Ressourcenorientierte Psychoonkologie
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Ressourcenorientierte Psychoonkologie

Psyche und Körper ermutigen

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Ressourcenorientierte Psychoonkologie

Psyche und Körper ermutigen

About this book

Dieses Buch, das sich binnen kurzem als wichtige psychoonkologische Basislektüre etabliert hat, liegt nun in aktualisierter und erweiterter 3. Auflage vor. Aktuelle Trends und Perspektiven der Psychoonkologie sowie der Onkologie, Palliativmedizin und Neurobiologie werden unter einem explizit ressourcenorientiertem Blickwinkel praxisnah vorgestellt. Führende Expertinnen und Experten der jeweiligen Fachgebiete geben innovative und kreative Impulse für die tägliche Praxis und die eigene Psychohygiene."[...] das Buch bietet allen Berufsgruppen, die mit onkologischen Patienten arbeiten, wertvolle Anregungen für die Therapie und für die Auseinandersetzung mit der eigenen Grundhaltung." (Ingrid Barley, Deutsches Ärzteblatt 5/2010)

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Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2016
eBook ISBN
9783170286665
Edition
3
Subtopic
Oncology

V Körper ermutigen

20 Psychoonkologische Beratung und Begleitung von PatientInnen mit tumorbedingter Fatigue

Susanne Ditz

20.1 Was bedeutet Fatigue?

Der Begriff »Fatigue« wurde aus dem französischen und englischen Sprachgebrauch ins Deutsche übernommen. Eine Definition aus den USA von David F. Cella lautet: »Die Tumorerschöpfung, auch Fatigue genannt, bedeutet eine außerordentliche Müdigkeit, mangelnde Energiereserven oder ein massiv erhöhtes Ruhebedürfnis, das absolut unverhältnismäßig zu vorangegangenen Aktivitätsänderungen ist« (Cella 1998).
Die Tumor-assoziierten Fatigue (Cancer-related fatigue (CrF)) ist nicht selten eine alles überschattende, subjektive Erfahrung, die den gesamten Tagesablauf beeinträchtigen kann. Viele PatientInnen scheinen darunter mehr zu leiden als unter Schmerzen oder psychischen Begleiterscheinungen. Ihr chronischer Verlauf reduziert die Lebensqualität der Betroffenen erheblich, kann zu verminderter Therapietreue und zum Abbruch der Behandlung führen.
Es werden drei Dimensionen der Tumor-assoziierten Fatigue (CrF) unterschieden: die physische, die emotionale und die kognitive Müdigkeit. Dieser multisymptomatische Zustand der Erschöpfung tritt bei KrebspatientInnen häufig in Zusammenhang mit oder nach systemischen Therapien auf sowie während oder nach Bestrahlungen, kann aber auch im Krankheitsverlauf ohne diese entstehen. Die Ausprägung der Tumor-assoziierten Fatigue (CrF) ist ebenso individuell wie ihre Dauer und abhängig von der Ausgangssituation (körperlicher/mentaler Status), der psychischen Grundhaltung und der individuellen subjektiven Wahrnehmung.

20.2 Prävalenz

Die Prävalenz von Fatigue wird in der Literatur sehr divergierend beschrieben und ist abhängig vom Fatigue-Diagnoseinstrument, dem Erkrankungszeitpunkt und der Tumorentität (Alexander et al. 2009; Minton & Stone 2008; Whitehead 2009). Bei der Interpretation epidemiologischer Zahlen zur Tumor-assoziierten Fatigue (CrF) ist zu bedenken, dass CrF zwar durch eine charakteristische Gruppe von Symptomen gekennzeichnet ist, aber keine nosologische Einheit darstellt. In epidemiologischen Studien wird daher die Häufigkeit der CrF mit Hilfe von Selbsteinschätzungsfragebögen untersucht. Da allerdings sehr unterschiedliche Fragebögen eingesetzt werden und die Feststellung, ab welcher Ausprägung die angegebenen Beschwerden als CrF betrachtet werden, nicht einheitlich sind, schwanken die Ergebnisse zur Prävalenz zum Teil erheblich. In einer Längsschnittuntersuchung einer repräsentativen Stichprobe in Deutschland zur CrF wiesen 32 % der KrebspatientInnen bereits bei stationärer Aufnahme, 40 % bei Entlassung und 36 % ein halbes Jahr darauf deutlich stärkere Müdigkeits-und Erschöpfungssymptome auf als eine gesunde Vergleichsgruppe (gemessen mit MFI, Subskala »generelle Fatigue«) (Singer et al. 2011)

