Die TĂ€ter âą Morden fĂŒr das Vaterland
SPIEGEL-Titelbild 11/2008
Morden fĂŒr das Vaterland
Die Vernichtung der europÀischen Juden war das Werk von rund 200 000 Deutschen und ihren Helfern. Eine Nahaufnahme der TÀter, wie sie jetzt auch der Erfolgsautor Jonathan Littell versucht, ergibt ein beklemmendes Bild: Die meisten NS-Verbrecher waren weder Sadisten noch Psychopathen, sondern ganz normale MÀnner. Von Georg Bönisch, Romain Leick und Klaus Wiegrefe
An Augenzeugen fehlte es nicht, kaum ein Gemetzel ist besser dokumentiert. Das Massaker von Babi Jar begann am Montag, dem 29. September 1941, am Morgen von Jom Kippur, dem jĂŒdischen Versöhnungstag.
Es ist auch ein Tag in den Erinnerungen des SS-Offiziers Max Aue, Jahrgang 1913, die Jonathan Littell in seinem monumentalen, viele meinen monströsen Roman âDie Wohlgesinntenâ ausbreitet. Einen Max Aue gab es nicht. Aber das, was er sieht und anderen Menschen antut, hat stattgefunden.
29. September 1941. Zehn Tage zuvor waren die Deutschen in Kiew einmarschiert.
Es war kalt, der Herbst schon weit vorgerĂŒckt. In langen Kolonnen marschierten die von den Besatzern getriebenen Juden stadtauswĂ€rts nach Westen; sie wirkten Ă€rmlich, einige kamen mit Karren, die von abgemagerten Kleppern gezogen wurden. Littells SS-Mann Aue hatte den Eindruck, dass es vor allem Alte und Kinder waren.
Die Menge schien friedlich, ein wenig beunruhigt gewiss, aber doch gefĂŒgig. Die Deutschen hatten GerĂŒchte verbreiten lassen, um eine Panik zu vermeiden: Die Juden wĂŒrden nach PalĂ€stina geschickt, kĂ€men ins Ghetto oder nach Deutschland, um zu arbeiten. Und Max Aue dachte: âAuĂerdem konnten wir auf ihre Erinnerungen an die deutsche Besetzung von 1918 setzen, auf ihr Vertrauen in Deutschland und auch auf ihre Hoffnung, die vergebliche Hoffnung.â
Wenn der schneidende Wind auflebte, konnte man aus der Ferne schwaches Geknatter hören, aber die meisten Juden achteten seltsamerweise kaum darauf. Viele von ihnen sangen religiöse Lieder, nur wenige versuchten zu fliehen.
Dann sah Aue die Schlucht vor sich liegen: Etwa 50 Meter breit, vielleicht 30 Meter tief, zog sie sich mehrere Kilometer weit hin, an ihrem Grund rieselte ein kleiner Bach. Babi Jar, die GroĂmutter- oder Altweiberschlucht.
Die bis dahin so stillen Juden schrien plötzlich vor Entsetzen. Die ukrainischen SS-Helfer trieben sie in HĂ€ufchen hinunter und zwangen sie, sich ĂŒber oder neben die schon daliegenden Leichen zu strecken. Daraufhin traten die MĂ€nner des ErschieĂungskommandos vor, schritten langsam die Reihen entlang und schossen jedem eine Kugel ins Genick.
Binnen 36 Stunden töteten die Deutschen 33 771 Juden. âIch weiĂ nur einesâ, schrieb die Ukrainerin Irina Choroschunowa damals in ihr Tagebuch, âda geht etwas Schreckliches, etwas Entsetzliches vor sich, etwas Unfassbares, das man nicht verstehen, begreifen oder erklĂ€ren kann.â
Ist das der Stoff fĂŒr einen groĂen Roman, eine Art âKrieg und Friedenâ des 20. Jahrhunderts? Oder hat Jonathan Littell, 40, Jude, Amerikaner und Franzose, Geschichtspornografie verfasst? Seine Geschichte des TĂ€ters Max Aue, in Ich-Form kalt und emotionslos erzĂ€hlt, ist in Frankreich, Italien und Spanien ein sensationeller Erfolg geworden. In Deutschland schoss das 1388-Seiten-Werk auf Anhieb in der SPIEGEL-Bestsellerliste nach oben, auch wenn die meisten Literaturkritiker schroff ablehnend reagierten.
