren innewohnenden Haltungen insbesondere in der Not, die durch einen sterbenden bzw. gestorbenen Angehörigen entsteht, sehr hilfreich. Es handelt sich dabei nicht um spezifische »Trauertherapie«, sondern die Anwendung allgemeiner entwicklungs-psychologischer Erkenntnisse über die Bedeutung von Elternschaft und verschiedenen kindlichen Entwicklungsstadien. Dabei ist entscheidend, dass es nicht um bestimmte Verhaltensweisen von Erwachsenen oder Kindern geht, an denen man allgemeingültige Verursachungen ablesen könnte. Von der Beobachtung eines bestimmten Verhaltens lässt sich nicht allgemeingültig auf inneres Erleben schließen. Sondern es geht darum, sich für die Bedeutung und damit die innere Erfahrung eines Menschen – Kind oder Erwachsener – zu interessieren, neugierig darauf zu sein und nicht ein beobachtetes Verhalten mit bereits vorhandenen eignen Vorannahmen zu interpretieren. So eine Vorannahme wäre: »Mein Kind ist so aufgedreht, weil es nur Aufmerksamkeit erzielen will.« Oder: »Meine Tochter zieht sich zurück, weil sie nicht trauern will.« Im ersten Fall bedeutet die Vorannahme »er will nur Aufmerksamkeit«, dass es keinen erstzunehmenden Grund für sein Verhalten gäbe, dass er das »nur« macht, um seine Eltern zu stören oder ähnliches. Im zweiten Fall verführt die Vorannahme dazu, vermeintlich genau zu wissen, woran man erkennt, ob die jugendliche Tochter traurig ist oder nicht. Andere Möglichkeiten für den Rückzug werden zunächst nicht in Erwägung gezogen.
Kaum eine Lebensphase ist so von inneren Zwiespälten begleitet wie die Elternschaft. Kinder verändern unser Leben, unsere Gefühlswelt und unsere Vorstellung davon. Diese Veränderungen sind unvorhersehbar und in gewisser Weise unkontrollierbar, was immer wieder zu starken Gefühlen von Unsicherheit führt. Elternschaft als lebenslängliche Entwicklung der eigenen Persönlichkeit beinhaltet die Fähigkeit, Freude daran zu finden, für jemanden zu sorgen, ihn oder sie zu schützen und zu lieben. Um eine offene, reflektierende Haltung im Zusammenleben mit Kindern zu entwickeln, braucht es eine ebensolche Haltung auch sich selbst gegenüber. Wenn das möglich ist, entsteht Nähe und ein Gefühl der Verbundenheit miteinander. Wenn es nicht gelingt, entsteht Fremdheit und das Gefühl, gar nicht verstanden zu werden. Das wiederum kann zu innerer Unverbundenheit und Einsamkeit führen, was sehr anstrengend sein kann. Daraus kann sich ein Schweigepakt innerhalb des Familienlebens ausbilden, der zu großen Belastungen der Einzelnen führen kann.
Dies Buch will helfen, durch Reflektion der eigenen Gefühle und Gedanken einen Zugang zu den Gefühlen und Gedanken des Kindes zu bekommen und sich damit dessen Verhalten wie auch das eigene besser erklären zu können. Es ist auch geeignet für Erwachsene, die mit einem verwitweten Elternteil zusammenleben und die halbverwaisten Kinder als Stiefeltern mit aufziehen.
Meine Haltung speist sich aus verschiedenen wissenschaftlichen Ansätzen. Dazu gehören unter anderen die Konzepte der Tiefenpsychologie und der Mentalisierungsbasierten Therapie, der Bindungstheorie, der Psychotraumatologie, der Salutogenese, der Paar- und Familientherapie sowie der Entwicklungspsychologie von Kindern mit Verlusterfahrungen und der Achtsamkeitstherapie.
Im salutogenetischen Modell werden Krankheit und Tod als notwendige Bestandteile des Lebens gesehen. Krankheit stellt eine Verarbeitungsmöglichkeit im Umgang mit den Herausforderungen des Lebens dar, während Gesundheit als Ergebnis einer aktiven Auseinandersetzung des Individuums mit den inneren Bedürfnissen und den äußeren Anforderungen aufgefasst werden kann. Unter Salutogenese wird der Ansatz verstanden, der zu erfassen versucht, was Menschen gesund erhält. Im Gegensatz dazu steht die Pathogenese, die die krankheitsverursachenden Faktoren erfasst. In dem salutogenetischen Modell werden Gesundheit und Krankheit als Prozess über den gesamten Lebensverlauf betrachtet. Der Mensch befindet sich demzufolge immer wieder in der Auseinandersetzung mit seinen gesunden wie seinen kranken Anteilen. Er wird aus salutogenetischer Sicht als Gestalter seines Lebens mit all seinen Anteilen betrachtet. Es geht also nicht allein um die Beseitigung von Symptomen. Damit soll auch angesichts der Unheilbarkeit von Krankheiten, Verlusten und Trauer das gesundbefördernde Kohärenzgefühl (vgl. Antonovsky, 1997) mit den Anteilen Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit befördert werden.
