1 Probleme und Methoden der Gesundheitsökonomie
Für Gesundheit wurde in den letzten zwei Jahrzehnten regelmäßig mehr als zehn Prozent der volkswirtschaftlichen Produktion verwendet. Damit ist der Gesundheitssektor ein ökonomisch bedeutsamer Wirtschaftsfaktor. Seine ökonomische Analyse ist Gegenstand der Gesundheitsökonomie.
Was aber kennzeichnet die ökonomische Analyse? Was sind die besonderen Fragestellungen und Methoden, die die Gesundheitsökonomie von anderen Gesundheitswissenschaften unterscheiden?
Die Probleme, die die Gesundheitsökonomie untersucht, lassen sich in folgenden Fragen formulieren:
1. Werden die Ressourcen einer Gesellschaft richtig auf die Bedarfe ihrer Mitglieder verteilt? Dieses Problem lässt sich weiter differenzieren: Wird für Gesundheitsleistungen im Verhältnis zu anderen Gütern und Dienstleistungen wie Bildung, Verkehr etc. zu viel oder zu wenig ausgegeben oder ist ihr Anteil gerade richtig? Und wird innerhalb des Gesundheitssektors zu viel oder zu wenig für Gesundheitsförderung und Prävention im Verhältnis zur Versorgung im Krankheitsfall ausgegeben? Und schließlich: Wird innerhalb der Krankheitsversorgung zu viel oder zu wenig z. B. für die Versorgung im Krankenhaus im Verhältnis zur ambulanten Versorgung ausgegeben?
2. Erfolgt die Gesundheitsförderung oder die Behandlung von Erkrankungen zu möglichst geringen Kosten bei gegebener Qualität oder werden knappe Mittel verschwendet?
3. Wie werden die Gesundheitsleistungen auf die Bevölkerungsschichten verteilt? Bekommen nur die Personen eine qualitativ gute Versorgung, die auch die Leistungen bezahlen können, oder hat jeder einen Anspruch auf eine gute Gesundheitsversorgung, unabhängig von der Höhe des Einkommens, des Alters, der Art des Geschlechts etc.?
4. Welche Bedeutung hat der Gesundheitssektor als Wirtschaftsfaktor und als Einkommensquelle der hier Beschäftigten?
Die Gesundheitsökonomen bezeichnen die erste Fragestellung als Allokationsproblem. Unter Allokation versteht man in der Ökonomie die Verteilung knapper Ressourcen oder Produktionsfaktoren (Arbeit, Kapital) auf die verschiedenen Bedarfe einer Gesellschaft. Da nicht alle Bedarfe gleichzeitig befriedigt werden können, muss entschieden werden, welche vordringlich zu erfüllen sind.
Zur Lösung des Allokationsproblems müssen die Bedarfe der Gesellschaftsmitglieder bekannt sein. Das setzt voraus, dass Gesundheit definiert und gemessen
werden kann und dass ihre Bestimmungsfaktoren analysiert werden können. Die Gesundheitsökonomie weist bei der Untersuchung dieser Fragen Gemeinsamkeiten mit der Disziplin Public Health auf, welche die Entstehung und Verteilung von Erkrankungen in der Bevölkerung untersucht und Maßnahmen zur Steuerung dieser Prozesse entwickelt. Das
2. Kapitel beschäftigt sich mit der Frage der Definition und den durch persönliches Verhalten und wirtschaftliche Verhältnisse geprägten Bestimmungsfaktoren der Gesundheit der Bevölkerung sowie dem daraus entstehenden Bedarf an Gesundheitsleistungen.
In marktwirtschaftlich organisierten Wirtschaftssystemen artikuliert sich der Bedarf durch die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen am Markt, sei es durch den Patienten selbst, sei es durch die ihn vertretenden Ärzte und Versicherungen. Die Nachfrage ist neben dem Bedarf zusätzlich abhängig von den Preisen für Gesundheitsleistungen und vom Einkommen des Patienten. Auch die Existenz von Versicherungen spielt eine wichtige Rolle für die Nachfrage eines Patienten nach Gesundheitsleistungen. Diese weiteren Bestimmungsfaktoren der Nachfrage werden im
