Amerika - Land der Pioniere
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Amerika - Land der Pioniere

Ein SPIEGEL E-Book

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Amerika - Land der Pioniere

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About this book

Aufbruch, Wagemut und Optimismus: Der Pioniergeist der Menschen, die ab dem frühen 17. Jahrhundert den nordamerikanischen Kontinent eroberten, prägt bis heute das Selbstverständnis der USA. Der Stolz, den ersten modernen demokratischen Staat geschaffen zu haben, beflügelte die Nation und trug dazu bei, dass die Vereinigten Staaten zu einer Weltmacht wurden. Aber auch Härte und Rücksichtslosigkeit, gegen sich und andere, kennzeichneten die Pioniere. Opfer dieser Mentalität waren und sind vor allem Afroamerikaner und Indianer. In einer Zeit, in der die unstete US-Politik von Präsident Trump die Welt bewegt, ermöglicht es dieses E-Book, neben der Geschichte auch die heutige Lage des Landes besser zu verstehen. Der Bogen reicht von der Ankunft englischer Siedler in Jamestown und Plymouth über die Befreiung von der Kolonialherrschaft, die Landnahme im Westen bis zur globalen Machtausübung als Weltpolizist im 20. und 21. Jahrhundert. An zahlreichen Beispielen zeigt das SPIEGEL E-Book nicht nur die großen politischen und gesellschaftlichen Linien, sondern auch technische Pioniertaten, wie sie dem Erfinder Thomas Alva Edison gelangen, oder kulturelle Innovationen, etwa die des Malers Jasper Johns oder des Rappers Tupac Shakur. Immer wieder wird deutlich, wie sehr das Selbstbild des Landes von Legenden und Überhöhungen geprägt ist, sei es in der Erzählung von der "Indianerprinzessin" Pocahontas oder in der Überlieferung des Kampfes um die befestigte Missionsstation Alamo im mexikanisch-amerikanischen Krieg.

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Information

Year
2018
eBook ISBN
9783877631812
Topic
History
Subtopic
Art General
Index
History
Der Kontinent wird erobert • Der Kontinent wird erobert