Erst die Sicht auf die ganz individuelle Lebensgeschichte macht es möglich, wichtige Kraftquellen und Fähigkeiten des Einzelnen oder einer Familie zu finden, die die Selbstheilungskräfte mobilisieren helfen. Dabei gilt es, den Wunsch nach Objektivität aufzugeben: Wir können nie sämtliche Perspektiven auf eine Situation einnehmen. Wir können auch nie unser Kind aus der Vogelperspektive sehen. Das befreit uns von der Bürde der Allwissenheit. Aus der besonderen Bedeutung, die Eltern für ihr Kind haben, kann ein hoher Druck resultieren, »alles« wissen zu müssen, um »alles« richtig zu machen. In schweren Lebenskrisen und existentieller Not kann dieser Druck besonders stark werden. Gerade in existentiellen Krisen durch den Tod eines nahen, geliebten Menschen benötigen die Hinterbliebenen Trost. Information kann beruhigen, aber was ist Trost? Was wirkt tröstlich?
Der Vater eines 7-jährigen Jungen erzählte folgende Begebenheit: Als seine Frau im Sterben lag, wollte sie ihren Sohn nicht mehr sehen und schon gar nicht umarmen. »Wir waren keine Familie mehr«, sagte der Vater, »jeder war allein für sich.« Die Mutter war schon mehrere Jahre krank. Eine Musiktherapeutin im Hospiz arrangierte eine gemeinsame Sitzung mit allen dreien, in der sie gemeinsam Musik machten. Es entstand eine gelöste Atmosphäre, in der der Junge am Ende zu seiner Mutter aufs Bett krabbelte und sich beide umarmten. Auf dem Rückweg nach Hause sagte der Junge plötzlich zu seinem Vater: »Jetzt weiß ich, dass das Leben schön ist.«
Zusätzlich belastend ist es, wenn Kinder und Jugendliche das Gefühl haben, innere Not sei Schicksal und man könne nichts dagegen tun. In diesem Buch wird der Versuch unternommen, die Ergebnisse der Forschung auf den genannten Gebieten allgemeinverständlich darzustellen und damit trauernden Eltern Hilfen zu geben, wie sie ihr Familienleben als verwitweter Elternteil mit ihren halbverwaisten Kindern in emotionaler Verbundenheit gestalten und Verhaltensprobleme leichter lösen können.
Ist vielleicht der Grund, warum Sie dieses Buch lesen, dass Sie unzufrieden sind, wie sich Ihre Beziehung zu Ihren Kindern gestaltet? Oder suchen Sie Unterstützung für Ihre eigene Fähigkeit zu beeltern? Sie fragen sich: Was geht in meinem Kind, meinen Kindern vor? Warum reagieren sie so? Habe ich etwas falsch gemacht? Wie soll ich damit umgehen? Werden sie durch mein Verhalten noch zusätzlich belastet?
Da Sterben und Tod zumeist eine tiefe Krise für alle betroffenen Familienmitglieder bedeutet, können unterstützende familienbezogene Interventionen auch eine Vorbeugung seelischer Störungen für die weitere Lebensspanne bedeuten. Eine Stärkung der Selbstheilungskräfte von Familien und ihrer gesunden Anteile soll durch erklärende Beratung sowie tiefenpsychologisches Verstehen erreicht werden.
In dem Buch werden im Text, auch in den Fallbeispielen, immer wieder Perspektivwechsel vorgenommen: mal geht es um das verwaiste Kind, dann um den verwitweten Elternteil und ein anderes Mal um den verwitweten Elternteil selbst als Kind. Dadurch wird die Haltung befördert, in der ein endgültiger Abschluss in den familiären Beziehungen vermieden wird. Immer wieder kann man sich neu fragen, was etwas Erlebtes aus der Vergangenheit oder dem aktuellen Erleben jetzt für die Einzelnen bedeuten könnte.