Die Opfer seien oft genug zu Wort gekommen, begrĂŒndet Littell sein Vorhaben, ihn habe die Sicht der Henker interessiert, er wolle die TĂ€ter sprechen lassen. Doch bei aller Genauigkeit des bĂŒrokratischen Berichts - der Historiker Saul FriedlĂ€nder bescheinigt Littell beeindruckende Detailtreue in der Schilderung des Massakers von Babi Jar - bleibt Littells Sprache wie schockgefroren. Das Grauen wird eher gebannt als erfasst, das Töten ist am Ende nur noch ein Achselzucken. âKrieg ist Krieg und Schnaps ist Schnapsâ, sagt Aue dazu. Es ist eine seiner provozierenden BanalitĂ€ten.
Verstehen, begreifen, erklÀren. Woran die Zeitzeugin Irina Choroschunowa scheitern und verzweifeln musste, es scheint auch Littell nicht zu gelingen.
Die tiefsten Motive der Schergen bleiben ein ungelöstes Geheimnis in den âWohlgesinntenâ. Littell wolle erkunden, âwie sich TĂ€terschaft von innen anfĂŒhltâ, urteilte die âZeitâ, doch allzu sehr sei der Roman âdem Landser-Kitsch, dem Doku-Thriller und dem Edelpornoâ verhaftet.
âEin Horrorbuch, grauenhaft, kitschig, brutal, pervers und obszönâ, schrieb der Kritiker der âFrankfurter Allgemeinen Sonntagszeitungâ, kam am Ende aber zu dem Schluss: âLittell ist es gelungen, dass einem die Vergangenheit die ZĂ€hne ins Fleisch schlĂ€gt.â Die âtazâ wiederum befand: âWas nicht funktioniert, ist die Charakterstudie.â
Wie es sich denn anfĂŒhle, wenn man Massenhinrichtungen so detailliert schildere, wenn man am Schreibtisch im Blut der Opfer wate, wollte der deutsch-französische Intellektuelle und Politiker Daniel Cohn-Bendit bei Littells einzigem öffentlichen Auftritt vorletzte Woche in Berlin wissen. Der Autor antwortete ungerĂŒhrt, dass die Leiche im Moment des Schreibens eine âgrammatikalische Formâ sei - so wie fĂŒr den TĂ€ter das Opfer im Moment der Tat zu einer bloĂen Sache werde.
Die Frage, warum Menschen töten, warum selbst Massenmörder zugleich ganz menschlich und gewöhnlich bleiben können, wird von Littell mit einer Wucht aufgeworfen, fĂŒr die es in der Literatur kaum Beispiele gibt. Die Abwesenheit der Emotionen ist fĂŒr ihn der SchlĂŒssel, auf die Psyche der Mörder komme es gar nicht an. So ist die Figur Aue ein reines Konstrukt, das es in Wirklichkeit nie auch nur annĂ€hernd gegeben hat. Mit Aues Worten: âEs wĂŒrde sich ohnehin niemand um das scheren, was ich denken mochte. Unser System, unser Staat machte sich nicht das Geringste aus dem, was seine Diener dachten. Es war ihm gleichgĂŒltig, ob man die Juden tötete, weil man sie hasste oder weil man Karriere machen wollte oder weil es einem, in gewissen Grenzen, sogar SpaĂ machte.â
Aue ist kein Sadist, noch nicht einmal ein Antisemit, er hasst die Juden gar nicht. Damit widerspricht Littell diametral der These von Daniel J. Goldhagen, wonach die Deutschen eingefleischte Judenhasser gewesen seien. Littell ordnet den Holocaust in einen universellen Zusammenhang ein, der alle Menschen angeht.
Wenn grausames Verhalten nicht nur möglich wird, sondern alltĂ€glich, weil staatlich gebilligt und organisiert, dann wird auch jede Grausamkeit begangen. Aue weiĂ das: âDie wirkliche Gefahr - vor allem in unsicheren Zeiten - sind die gewöhnlichen Menschen, aus denen der Staat besteht. Die wirkliche Gefahr fĂŒr den Menschen bin ich, seid ihr.â
Das ist das Paradoxe und vor allem das AnstöĂige an diesem WĂ€lzer: Trotz aller psychopathischen ZĂŒge, Inzest und Muttermord, die Littell seinem Max Aue andichtet, beansprucht dieser unwahrscheinliche Held fĂŒr sich die NormalitĂ€t eines Jedermanns. Der Holocaust ist bei Littell letztlich nichts mehr als ein - wenn auch herausragendes - Beispiel menschlicher Grausamkeitsmöglichkeit. Der Vorrat an potentiellen SchlĂ€chtern ist unerschöpflich. Auf die Krankhaften kommt es nicht an, um das Perverse auszufĂŒhren.
