1 Ethik, was ist das eigentlich?
Friedrich Heckmann
Dieser Beitrag ist eine kleine Einleitung zu der Frage, warum menschliche Grundhaltungen eine unverzichtbare Voraussetzung ethischen Handelns sind. Es ist erst einmal sinnvoll, sich ganz grundsĂ€tzlich mit dem zu beschĂ€ftigen, was Ethik ist, und vor allem damit, welche Fragen Ethik an den oder die Einzelne und an die Gesellschaft stellt. Erst danach können wir uns damit beschĂ€ftigen, welche ethischen Grundlagen fĂŒr soziale Professionen Relevanz haben. Fragen der Ethik sind es ja, die akademischen Disziplinen wie auch daraus hervorgehenden Berufen grundlegende Orientierung geben. Nicht nur die Soziale Arbeit, die HeilpĂ€dagogik und andere soziale Professionen haben grundlegenden Bedarf an ethischer Orientierung. Wie wir unser Leben gestalten wollen, eben auch unser Berufsleben, diese Frage ergibt sich daraus, dass Leben und berufliche TĂ€tigkeit gelingen sollen. Es ist eine Frage, die sich zum einen individuell jeder Sozialarbeiter und jede HeilpĂ€dagogin stellen sollte, aber auch zum anderen die jeweilige Profession in ihren Standesorganisationen und BerufsverbĂ€nden und nicht zuletzt die Hochschulen, in denen Sozialarbeiterinnen, HeilpĂ€dagogen u. a. ihre akademische Bildung erwerben, die es ihnen ermöglicht, sich in ihren beruflichen TĂ€tigkeiten gut auszubilden.
DarĂŒber hinaus besteht insgesamt ein erheblicher Orientierungsbedarf der europĂ€ischen Gesellschaft angesichts der Probleme der wissenschaftlichen und technologischen Fortschritte, des wirtschaftlichen Verwertungsinteresses derselben und der kaum noch beherrschbaren Folgen von Globalisierung, ökonomischen und ökologischen Krisen. Die Auseinandersetzungen um kulturelle, religiöse und gesellschaftliche Werte gerade in der deutschen Gesellschaft sind deutliche Indizes. NaturgemÀà kann die Ethik sich nicht auf das Moralische der individuellen Daseinsorientierung beschrĂ€nken, sondern zielt auf die wirtschaftlichen und politischen, sozialen und gesellschaftlichen, die institutionellen und strukturellen Fragen, die der Orientierung bedĂŒrfen. In diesem breiten sozialethischen Spektrum suchen der Sozialarbeiter und die HeilpĂ€dagogin nach Orientierung bei den spezifischen Fragen, denen sich die sozialen Professionen gegenĂŒbersehen.
1.1 Orientierungsnotwendigkeit Sozialer Arbeit
Die Studierenden der FĂ€cher der Sozialen Arbeit, der HeilpĂ€dagogik und verwandter Disziplinen fragen sich und uns immer wieder, was denn Ethik, Sozialethik oder Sozialphilosophie mit ihrem eigentlichen Fach, der Sozialen Arbeit oder der HeilpĂ€dagogik, zu tun haben? FĂŒr sie ist dieser Beitrag, ja das ganze Buch geschrieben worden.
Ich konfrontiere die Studierenden im Grundstudium in der Regel mit folgender Antwort auf die Frage nach Ethik und Moral: Soziale Arbeit braucht einen Kompass! Soziale Arbeit fragt nach Orientierung und Richtung. Das ist erst einmal eine These, die aber gleich an PlausibilitĂ€t gewinnt, wenn wir weiterfragen: Woran orientieren sich Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, wenn sie sich in ihrem Feld, in einem weiten und nahezu unĂŒberschaubaren Feld der Sozialen Arbeit bewegen? Was gibt ihnen Wegweisung, wenn sie an eine Weggabelung gelangen? Gehen sie rechts oder links? Oder vielleicht doch geradeaus â falls die Möglichkeit dazu besteht? Wie gehen Sozialarbeiter vor, wenn sie in Entscheidungsnöte geraten? Wie entscheiden sie in Dilemma-Situationen, wonach, nach welchen Kriterien und warum?