20.3 Erklärungsmodell

Es gibt kein einheitliches Erklärungsmodell über die genauen Ursachen Tumor-assoziierter Fatigue. Alle Erklärungsmodelle zur Ursache und Entstehung von Müdigkeits-und Erschöpfungssyndromen gehen von einem multifaktoriellen und multikausalen Geschehen aus (Piper et al. 1987). Bei der CrF können diese durch den Tumor bedingt oder Folge der Therapie sein, aber auch Ausdruck einer genetischen Disposition, begleitender somatischer oder psychischer Erkrankungen, wie auch verhaltens-oder umweltbedingter Faktoren. Damit ergibt sich eine breite Palette möglicher Ursachen und Einflussfaktoren somatischer, affektiver, kognitiver und psychosozialer Art, die zu der gemeinsamen Endstrecke Fatigue führen.
Als zugrunde liegende pathophysiologische Faktoren werden diskutiert:
• Störungen der zirkadianen Melatoninsekretion und des Schlaf-Wach-Rhythmus
• Dysregulation inflammatorischer Zytokine
• Veränderungen im serotoninergen System des ZNS
• Störung hypothalamischer Regelkreise
• Genpolymorphismen für Regulationsproteine der oxidativen Phosphorylierung der Signaltransduktion in B-Zellen, der Expression proinflammatorischer Zytokine und des Katecholaminstoffwechsels (Horneber et al. 2012).

20.4 Symptome und Erfassung

Fatigue kann als Sammelbegriff verstanden werden, der eine Vielfalt von Müdigkeitsmanifestationen umfasst, welche sich in überwiegend physische, aber auch in affektive und kognitive Sensationen klassifizieren lassen (
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Tab. 20.1). Entsprechend der Leitlinie des National Comprehensive Cancer Network (NCCN) sollte im Rahmen der onkologischen Betreuung Symptome der Erschöpfung oder Müdigkeit bei allen Tumorpatientinnen gezielt exploriert werden. Dabei sollte beachtet werden, dass die subjektiv geäußerten Beschwerden häufig nicht objektivierbar sind; wenn doch, erreichen sie selten den von PatientInnen geäußerten subjektiven Schweregrad. Ergänzend zur Objektivierung kann das Führen eines Symptomtagebuchs empfohlen werden. Als Screeninginstrumente lassen sich eine lineare Analogskala (LASA-Skala Bereich 0–10) oder dafür geeignete diagnostische Fragebögen einsetzen (Minton & Stone 2009). Die zentrale Rolle in der diagnostischen Vorgehensweise nimmt das anamnestische Gespräch ein. In diesem sollte genau die Art, Ausprägung und der zeitliche Verlauf der Beschwerden erfragt werden und auf mögliche Zusammenhänge mit vegetativen Funktionen geachtet werden wie:
• Körperliche Aktivität
• Schlafverhalten
• Medikation
• Gebrauch von Genuss-und Rauschmitteln.
Tab. 20.1: Drei Dimensionen der Tumor-assoziierten Fatigue: Anzeichen und typische Symptome
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20.4.1 Kriterien klinischer Diagnostik von Fatigue

Fatigue bei KrebspatientInnen wird oft nicht erkannt oder zu wenig beachtet. Von der American Fatigue Coalition wurde ein Symptomkatalog veröffentlicht mit dem Ziel, die Erfassung von Fatigue zu vereinheitlichen. Zur Feststellung einer Tumor-assoziierten Fatigue kann dieser Kriterienkatalog wie folgt herangezogen werden: Sechs (oder mehr) der 11 in Kasten 1 aufgeführten Symptome bestanden täglich bzw. fast täglich während einer Zwei-Wochen-Periode im vergangenen Monat, und mindestens eines der Symptome ist deutliche Müdigkeit (A1). Wenn sechs der aufgeführten Symptome vorliegen, gilt ein Fatigue-Syndrom als gesichert. Dabei müssen die Kriterien B, C und D vom behandelnden Arzt beurteilt werden.
Kasten 1: Diagnosekriterien Fatigue (Fatigue Coalition USA)
A1. Deutliche Müdigkeit, Energieverlust oder verstärktes Ruhebedürfnis, welches in keinem Verhältnis zu aktuellen Veränderungen des Aktivitätsniveaus steht.
A2. Beschwerden allgemeiner Schwäche oder schwere Glieder.
A3. Verminderte Fähigkeit zu Konzentration und Aufmerksamkeit.
A4. Verringerte(s) Motivation oder Interesse an Alltagsaktivitäten.
A5. Schlaflosigkeit oder vermehrter Schlaf.
A6. Schlaf wird nicht als erholsam und regenerierend erlebt.
A7. Notwendigkeit starker Anstrengung, um Inaktivität zu überwinden.
A8. Deutliche emotionale Reaktionen auf Fatigue-Problematik (z. B. Traurigkeit, Frustration oder Reizbarkeit).
A9. Durch Müdigkeit bedingte Schwierigkeiten, alltägliche Aufgaben zu erledigen.
A10. Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis.
A11. Mehrere Stunden anhaltendes Unwohlsein nach Anstrengung.
B. Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
C. Aus Anamnese, körperlichen Untersuchungen oder Laborbefunden geht eindeutig hervor, dass die Symptome Konsequenzen einer Tumorerkrankung oder ihrer Behandlungen sind.
D. Die Symptome sind nicht primär Konsequenzen einer komorbiden psychischen Störung, wie Major Depression, somatoforme Störung oder Delir.