Warum aber ist das so? Was treibt die TÀter an? Welche inneren Schalter werden umgelegt, wenn ein freundlicher Familienmensch, der abends gern Klavier spielt, morgens Juden ins Gas schickt? Seit 1945 haben Wissenschaftler und Politiker sich mit diesen Fragen gequÀlt. Und im Lauf der Jahrzehnte haben sich die Perspektiven mehrfach verschoben.
Manche Antworten dienten mehr der Entlastung der deutschen Gesellschaft als der AufklÀrung.
Einige wenige Hauptkriegsverbrecher um Adolf Hitler, die den Holocaust befohlen hatten, ausgefĂŒhrt von ExzesstĂ€tern aus Gestapo und SS - so lautete in den fĂŒnfziger Jahren der Befund. Er enthielt die beruhigende Nachricht, dass die Mörder nicht aus der Mitte der Gesellschaft zu stammen schienen.
Nach dem Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 verschwanden die TĂ€ter zeitweise sogar ganz vom Schirm der öffentlichen Wahrnehmung. Eichmann hatte den Transport von Juden aus West- und Mitteleuropa in die Vernichtungslager organisiert und prĂ€sentierte sich vor Gericht als willenloser BĂŒrokrat, der nur Befehle befolgt hatte. Der Holocaust erschien nun als industriell durchgefĂŒhrter Massenmord, angetrieben von abstrakten, gesichtslosen Strukturen.
Dazu passte, dass gerade einmal 6500 TĂ€ter in Deutschland verurteilt wurden.
Doch Anfang der neunziger Jahre trat eine neue Historikergeneration an, die nach Kriegsende geboren war. Mit frischem Blick und Zugang zu den Archiven in Osteuropa, die bis dahin hinter dem Eisernen Vorgang unzugÀnglich geblieben waren, machten sie sich auf die Suche nach den TÀtern.
Dass 1996 Goldhagen mit seinen holzschnittartigen Thesen weltweit Aufmerksamkeit erregte, beflĂŒgelte die Wissenschaftler. UnzĂ€hlige BĂŒcher, AufsĂ€tze, SammelbĂ€nde sind inzwischen erschienen.
Noch ist ein Ende nicht absehbar, aber bereits jetzt stehen so ziemlich alle alten Gewissheiten in Frage:
⣠Die TĂ€ter ein Haufen von Sadisten? Experten schĂ€tzen den Anteil der pathologischen FĂ€lle auf allenfalls zehn Prozent. Das ist nicht ĂŒberdurchschnittlich viel.
⣠Der Holocaust ein industriell durchgefĂŒhrter Massenmord? Ja, aber ungefĂ€hr die HĂ€lfte der annĂ€hernd sechs Millionen ermordeten Juden fand abseits der Vernichtungslager von Auschwitz, Treblinka, SobibĂłr, Majdanek, Chelmno und Belzec den Tod - erschlagen, erschossen, verhungert oder Opfer von Krankheiten, die aus den LebensumstĂ€nden in den Ghettos resultierten. Allein die Zahl der im Freien, auf den osteuropĂ€ischen Killing Fields erschossenen Menschen betrug ĂŒber eine Million.
⣠Handelten die TĂ€ter aus Befehlsnotstand? Bis heute ist kein Fall bekannt, bei dem ein Befehlsverweigerer Schaden an Leib oder gar Leben genommen hat. Erwiesen ist hingegen, dass deutsche BĂŒrokraten Hitler âentgegenarbeitenâ wollten und ĂŒberall in Osteuropa auf die Ermordung der Juden drĂ€ngten.
⣠Mord aus Antisemitismus? Ohne den Judenhass hĂ€tte es den Holocaust nicht gegeben. Doch zahlreiche TĂ€ter nutzten die Staatsdoktrin des âDritten Reichesâ als Vorwand, um sich im Wilden Osten zu bereichern.
Von den ĂŒber 100 Polizei-Bataillonen ist erst bei einem Teil die Geschichte aufgearbeitet, die meisten Wehrmacht-Divisionen sind unerforscht. Eines lĂ€sst sich allerdings jetzt schon absehen: Jedes Forschungsprojekt fördert neue TĂ€ter ans Licht. Feingeistige Planer, brutale Kommandeure, Ă€ngstliche MitlĂ€ufer, gedankenlose Gelegenheitsverbrecher. Das Böse war nicht einfach nur böse, es war auch nicht immerzu banal, es zeigte sich in so vielen Gestalten wie der Teufel im Alten Testament.