Sozialarbeiter und andere Vertreter sozialer Professionen sollten doch wohl bezogen auf ihre Arbeit und die soziale Ordnung dieser Gesellschaft ihre Kriterien benennen können, an denen sie sich in ihrem Handeln orientieren! Dies ist also die Frage, die wir in der Ethik der Sozialen Arbeit und der Ethik fĂŒr die Soziale Arbeit immer wieder thematisieren und diskutieren. Wie und woran orientieren sich Sozialarbeiter in ihrer Praxis? Welchen Vorrat an Orientierungswissen bringen Sozialarbeiter in ihren Beruf mit? Welche reflexiven FĂ€higkeiten haben sie eingeĂŒbt, um mit Dilemmata und Dilemma-Situationen in der Sozialen Arbeit umzugehen? Das auf die spĂ€tere Praxis bezogene Studium, das dort gelehrte Fachwissen und die in Seminaren vermittelten Methoden bleiben zumeist an der OberflĂ€che der Orientierungskompetenz der zukĂŒnftigen Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen.
Die Frage nach der Orientierungsleistung, die im Alltag Sozialer Arbeit notwendig wird, braucht einen Ort im Studium, in der Praxis und im Leben unserer Disziplinen und unserer sozialen Professionen. Darauf zielt vor allem die Berufsethik in der Sozialen Arbeit und in der HeilpĂ€dagogik. Darauf zielen die Ethik-Codices der BerufsverbĂ€nde. Aber die Frage nach dem notwendigen Orientierungswissen richtet sich natĂŒrlich nicht nur an die berufsethische Existenz. Jede(r) von uns braucht Orientierung fĂŒr sein Leben, benötigt Kriterien, nach denen er oder sie ihr Leben einrichtet: Wie kann mir ein gutes Leben gelingen? Wie kann uns ein gutes Leben gelingen? Und hier muss weitergefragt werden: Was sind Kriterien fĂŒr ein gelingendes Leben? Was heiĂt »gut«, und wie beschreiben wir das Gute?
An dieser Stelle frage ich in meinen Lehrveranstaltungen in der Regel danach, ob die Studierenden ethische Kriterien haben, ob sie schon einmal darĂŒber nachgedacht haben, was die Kriterien ihres Handelns sind? SpĂ€testens dann sollte klar sein, dass wir mit der Frage nach den Kriterien fĂŒr gutes Handeln schon mittendrin sind in einem ethischen Diskurs und dass es nun notwendig und möglich ist, zu klĂ€ren, was genau wir unter Ethik verstehen.
1.2 Was ist Ethik eigentlich? Oder: Wissen Sie, was Ethik ist?
Soviel sollte aus dem Bisherigen klar geworden sein. Es geht bei dem, was wir bisher zu Lebensgestaltung und Orientierungswissen gesagt haben, um Ethik. Doch spĂ€testens, wenn ein GesprĂ€chsteilnehmer von sich sagt, dass er eine Ethik habe, muss im Dialog eine genauere Bestimmung versucht werden, denn gemeinhin wird darunter das moralische Handeln eines Einzelnen verstanden â und selbstverstĂ€ndlich ist es ein gutes Handeln!
Die Konfrontation mit Ethik als wissenschaftlicher Disziplin hinterlĂ€sst bei Studierenden der Sozialen Arbeit u. a. erst einmal Ratlosigkeit. Die Ratlosigkeit wird noch gröĂer, wenn Ethik als die wissenschaftliche BeschĂ€ftigung mit dem Sittlichen definiert wird. Hilfreich ist es, sich klarzumachen, dass Ethik die wissenschaftliche Frage danach ist, wie menschliches Handeln sein sollte, welche sittlichen Haltungen Menschen haben sollten, ja, wie die Welt sein sollte. Der Fokus meiner ersten Versuche einer Antwort zielt auf das Sollen.
Zur Verdeutlichung des Gesagten gebe ich ein Beispiel aus der Lehre. Ich sage den Studierenden: Wenn Sie bei mir eine Modulabschlussarbeit schreiben wollen, dann sollen Sie kein Plagiat abgeben. Und ich weiĂ, dass Frau Kollegin Begemann und Herr Kollege Weber meiner Meinung sind. Aber warum sollen Sie das nicht dennoch tun, plagiieren? Eine weitergehende Antwort könnte sein: Wir halten das fĂŒr falsch, und mit uns sind die meisten Lehrer und Hochschullehrer einer Meinung: Plagiieren ist eine schlechte Handlung. Es gilt jetzt, die Worte »falsch« und »schlecht« zu beachten. Das Gegenteil zu diesen Worten bilden die Worte »richtig« und »gut«. Die Interpretation der Worte »gut« und »schlecht« oder »gut« und »böse« gehört zur grundlegenden BeschĂ€ftigung der Ethik. Auch andere Disziplinen benutzen das Wort »gut«, aber nicht in dem absoluten Sinn wie die Ethik. Das Wort »gut« ist auch das SchlĂŒsselwort des ethischen GesprĂ€ches. Wenn ich frage, was ist denn eigentlich wahrhaftig gut fĂŒr die Studierenden, dann frage ich nicht danach, ob Ihnen Eiskonfekt Bauchgrimmen macht oder nicht. Ich frage Sie danach, ob Sie ĂŒber das fĂŒr Sie oder andere allgemeingĂŒltige Gute nachgedacht haben.