2 Beeltern

»Jetzt muss ich allein weiterlaufen«, sagte eine Mutter zweier Schulkinder nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes. Als Mutter hat sie den Verlust ihres Partners zu verkraften und gleichzeitig ihre halbverwaisten Kinder zu begleiten. Ein Hinterbliebener in einer Liebesbeziehung zu sein und das Familienleben mit minderjährigen Kindern allein fortzusetzen, bedeutet für den verwitweten Elternteil eine hohe Anforderung und Belastung. Diese über Jahre vor einem stehende Aufgabe erscheint manchen zunächst kaum zu bewältigen. Die Weichen für das Zusammenleben werden durch so ein Ereignis neu gestellt. »Wie kann ich ein guter Elternteil für meine Kinder sein, wenn ich doch selbst so belastet bin?«, so fragen sich viele verwitwete Eltern. Was heißt es überhaupt, »gute Eltern« zu sein? Dies fragen sich natürlich alle Eltern immer wieder und insbesondere in Schwellensituation und Krisenzeiten. Wenn man als Eltern in einer persönlichen Krise steckt, kann es passieren, dass man sein Gefühl und seine Intuition für das eigene Kind verliert. Dass man plötzlich nicht mehr weiß, wie man es »richtig« machen soll.
Für diese Aufgaben als Eltern wähle ich den Begriff »beeltern«. Es geht dabei um die Art und Weise, wie Eltern mit ihren Kindern leben, wie sie sie aufziehen und ganz besonders auch darum, wie sie über das Kind/die Kinder und sich selbst nachdenken. Ich lege mehr Augenmerk auf die Beziehung als auf die Erziehung. Der Begriff »beeltern« drückt meines Erachtens am besten den innerlichen und äußeren Prozess aus, den Eltern mit ihren Kindern erleben und ich mag ihn lieber als das Wort »erziehen«. Im Erziehen wird die Eltern-Kind-Beziehung auf bestimmte pädagogische Konzepte und Ziele eingeengt.
Gehorsam und Disziplin waren lange oberste Erziehungsziele. Das konsequente und angemessene Beantworten der emotionalen Grundbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen führt aber nicht, wie lange befürchtet, zu der Entwicklung von »kleinen Tyrannen«. Der Ausdruck negativer Gefühle auf Seiten des Kindes wie auf Seiten des Elternteils bedeutet eben nicht unbedingt, dass schlechte Beziehungen in der betreffenden Familie bestehen würden. Es ist ganz normal, dass im Zusammenleben mit Kindern, selbst ohne besondere Belastungen, negative Gefühle entstehen. Bloß wie damit umgehen?
Aus der Beziehungsperspektive verstehen wir das kindliche Verhalten als eine Form der Kommunikation. Das Kind will mit seinem Verhalten etwas sagen, den Erwachsenen erreichen. Meistens liegt dem Verhalten der Wunsch nach einem Gefühl emotionaler Verbundenheit zu Grunde. Gerade in schwierigen Lebenssituationen ist es besonders tröstlich und hilfreich, wenn die Verbundenheit untereinander nicht abbricht. Ein feinfühliger Umgang mit den kindlichen wie mit den eigenen Bedürfnissen hilft dabei, diese Form der kindlichen Kommunikation zu verstehen. Dafür gibt es keine Patentrezepte, aber mit Mut zur Selbstreflektion und wohlwollender Unterstützung kann eine verwitwete Familie ein neues, ganz eigenes Familienleben ausbilden.
Aus verschiedenen psychologischen Forschungszweigen, die sich mit Elternschaft beschäftigt haben, wird das Reflektieren (reflective function) als besonders hilfreich angesehen. Elternschaft und gutes angemessenes Beeltern unserer Kinder ist kein Fach, das man studieren kann. Die »Ausbildung im Beeltern« beginnt mit der ersten Schwangerschaft und dauert lebenslang an. Solange die Kinder noch Kinder sind, findet sie jeden Tag statt, unabhängig davon, in welcher Verfassung die Eltern sind. Wenn Eltern emotional präsent sind und sich in die Innenwelt ihrer Kinder hineinversetzen können, dann entwickeln sie eine Vorstellung davon, wie sie selbst auf ihr Kind wirken. Das hat einen enormen entwicklungsfördernden Effekt. Die so beelterten Kinder wachsen heran und lernen sowohl mit ihren eigenen starken Emotionen umzugehen wie auch mit denen anderer Menschen. Sie entwickeln ein tiefes Selbstvertrauen und soziale Kompetenz. Die Stärken und die Schwächen der eigenen Art zu beeltern zu reflektieren bedeutet eine Herausforderung. Man fragt sich: Was gelingt mir gut? Was gelingt mir weniger gut? Und von welchen Situationen ist mein Verhalten abhängig? Wie würde mein Kind mich beschreiben? Was würde es als meine Stärken und was als Schwächen sehen?