Der kalte Tod

Ein Planwagen-Treck strandete im Winter 1846 in der Sierra Nevada – aus den Pionieren der Donner Party wurden Kannibalen. Von Susanne Weingarten
In jener Nacht kam der gefürchtete Schnee. Rund um die Lagerfeuer unter den Bäumen wirbelten große fedrige Flocken herab. Sie vernebelten die Luft, sodass man nur ein paar Meter weit sehen konnte. Die Indianer wussten, dass wir verloren waren, einer wickelte sich in eine Decke und stand die ganze Nacht lang unter einem Baum. Wir Kinder schliefen fest in unserem kalten Schneebett, während eine weiche weiße Hülle so dick auf uns herabrieselte, dass unsere Mutter alle paar Minuten den Schal ausschütteln musste, der uns bedeckte, damit wir nicht lebendig begraben wurden."
Im Jahr 1891 veröffentlichte Virginia Reed Murphy ihre Erinnerungen an den katastrophalen Treck nach Westen, den sie 45 Jahre zuvor als junges Mädchen überlebt hatte. Ihre Familie gehörte zu einer Gruppe von Planwagen-Pionieren, die in den Höhen der Sierra Nevada von einem frühen Wintereinbruch überrascht worden war. Der „gefürchtete Schnee“ jener kalten, verhängnisvollen Nacht verhinderte, dass die 81 Siedler das Gebirge überqueren konnten – ihr letztes großes Hindernis auf dem Weg nach Kalifornien. Stattdessen mussten sie ein primitives Winterquartier an einem See unterhalb der Gipfel aufschlagen.
Was in den folgenden Monaten am Truckee Lake geschah, ging als größtes Gräueldrama der Pionierzeit in die amerikanische Geschichte ein. Die Siedler, im Frühling 1846 als ehrenwerte, wohlhabende Bürger im Mittelwesten aufgebrochen, verwandelten sich innerhalb weniger Monate in Kannibalen. Männer ermordeten Mitreisende, die anschließend verspeist wurden. Frauen aßen vom Fleisch eines verhungerten Knaben.
Am Ende überlebten nur 45 Menschen der berüchtigten „Donner Party“ (Donner-Gruppe) den Elendswinter in der Sierra Nevada. Dabei hatte alles ziemlich normal begonnen. Drei Familien – George und Tamsen Donner mit fünf Kindern, Georges Bruder Jacob Donner und dessen Frau Betsy mit sieben Kindern sowie James und Margaret Reed mit vier Kindern – waren am 14. April aus ihrer Heimat in Illinois losgezogen, um ihr Glück im gelobten Land an der Westküste zu finden.
Die Donners und die Reeds hatten sich angesehene Existenzen aufgebaut, waren als Geschäftsleute oder Farmer erfolgreich, ihr Wegzug wurde in der Lokalzeitung ihrer Heimatstadt Springfield bekannt gegeben. Sie gaben alles auf, ihren gesellschaftlichen Status, ihre Sicherheit, ihre vertraute Umgebung. Was sie mitnahmen: neun Planwagen mit Vorräten und Ersparnissen, ein paar Fahrer und Knechte, dazu Ochsen, einige Maultiere und Pferde sowie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Die Donners und die Reeds waren nicht die einzigen Träumer in jenen Jahren. Ihr Aufbruch fiel in einen historischen Sturm-und-Drang-Moment. Kalifornien galt dank schwärmerischer Pamphlete, die auch in Kleinstädten wie Springfield zirkulierten, als verheißungsvolles Land der Zukunft, als Paradies, in dem fruchtbares Land nur auf diejenigen wartete, die den Treck nach Westen wagten. „Westward Ho!“, so hatte George Donner die Anzeige überschrieben, mit der er Fahrer für seine Planwagen suchte.
Die Vereinigten Staaten waren 1846 erst 70 Jahre alt, ihre Einwohnerzahl hatte sich seit Beginn des Jahrhunderts vervierfacht, das Bruttosozialprodukt versechsfacht. Die Eisenbahn und die Dampfschifffahrt begannen die bewohnten Regionen des Landes zu vernetzen, die Telegrafie war gerade erfunden worden, auch der Colt, der Stahlpflug, der Gummireifen und die Vollnarkose. Die USA waren ein Land im Wachstumsschub, ein Land im Rausch, kraftstrotzend, ehrgeizig, selbstbewusst und von seiner besonderen Bestimmung überzeugt – „die Wunderkind-Nation des 19. Jahrhunderts“, schrieb der emeritierte Historiker James McPherson, die es als ihr gottgegebenes Recht sah, sich die weitgehend unerschlossene Landmasse zwischen den beiden nordamerikanischen Meeresküsten untertan zu machen.
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Mitte des 19. Jahrhunderts war der Glaube an die „Manifest Destiny“ der USA weit verbreitet – die Überzeugung, dass die Bürger des jungen Staates von der Vorsehung dazu bestimmt waren, den Kontinent bis zur Westküste zu besiedeln und überall die Freiheit und Selbstbestimmung der amerikanischen Demokratie zu etablieren. Unter dem Banner der „Manifest Destiny“ verleibten sich die USA zwischen 1845 und 1847 Gebiete wie Oregon, Texas, Neu-Mexiko und Kalifornien ein. Die Pioniertrecks nach Westen wurden nicht nur vom individuellen Streben nach Glück und Erfolg getrieben, sondern auch von der zeittypischen Ideologie einer höheren Berufung und moralischen Überlegenheit.