Ich will mich mit meinen GesprĂ€chspartnern auf die Suche nach einem allgemeingĂŒltigen MaĂstab, d. h. nach einem MaĂstab begeben, der eben fĂŒr alle gĂŒltig ist. Wir beschĂ€ftigen uns hier mit einem allgemeingĂŒltigen MaĂstab fĂŒr ein »gutes Leben«. Dieses gute Leben wird auch vielfĂ€ltig als »gelingendes Leben« bezeichnet. Es geht um ein gutes oder gelingendes Leben, es geht um gute oder schlechte Handlungen, z. B. in der Sozialen Arbeit. Ethik beschĂ€ftigt sich also mit dem menschlichen Leben, wie es als ein »gutes« Leben auszusehen hat. Ethik beschĂ€ftigt sich mit dem menschlichen Handeln, wie ein gutes Handeln auszusehen hat. Wie kann unser Leben gelingen? Was zeichnet das gelingende Leben als ein gutes aus?
Es gibt eine weitere Antwort auf die Frage nach der Definition von Ethik. Ethik handelt wissenschaftlich von der Frage: Wie will ich, wie wollen wir leben? Da ist das Wollen im Blick, aber das Sollen hat nach wie vor GĂŒltigkeit: Wie soll ich, wie sollen wir leben? Das Wollen und das Sollen beziehen sich in der Ethik immer auf das menschliche Handeln.
âą Wie handeln wir, um das Leben gelingen zu lassen?
âą Wie handeln wir, damit das Leben gut ist?
âą Wie kann menschliches Handeln ĂŒberhaupt gelingen? Welche Handlungen in der Sozialen Arbeit können als »gute Handlungen« begrĂŒndet werden?
1.3 Ethik ist Theorie vom menschlichen Handeln
Ethik ist keine Handlungstheorie im Allgemeinen so wie andere Handlungstheorien, die Sie in den Sozialwissenschaften u. a. lernen können. Es geht nur um Handlungen, die als »gut« oder »böse« bzw. »schlecht« qualifiziert werden können. Es geht nur um Handlungen, die das Leben gelingen oder misslingen lassen. Es geht also allein um Handlungen, die moralisch qualifiziert sind. Wir können auch sagen, es geht um das moralische oder sittliche Handeln â um Handeln gemÀà der Unterscheidung von gut und böse.
Gegenstand der Ethik ist die Moral. Das ist im 21. Jahrhundert post Christum natum so, ebenso in der Philosophie nach der AufklÀrung und war 400 Jahre vor Christi Geburt in der griechischen Philosophie auch so.
Die griechische Ethik war in einem gewissen Sinn empirisch und war normativ â wie etwas sein soll â zugleich. Von Ethik reden wir seit der griechischen Antike. Zur Erinnerung: Aristoteles wurde 384 v. Chr. geboren. Und im Unterschied zu vielen anderen historischen Prozessen ist die griechische Ethik immer noch aktuell. Wir denken sicherlich anders â und wir formulieren anders. Empirisch arbeiten wir mit Hilfe der Sozialwissenschaften, indem wir das, wie Menschen ihre Moral leben, genau beschreiben.
Eine empirische, deskriptive, d. h. beschreibende Ethik wird unterschieden von der normativen Ethik, die fĂŒr die Menschen und ihr Handeln ein Sollen formuliert. Dieses Sollen erhebt Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit. Was wir als ein gutes Handeln erkannt haben â beispielsweise in der Sozialen Arbeit, in der Heilerziehung, aber auch in der Wirtschaft und Politik â erhebt Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit. So sollst Du im GegenĂŒber zu den Klienten handeln! Das ist ein gutes Handeln. Missbrauch im Handeln ist falsch, ist böse!
Der Gebrauch des Wortes »böse« im Handeln der Menschen ist, so scheint es mir manchmal, völlig aus der Mode gekommen. Und dennoch hat das Gute natĂŒrlich auch sein Gegenteil. Das Böse ist das schlechthin Verwerfliche. Das klingt jetzt sehr steil. Aber natĂŒrlich mĂŒssen wir, wenn wir ĂŒber das Gute nachdenken, auch die Möglichkeit des Bösen mitdenken. Wir Menschen machen Fehler â auch Sozialarbeiter machen Fehler. Das ist Bestandteil des menschlichen Wesens, der Mensch ist zum Bösen fĂ€hig. Aber jenseits des menschlichen Willens zum Bösen, der möglich ist, gibt es natĂŒrlich auch einfach die menschliche SchwĂ€che oder das schwache menschliche Handeln, aus dem Schlechtes entsteht.