Als Eltern hat man viele verschiedene Aufgaben. Dazu gehören Liebe und Trost spenden, Grenzen zeigen und aufrechterhalten, Unterrichten und Unterweisen ebenso wie Unterstützen und Assistieren, Alltagsrituale und -Routinen installieren, mit der Umgebung des Kindes (Tagesmutter, Kita, Lehrer, Sportverein, aber auch Familienangehörige) kommunizieren und mehr. Dabei nimmt man als Eltern verschiedene Rollen ein, die man nicht alle gleich gut ausfüllen kann. Es gehört auch zum Eltern-sein und zum Beeltern, immer wieder mit Dingen und Aufgaben konfrontiert zu werden, die einem neu und unbekannt sind und die verschiedensten Gefühle in einem auslösen können. Die englischen Psychologen A. Cooper und S. Redfern haben den Begriff »Eltern-Landkarte« entwickelt. Sie beschreiben in ihrem Ratgeber »Reflective Parenting«, dass sich das Eltern-Werden wie eine Expedition in ein unkartiertes Gelände anfühlt: Man weiß nicht, wo das Ziel ist, wie man dort hinkommt und was es mit einem machen wird. Es gibt keine vorbereiteten Landkarten, jede »Expedition« zum eigenen Familienleben ist anders, keine Familie wird wie die andere. Eltern können sich aber eine ganz eigene Landkarte erschaffen. Sie entsteht im Prozess des Familienlebens und wird immer weitergeführt. Der Prozess des Entstehens dieser Landkarte ist dabei wichtiger als das fertige Bild, das es genaugenommen nie geben wird. Umfangreiche Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass von Geburt an beim Menschen nicht nur körperliche Instinkte wie die Suche nach Wärme, Nahrung und Gehaltenwerden eine Rolle spielen, sondern auch emotionale Instinkte, die uns den Kontakt mit anderen Menschen suchen lassen. Von Geburt an! Durch emotionalen Kontakt mit anderen Menschen lernen wir emotional über uns selbst und über andere. Erst im Kontakt mit anderen werden wir also unserer eigenen Emotionen gewahr. Wir brauchen ein Gegenüber, um uns selbst zu erkennen und um unsere Gefühle und Empfindungen zu verstehen.

2.1 Reflektierendes Beeltern

Reflektierende Eltern fokussieren nicht allein auf das äußerliche Verhalten ihres Kindes, sondern versuchen zu ergründen, was das Kind ausdrücken will. Die Beschreibung »Das Kind hat seinen eigenen Kopf« wird manchmal in leicht abwertender Weise benutzt. Als wäre das etwas Unerwünschtes oder Unschickliches. Kinder interpretieren die Welt anders als ihre Erwachsenen. Um die inneren Geschichten der Kinder wahrnehmen bzw. nach ihnen fragen zu können, ist es nötig, mit den eigenen inneren Bildern, Gedanken und Gefühlen in Verbindung zu sein. Dazu kommt die Fähigkeit, ein Verständnis davon zu haben, wie die eigenen Gefühle die Kommunikation mit den eigenen Kindern beeinflussen. Kindliches Verhalten hat meistens einen Sinn und eine Absicht. Es ist selten Zufall. Eltern spüren das und meistens erkennen sie auch die inneren Geschichten ihrer Kinder. Wenn nicht, fragen sie deshalb Experten oder lesen Ratgeber. Aber allgemeine Antworten, die für alle Kinder oder Kinder in einer speziellen Situation gelten sollen, beantworten häufig nicht die Fragen der Eltern. In emotionalen Ausnahmezuständen und Krisen, wie sie durch Krankheit und Tod des Partners ausgelöst werden, in denen die eigene Intuition versagt, ist es mitunter hilfreich, einen außenstehenden Gesprächspartner zu haben, der einem hilft, wieder die reflektierende Haltung einnehmen zu können. Dann kann der Erwachsene sich mehr von einer Außenperspektive wahrnehmen, sehen, wie er möglicherweise auf das Kind wirkt und fühlen, wie das eigene Verhalten wohl auf das Innere des Kindes wirken mag. Dazu ist es unbedingt wichtig, zunächst über die eigenen Gefühle und Gedanken nachzudenken.
Wenn wir also z. B. unser Kind anfahren (schnelle emotionale Reaktion), können wir hinterher ausgelöst durch die Reaktion des Kindes (z. B. Schreck in seinen Augen) reflektieren, dass wir ärgerlich wurden und im zweiten Schritt darüber nachdenken, warum wir eigentlich so ärgerlich wurden...

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