Nach einem Monat Fahrt trafen die Donners und Reeds in Independence ein, einem Kaff in Missouri. Hier war die zivilisierte Welt zu Ende. Hier versammelten sich Hunderte Siedler, die den Weg in Richtung Pazifik antreten wollten. Aus Sicherheitsgründen schlossen sie sich zu großen Planwagen-Trecks zusammen, die Schutz gegen Indianerattacken, aber auch eine Hilfsgemeinschaft bei Pannen und Unfällen bieten sollten – 1846 fuhren rund 500 Wagen von hier los, darunter auch die der Donners und Reeds.
Vor ihnen lag nichts als Wildnis. Hunderte Meilen Prärie, eine gigantische Leere, ein Niemandsland voll unbekannter Gefahren. Auf vielen Landkarten war die Weite, die sie durchqueren wollten, nur als „Große Amerikanische Wüste“ verzeichnet. Dahinter lagen schroffe graue Berge, teils mehr als 4000 Meter hoch, wie ein Riegel vor dem Ziel der Pioniere. Erst zwei Jahre zuvor hatte eine erste Reisegruppe es geschafft, Planwagen über einen Pass in der Sierra Nevada zu karren. Kein Wunder, dass die Siedler im zeitgenössischen Sprachgebrauch als „Auswanderer“ galten: Sie verließen die USA für eine ungewisse Fremde.
Die mühsame Fahrt nach Westen dauerte bis zu einem halben Jahr. Daher brachen alle Siedler im Frühling aus Independence auf, um die Berge vor dem Wintereinbruch zu erreichen. Der Donner Party wurde zum Verhängnis, dass sie diesen Zeitplan nicht einhielt.
Als Teil einer größeren Siedlergruppe zuckelten die Donners und Reeds zwei Monate lang über Land bis nach Wyoming. Hier begegneten sie einem Boten mit einem „offenen Brief“ an alle Auswanderer, in dem eine angeblich neu entdeckte Abkürzung angepriesen wurde, die sie schneller ans Ziel bringen sollte. Die Donners, Reeds und einige andere Familien ließen sich von den Versprechungen des Briefschreibers, eines Wichtigtuers namens Lansford Hastings, überzeugen. Sie spalteten sich vom Rest des Trecks ab, der sich lieber an die vertraute Route hielt, wählten George Donner zum Anführer ihrer Fahrgemeinschaft, die nun entsprechend „Donner Party“ genannt wurde, und schlugen den Weg zum „Hastings Cutoff“ (Hastings-Abkürzung) ein.
Schon bald fanden sie sich in einem nahezu unpassierbaren Mittelgebirge wieder, durch das sie ihren Weg erst freischlagen und planieren mussten. Danach führte die vermeintliche Abkürzung noch durch die „Great Salt Lake“-Wüste, 80 Meilen in brüllender Hitze, ohne Wasser, mit zunehmend erschöpften Zugochsen und Pferden. „Gegen Abend wurde die Lage verzweifelt, wir hatten nur ein paar Tropfen Wasser übrig“, erinnerte sich Virginia Reed Murphy in ihren Memoiren. „Eine weitere Nacht hätte unseren Tod bedeuten können. Wir mussten zu Fuß aufbrechen. Wie kann ich je diese Nacht in der Wüste vergessen, als wir Meile um Meile in der Dunkelheit zurücklegten, jeder Schritt fühlte sich an, als wäre es unser letzter!“
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Die Donner Party verlor Tiere, Wagen und Vorräte auf dem Weg durch die Wüste, die Stimmung war gereizt und aggressiv.
Zwei Monate dauerte der Treck entlang des Hastings Cutoff, doppelt so lange wie die Standardroute über den weit weniger beschwerlichen Oregon Trail. Aber noch hätte alles ein gutes Ende nehmen können. Noch hätte der unnötige Umweg ein anstrengendes, aber nicht verhängnisvolles Zwischenspiel für die Pioniere bleiben können. Doch dann kam der Schnee. Der gefürchtete Schnee.
Anfang November machen sich die 81 Menschen der Donner Party auf den Weg ins Hochgebirge der Sierra Nevada. Ein paar Wochen, so hat man ihnen versichert, wird es noch dauern, bis der Pass eingeschneit ist. Stattdessen fallen die ersten Flocken schon jetzt. Bald liegt der Schnee meterhoch. Die entkräfteten Familien unternehmen mehrere Tage lang Anläufe, die Berge zu überqueren. Dann geben sie auf.