3. Kapitel untersucht.
Wenn der Bedarf bekannt ist, muss das Angebot an Gesundheitsleistungen auf diesen Bedarf abgestimmt werden. Dafür kommen verschiedene Allokationsverfahren in Betracht. So kann das Angebot einmal über den Markt entsprechend der kaufkräftigen Nachfrage gesteuert werden, oder es kann zum anderen durch den Staat reguliert werden, der den Bedarf schätzt und in Plänen festschreibt. Ein anderes Verfahren ist die korporatistische Steuerung, bei der die Verbände der Leistungsanbieter und Leistungsfinanzierer im Gesundheitssystem das Angebot über bilaterale Verhandlungsprozesse steuern. Die Verfahren zur Angebotssteuerung, insbesondere die Marktsteuerung und die Regulierung, werden ebenfalls im
3. Kapitel untersucht. Außerdem werden die Allokationsverfahren zur Analyse der Märkte für ambulante und stationäre Versorgung sowie des Arzneimittelmarktes herangezogen (
Kap. 6,
7 und
8). Die Gesundheitsökonomie kann hier auf Erkenntnisse und Methoden der Industrieökonomie zurückgreifen, die sich mit der Analyse einzelner Märkte und ihren Funktionsmängeln beschäftigt.
Die Allokationsverfahren implizieren bestimmte Finanzierungsformen. Wenn der Staat oder die Verbände die Gesundheitsgüter bereitstellen, werden sie in der Regel über Steuern oder ähnliche Zwangsabgaben finanziert. In der Allokation über den Markt hingegen erfolgt die Finanzierung über Marktpreise. Bei der Beurteilung der Finanzierungsformen kann die Gesundheitsökonomie aus den Erkenntnissen der Finanzwissenschaft Nutzen ziehen, die sich u. a. mit der Frage beschäftigt, welche Auswirkungen Steuern und Abgaben auf das Verhalten der Bürger haben und wie die Einkommensschichten damit belastet werden. Das
9. Kapitel untersucht diese Finanzierungsverfahren in unterschiedlichen Gesundheitssystemen.
Das zweite Problem der Gesundheitsökonomie wird als Effizienzproblem bezeichnet. Effizienz in der Produktion ist dann gegeben, wenn es nicht mehr möglich ist, durch Einsparung von Ressourcen die Kosten bei gleicher Menge und Qualität zu senken oder bei gleichen Kosten die Menge und die Qualität zu erhöhen. Sofern das noch der Fall ist, liegen Rationalisierungspotentiale vor. Das Effizienzproblem wird uns in allen Kapiteln beschäftigen, weil es ein wichtiger Anlass für Gesundheitsreformen in Deutschland ist Die Herausforderungen für Gesundheitsreformen
in der Zukunft sind Gegenstand des
10. Kapitels. Der Blick auf ausländische Gesundheitssysteme und der Einfluss der Europäischen Union, die Gegenstand des
9. Kapitels sind, können den Blick dafür schärfen, wo Veränderungsbedarf besteht. Die Gesundheitsökonomie als eine volkswirtschaftliche Disziplin öffnet sich zur betriebswirtschaftlichen Analyse der Institutionen des Gesundheitssystems wie Krankenkassen, Krankenhäusern oder Arztpraxen (Gesundheitsmanagement).
Das dritte Problem bezieht sich auf die Verteilung oder Distribution von Gesundheitsleistungen. Gefragt wird, nach welchen Kriterien die Gesundheitsleistungen auf die Bürger verteilt werden sollen. Sollen diejenigen die Leistungen erhalten, die am meisten zahlen können oder soll ein gleicher Bedarf gleich befriedigt werden und in einer Solidargemeinschaft finanziert werden? Diese Fragen werden insbesondere im fünften Kapitel diskutiert, das sich mit der auf dem Solidarprinzip beruhenden gesetzlichen Krankenversicherung beschäftigt. Eng verknüpft mit diesem Problem ist der Zusammenhang zwischen der Verteilung der Gesundheit in der Bevölkerung nach Einkommen und sozialem Status, der im
2. Kapitel untersucht wird. In der Behandlung des Verteilungsproblems weist die Gesundheitsökonomie Gemeinsamkeiten mit der Sozialpolitik auf, deren Ziel es ist, wirtschaftliche und soziale Benachteiligungen in der Gesellschaft auszugleichen und ihre Entstehung zu verhindern.