20.4.2 Ursachen und differentialdiagnostische Abklärung

Grundsätzlich müssen sich ÄrztIn und PatientIn darüber im Klaren sein, dass es nicht immer gelingt, der Müdigkeit eine greifbare Ursache zuzuordnen. Bei der differentialdiagnostischen Abklärung müssen somatische Erkrankungen von Leber, Niere, Endokrinum und Knochenmark ebenso ausgeschlossen werden wie mit der Krebserkrankung zusammenhängende Ursachen (Schmerz, Mangelernährung, Elektrolytstörungen etc.;
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Kasten 2). Die Erfahrung im Umgang mit CrF-Patienten zeigt, dass bei vielen keine eindeutige psychosoziale oder somatische Ursache identifiziert werden kann. Dies darf aber nicht dazu führen, dass die Beschwerden von Ärzten und Therapeuten als nicht »legitim« abgetan werden. Vielmehr ist es gerade in diesen Situationen wichtig, die Symptome und Belastungen ernst zu nehmen und Gesprächs-und Handlungsbereitschaft zu signalisieren.
Kasten 2: Mögliche Ursachen Tumor-assoziierter Fatigue
• Tumorerkrankung
• Folgen der Therapie der Tumorerkrankung (Operation, Strahlentherapie Chemotherapie, Zytokine)
• Anämie (tumorbedingt, Störungen des Eisenstoffwechsels)
• Stoffwechselstörungen (z. B. Diabetes mellitus)
• Hormonmangelerscheinungen (Schilddrüse, Nebenniere, Geschlechtshormone)
• Elektrolytstörungen (vor allem Nieren- und Leberfunktion)
• Infektionen (generalisiert oder lokal)
• Schlafstörung (z. B. Schlaf-Apnoe-Syndrom)
• Begleiterkrankungen und Organschäden (z. B. Herz-Kreislauf-Störungen oder Lungenfunktionsstörungen)
• Sedierende Medikamente (z. B. Schmerzmittel, Psychopharmaka)
• Psychologische Auswirkungen (Angst, Depression, Anpassungsstörung)
• Mangelernährung
• Mangel an körperlichem Training (Muskelabbau)
• Immobilisation (z. B. schmerzbedingt)

20.4.3 Fatigue und/oder Depression erkennen

Neben Angst stellt Depression die häufigste seelische Begleiterkrankung bei malignen Tumorleiden dar. Aus therapeutischer Sicht erscheint es notwendig, bei Patienten mit einer Müdigkeitssymptomatik zu unterscheiden, welcher Anteil daran auf eine primäre Tumorfatigue zurückgeht, inwieweit sich eine depressive Entwicklung dahinter verbirgt oder ob beide Aspekte zusammenwirken. Die differentialdiagnostische Abgrenzung von der Depression und/oder der depressiven Krankheitsverarbeitung fällt häufig schwer. Der Übergang ist eher fließend, da nahezu jedes Merkmal des chronischen Fatigue-Syndroms auch bei der Depression wiederzufinden ist. Die Tumorentität und die Art der Behandlung können Anhaltspunkte geben. Es wurde festgestellt, dass Fatigue bei Patienten mit depressiver Stimmungslage häufiger und mit großer Intensität auftritt, aber auch, dass Fatigue eine Depression induzieren und verstärken kann. Eine klare Unterscheidung zwischen Depression und Fatigue wird somit nicht immer vollständig gelingen. Hinweise geben die Vorgeschichte des Patienten, inwieweit es bereits früher Episoden einer depressiven Verstimmung gegeben hat oder ob das Müdigkeitsgeschehen erstmalig im Kontext der Tumorerkrankung aufgetreten ist und einer depressiven Verstimmung vorausging. Dann spräche für ein depressives Geschehen, wenn die Antriebsminderung stark ausgeprägt ist und andererseits auffällige Tendenz zur Selbstentwertung mit Suizidgedanken vorliegt. Überwiegend körperlich empfundene Erschöpfung und Schwäche trotz ausreichenden Schlafes sind eher charakteristisch für das Fatigue-Syndrom. Das Vorliegen von Depressionen in der Anamnese, betonte Antriebsminderung, fehlende Motivation, Schlaflosigkei...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
  6. I Einführung
  7. II Trends, Konzepte und Perspektiven in der Onkologie
  8. III Ressourcenorientierte Konzepte für die Psychoonkologie
  9. IV Psyche ermutigen
  10. V Körper ermutigen
  11. Stichwortverzeichnis