Rund drei Meilen unterhalb des Gipfelpasses, am Truckee Lake, schlagen fünf Siedlerfamilien ihr Notquartier auf. Eine Blockhütte steht dort schon, errichtet von den Erstbezwingern der Route, zwei weitere werden schnell gezimmert. Statt Türen gibt es Vorhänge aus Tierhaut, wie Feuerholz stapeln die Pioniere an den Außenwänden gefrorene Ochsenhälften – die meisten der Tiere, die es bis hierhin geschafft haben, sind als Winterproviant geschlachtet worden, das eisige Wetter hat das Fleisch tiefgekühlt. Was an den Wänden keinen Platz findet, wird auf dem Gelände vergraben und tragischerweise nach heftigen Schneefällen nicht wiedergefunden. Noch leben die letzten abgezehrten Lasttiere, auch ein paar Hunde streunen durch das Camp.
Einige Meilen weiter errichten die Donner-Brüder selbst zwei Unterstände, jeweils einen für jeden Clan samt Gefolge. Das unmittelbare Überleben ist damit gesichert – alle haben Schutz gegen Kälte und Wind, es gibt genügend Wasser, Kleidung und Feuerholz. Nahrung ist jetzt schon knapp, aber noch hegen die unglückseligen Auswanderer die Hoffnung, dass bald Hilfe kommen wird.
Doch der Winter weicht nicht mehr, und bald beginnt das große Hungern. Die Frauen kochen Tierknochen so lange für Suppen aus, bis sie zerkrümeln. Die Kinder der Familie Murphy zerschneiden das Kuhfell, das vor ihrem Lagerfeuer liegt, rösten die Stücke und essen sie. Alle Hunde enden früher oder später im Kochtopf. Familien schachern um Lebensmittel, wer überhaupt noch Vorräte hat, verhökert sie teuer an die verhungernden Nachbarn. Die Pioniere, so zäh, genügsam und willensstark sie sein mögen, haben keine Erfahrung mit dem Leben im Gebirge. Sie sind weder Jäger noch Trapper, sie kennen sich nicht mit den wilden Winterstürmen der Sierra Nevada aus.
Nach den ersten Todesfällen im Camp am Truckee Lake wagt eine Gruppe Mitte Dezember mithilfe der Guides erneut den Aufstieg zum Gipfelpass – 15 versuchen, auf selbstgebastelten Schneeschuhen durchzukommen. Nach wenigen Tagen sind die meisten Teilnehmer schneeblind, die Gruppe, die als „Forlorn Hope“ (verlorene Hoffnung) in die Donner-Mythologie eingeht, irrt durch die Wildnis, hungrig und verzweifelt.
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Einer schlägt vor, dass sich ein Freiwilliger opfern soll, damit die anderen sich von ihm nähren können. Doch ein Blizzard kostet ohnehin vier Angehörige der Gruppe das Leben – viel Fleisch für die anderen. Sie zerlegen die Leichen, essen sich satt, dörren die restlichen Stücke für die kommenden Tage. Ihr einziges Zugeständnis an das Kannibalismus-Tabu: Keiner soll das Fleisch Angehöriger essen müssen. Unterwegs verhungert ein weiterer junger Weißer, die indianischen Guides wollen dem grausigen Schauspiel entfliehen und werden kaltblütig erschossen. Auch sie werden gegessen. Nach etwa 30 Tagen erreichen sieben Überlebende jenseits der Berge eine Siedlung, in der Indianer vom Stamm der Miwok wohnen.
Dass so viele grausige Details über den Hungerwinter von 1846 bekannt sind, liegt vor allem an einem Lokaljournalisten namens Charles Fayette McGlashan, der rund drei Jahrzehnte danach die meisten noch lebenden Angehörigen der Donner Party interviewte, auch ihre Familien befragte, dazu Tagebücher, Zeugenberichte und Tausende Briefe sichtete und dann die „Geschichte der Donner Party“ als Buch niederschrieb.