Das vierte Problem der Gesundheitsökonomie befasst sich mit der Frage, welchen Beitrag der Gesundheitssektor zum Wachstum und zur Beschäftigung einer Volkswirtschaft leistet und wie die dabei erzielten Einkommen verteilt werden (Wertschöpfungsproblem). Während in der öffentlichen Diskussion die Ausgaben für Gesundheitsleistungen vor allem als Kosten gesehen werden, die es zu begrenzen gilt, werden hier die Wachstums- und Beschäftigungseffekte des Gesundheitssektors betrachtet Der Gesundheitssektor als Kosten- und Beschäftigungsfaktor wird im vierten Kapitel behandelt.
Die Gesundheitsökonomie untersucht die genannten vier Probleme mit bestimmten, dem Fach eigenen Methoden. Kennzeichnend für die Methodik der Gesundheitsökonomie ist das Abwägen der Nutzen und Kosten von Aktivitäten (Nutzen-Kosten-Kalkül) und das Denken in Alternativen (Opportunitätskostenprinzip). Damit ist es dem Handlungsprinzip der Medizin ähnlich, die auch zwischen dem Nutzen und dem möglichen Schaden einer Therapie abwägen muss.
Das Nutzen-Kosten-Kalkül kommt darin zum Ausdruck, dass bei einer Entscheidung stets der Nutzen mit den Kosten verglichen wird:
• Welchen Nutzen hat der Bau eines Krankenhauses und welche Kosten verursacht er?
• Welchen Nutzen und welche Kosten hat ein Präventionsprogramm?
• Soll ein Arzt einen Computertomographen anschaffen?
• Soll ein Patient einen Arzt aufsuchen, um eine Früherkennung durchführen zu lassen?
• Welchen Arzt soll ein Patient im Falle einer Erkrankung aufsuchen?
In all diesen Fällen ist der Nutzen einer Aktivität mit den Kosten zu vergleichen. Oder genauer: Die erwarteten Nutzen sind mit den erwarteten Kosten abzuwägen, denn alle Entscheidungen sind grundsätzlich zukunftsorientiert und daher mit Unsicherheit verbunden. Das gilt für medizinische Interventionen ganz besonders. Es liegt dabei auf der Hand, dass nach rein ökonomischen Kriterien eine Aktivität nur dann durchgeführt wird, wenn ihr erwarteter Nutzen größer ist als ihre erwarteten Kosten.
Dabei ist die Erfassung der Nutzen nicht immer so vergleichsweise einfach wie bei der Anschaffung eines Computertomographen durch einen Arzt. In diesem Fall kann der Nutzen durch den erwarteten Gewinn gemessen werden. Schwieriger ist die Anwendung des Kosten-Nutzen-Kalküls auf eine Präventionsmaßnahme oder eine medizinische Behandlung, denn wie soll der Nutzen einer verbesserten Gesundheit in einer Geldgröße gemessen werden? Die ökonomische Abwägung von Kosten und Nutzen ist eine volkswirtschaftliche Kategorie, die sich auf Ziele, Verfahren und Ergebnisse bezieht. Sie liefert keine Handlungsmaxime für eine individuelle Therapieentscheidung zu Gunsten oder zu Lasten eines Patienten. Hier gilt die ethische und gesetzliche Pflicht des Arztes, im Rahmen seiner Möglichkeiten zu helfen und zu heilen. Es sind allerdings gesellschaftliche Entscheidungen, die davon abhängen, wie reich eine Gesellschaft ist und welche Prioritäten sie setzt, die die medizinischen Möglichkeiten bestimmen. Eine ökonomische Betrachtung des Gesundheitssektors ist nicht unethisch, im Gegenteil, sie ist notwendig, um sicherstellen, dass mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen ein möglichst hoher Gesundheitsstatus der Bevölkerung erreicht wird. Alles andere wäre Verschwendung und unethisch, weil die Mittel an anderer Stelle eingesetzt zu einer besseren Zielerreichung führen würden.
Kosten sind in der Gesundheitsökonomie als Opportunitätskosten definiert. Opportunitätskosten einer Aktivität sind der entgangene Nutzen aus der zweitbesten Aktivität, die deshalb nicht durchgeführt werden kann. Opportunitätskosten werden daher auch Alternativkosten genannt. Unter der Voraussetzung, dass die Ressourcen einer Gesellschaft, einschließlich der Zeit, knapp sind, sind zwangsläufig alle Aktivitäten mit Opportunitätskosten verbunden. Oder »There is no such thing as a free lunch«, also Essen ohne Bezahlen gibt es nicht.
Das Nutzen-Kosten-Kalkül findet in der Gesundheitsökonomie in zwei Formen Verwendung...