Doch bleiben wir bei dem Guten. Wie kommen Menschen zu dem Guten?
1.4 Keine eindeutige Bestimmung des Begriffs »gut«
Ethisches Denken fragt und sucht nach einem allgemeingĂŒltigen MaĂstab fĂŒr ein »gutes Leben«. Das Nachdenken ĂŒber die Frage nach dem Guten, das allgemein als Gutes anerkannt wird, ist so alt wie die antike Philosophie. Und doch wird es immer nur annĂ€herungsweise bestimmbar sein, unterschiedlich zwischen Kulturen und Religionen. Dennoch gibt es immer wieder Versuche und BemĂŒhungen, die universalistische und allgemeingĂŒltige Bedeutung ethischer Normen zu begrĂŒnden. Hans KĂŒng hat mit seiner Stiftung Weltethos versucht, einen VerstĂ€ndigungsprozess und Diskurs in Gang zu bringen, bei dem sich ReligionsfĂŒhrer und Gelehrte vieler Religionen auf einen normativen ethischen Kanon im Sinne eines Mindeststandards zu verstĂ€ndigen suchten. Ein Beispiel ist das weitgehend anerkannte Tötungsverbot. Aber selbst hier schlieĂt sich wieder die Frage nach den Kriterien an. Was oder auch wo sind die Kriterien fĂŒr gutes Leben? Gehört nicht unter bestimmten UmstĂ€nden auch die Tötung eines Menschen zum guten Leben, wenn ich damit »Schlimmeres« verhindere?
In der christlichen theologischen Ethik mag die Frage nach den Kriterien, warum etwas »gut« ist, im Gegensatz zur philosophischen Ethik etwas klarer sein â auch wenn die Auslegungstraditionen oft sehr unterschiedlich sind: »Es ist Dir gesagt Mensch, was gut ist« steht beim Propheten Amos in der hebrĂ€ischen Bibel und Ă€hnlich an anderen Stellen der biblischen BĂŒcher. Und so sind Christen und Christinnen auf der Suche nach Kriterien an jenes Buch verwiesen, das wir Bibel nennen. In der christlichen Ethik ist der lebendige Gott selber das höchste Gut. Von ihm kommt alles Leben, gibt Sinn, und auf ihn lĂ€uft alles zu.
Das neuzeitliche Nachdenken ĂŒber das Gute nimmt Abstand von der BegrĂŒndung des Guten im Gehorsam gegenĂŒber dem göttlichen Willen. Auch die Bibel als Orientierungshilfe wird zumindest in der westlichen Welt nicht mehr allgemein anerkannt. Mit der AufklĂ€rung verĂ€ndert sich der Ausgangspunkt. Anstelle der Personifizierung des höchsten Gutes mit Gott oder dem göttlichen Willen spricht der Mensch der AufklĂ€rung sich und der menschlichen Vernunft die FĂ€higkeit zu, zu erkennen, was gut ist. Die Menschen, wenigstens die der europĂ€isch-westlichen HemisphĂ€re, wollen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen â sie wollen selbst bestimmen, was gut ist und was böse, was richtig und was falsch, und sie glauben, dass sie es auch schaffen.
Einer von ihnen war Immanuel Kant, der Philosoph aus Königsberg (1724â1804). Er war ein Philosoph der AufklĂ€rung und zĂ€hlt zu den bedeutendsten Vertretern der abendlĂ€ndischen Philosophie. Seine neuzeitliche Ethik leitet einen Paradigmenwechsel ein. Er ist einer der Vordenker der autonomen Moral und einer allein auf die menschliche Vernunft gegrĂŒndeten Ethik. Auch wenn Kant die Gottesbeziehung nicht in Frage stellt, bedarf es nicht des Glaubens an Gott, um moralisch zu handeln. Immanuel Kant benötigt Gott nicht zur BegrĂŒndung des Nachdenkens ĂŒber das Gute. In gewissem Sinn tritt die praktische Vernunft an die Stelle Gottes. Sie bestimmt das Nachdenken der Ethik ĂŒber das Gute. Die Richtung des Nachdenkens hat Immanuel Kant vorgedacht:
»Es ist ĂŒberall nichts in der Welt, ja ĂŒberhaupt auch auĂer derselben zu denken möglich, was ohne EinschrĂ€nkung fĂŒr gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.« (Kant 1977b, S. 18)
Allein der gute Wille kann ethisch fĂŒr gut gehalten werden! Das mag uns 230 Jahre spĂ€ter sehr idealistisch fĂŒr eine Grundlegung der Ethik erscheinen, aber die Hochachtung der Vern...