Einer der „Forlorn Hope“-Überlebenden organisiert den ersten erfolgreichen Rettungstrupp. Der trifft Ende Februar 1847 am Truckee Lake ein. Daniel Rhoads, einer der Helfer, berichtet: „Wir schauten uns um, aber außer uns war kein Lebewesen zu sehen. Daraufhin ließen wir ein lautes Hallo ertönen. Und dann sahen wir eine Frau aus einem Loch im Schnee auftauchen. Während wir uns ihr näherten, tauchten noch ein paar andere auf. Sie waren vom Hunger gezeichnet, und ich werde nie ihren fürchterlichen, gespenstischen Anblick vergessen. Die erste Frau sagte mit leerer Stimme: 'Seid ihr Männer aus Kalifornien, oder kommt ihr vom Himmel herab?'“
Im Camp finden die sieben Retter zahlreiche, notdürftig im Schnee begrabene Leichen vor. Die Hütten sind verwahrlost, die Menschen zerlumpt, ausgezehrt und traumatisiert. Und noch immer ist das Drama für die Überlebenden nicht zu Ende. Dutzende von ihnen müssen zurückbleiben, insgesamt werden vier Anläufe in den nächsten Monaten nötig sein, um nach und nach alle über den Pass zu bringen. Während dieser langen Wartezeit geht im Lager das Sterben weiter, und jetzt fangen auch hier die Menschen an, die Kadaver ihrer Nachbarn zu essen. Selbst wer von den Rettungskräften mitgenommen wird, ist noch nicht in Sicherheit: Einige sind nach Monaten der Entbehrung zu entkräftet, um die Strapazen des Gebirgsmarsches zu überleben.
Als der „Fourth Relief“, der vierte Rettungstrupp, die Lager durchsucht, findet er am 19. April nur noch einen einzigen Überlebenden vor, den deutschstämmigen Louis Keseberg. Der liegt apathisch in einer stinkenden, völlig verdreckten Hütte, umgeben von verwesenden Leichenteilen. Er gibt unumwunden zu, dass er sich von Menschenfleisch ernährt hat, wird aber bis an sein Lebensende bestreiten, dass er Leidensgenossen umgebracht hat. Den Verdacht, ein Mörder zu sein, wird er jedoch nie entkräften können, denn in seiner Hütte wird auch die tote Tamsen Donner gefunden, die auf Angehörige eines Rettungstrupps kurz zuvor noch kräftig und gesund gewirkt hatte.
Insgesamt überlebten 45 der 81 Eingeschlossenen den Winter in der Sierra Nevada. Wenig überraschend: Unter den Todesopfern waren viele kleine Kinder und viele Ältere, alle Siedler jenseits der 50 starben. Unerwartet dagegen der Vergleich nach Geschlechtern: Die Sterberate der männlichen Pioniere war fast doppelt so hoch wie die der weiblichen, die meisten erwachsenen Frauen überlebten die Tortur. Die Gründe sehen Forscher darin, dass sich die Männer mit körperlicher Arbeit stärker verausgabt hatten, zugleich durch ihren Körperbau einen höheren Grundumsatz an Kalorien und geringere Fettreserven hatten.
Ebenfalls auffällig: Die Überlebensrate derjenigen, die mit ihren Familien unterwegs waren, lag erheblich höher als bei den Junggesellen. Die Memoirenschreiberin Virginia Reed Murphy etwa verlor bis auf ihre 75-jährige Großmutter kein Familienmitglied. Historiker spekulieren, dass die Familien als Sozialgemeinschaften den Einzelgängern überlegen waren, weil sie die knappen Ressourcen untereinander geteilt hatten, statt sie an andere Mitreisende abzugeben.
Viele Angehörige der Donner Party bauten normale, erfolgreiche Existenzen an der Westküste auf, manche Witwe verheiratete sich innerhalb weniger Monate neu: Frauen waren knapp im Reich der Pioniere. Obwohl das Schicksal der Donner Party ihren Zeitgenossen in allen Details bekannt war, wurden die Überlebenden – abgesehen vom Mordverdächtigen Louis Keseberg – nicht stigmatisiert. Welch unfassbare Scham sie trotzdem mit sich herumschleppten, lässt sich nur daran ablesen, dass manche von ihnen, trotz aller Belege, ihr Leben lang leugneten, Menschenfleisch gegessen zu haben.
Seit mehr als 150 Jahren gehört die Saga der Donner Party zum Mythos des Wilden Westens – als dunkler Spiegel des Scheiterns in einer optimistischen, t...

Table of contents

  1. AMERIKA - Land der Pioniere
  2. Einleitung
  3. Eine Nation entsteht
  4. Der Kontinent wird erobert
  5. Modern Times
  6. The American Way of Life
  7. Anhang