Auf mindestens 200 000 Deutsche und Ăsterreicher schĂ€tzt Dieter Pohl vom Institut fĂŒr Zeitgeschichte die Zahl derjenigen, die âMordaktionen vorbereiteten, durchfĂŒhrten und unterstĂŒtztenâ: KZ-Personal, SS-Leute, Polizisten, Wehrmachtssoldaten, BĂŒrokraten, die den Juden im Osten die Existenzgrundlage entzogen.
MÀnner wie der einfach gestrickte Volksdeutsche Alfons Götzfrid zÀhlen dazu, der Anfang November 1943 abkommandiert wurde und an einem Tag im Raum Majdanek 500 Juden erschoss.
Oder der aus âSchindlers Listeâ bekannte KZ-Kommandant von PlaszĂłw bei Krakau, Amon Göth, der von der Veranda seiner Villa wahllos auf HĂ€ftlinge zielte. Oder Major Wilhelm Trapp, Kommandeur des Reserve-Polizeibataillons 101, der in TrĂ€nen ausbrach, nachdem er seinen MĂ€nnern den Befehl erteilt hatte, jĂŒdische Frauen, Kinder und alte Leute in JĂłzefĂłws bei Warschau zu ermorden.
Miteinander gemein haben diese MĂ€nner so wenig wie mit den anderen TĂ€tern, und das zĂ€hlt zu den beunruhigenden Befunden der Forscher. Sie sind auf Nazis und auf Nicht-Nazis gestoĂen, auf MĂ€nner wie auf Frauen, auf Polizisten, die im âDritten Reichâ sozialisiert wurden, ebenso wie auf Beamte, die im Kaiserreich aufwuchsen, auf Proletarier und auf Akademiker.
Nicht einmal auf Deutsche (und Ăsterreicher) beschrĂ€nkt sich der TĂ€terkreis. Nach Pohls SchĂ€tzungen ist die Zahl der AuslĂ€nder ungefĂ€hr ebenso groĂ. SS und Polizei zogen immer wieder ukrainische, lettische oder andere einheimische Polizisten und HilfskrĂ€fte fĂŒr das blutige Handwerk heran. Wie jene 120 sowjetischen Kriegsgefangenen, die in Treblinka gemeinsam mit einigen Dutzend SS-MĂ€nnern ungefĂ€hr 850 000 Juden ermordeten.
Eine Relativierung deutscher Schuld lĂ€sst sich mit solchen Erkenntnissen freilich schlecht begrĂŒnden. Die Arbeitsteiligkeit unterstreicht nur, dass Deutschland den Judenmord als Staatsziel betrieb - und dabei ĂŒberall UnterstĂŒtzung fand. âKeine Alterskohorte, kein soziales und ethnisches Herkunftsmilieu, keine Konfession, keine Bildungsschicht erwies sich gegenĂŒber der terroristischen Versuchung als resistentâ, resĂŒmiert Gerhard Paul, einer der fĂŒhrenden TĂ€terforscher.
Und so gibt es auch nicht den einen Grund dafĂŒr, dass zwischen Riga und Odessa ganz normale MĂ€nner ihre Opfer auf Lastwagen knĂŒppelten und sie zu HinrichtungsstĂ€tten karrten, dort Frauen und Kindern ins Genick schossen oder Zyklon B in die Gaskammern fĂŒllten.
âEs sind die UmstĂ€nde, die jemanden dazu bringenâ, sagt Kurt Schrimm, Staatsanwalt und Leiter der âZentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur AufklĂ€rung nationalsozialistischer Verbrechenâ in Ludwigsburg, die seit 1958 die Strafverfolgung von NS-TĂ€tern koordiniert. Selbst fanatische Antisemiten brauchten danach ein Umfeld, wie es das âDritte Reichâ schuf, bevor sie ihren Judenhass auslebten.
Das wĂŒrde erklĂ€ren, warum Abertausende das Morden mit dem Untergang des âDritten Reichesâ von einem Tag auf den anderen beendeten - und nie wieder rĂŒckfĂ€llig wurden. Ein GroĂteil fĂŒhrte fortan ein Leben, als wĂ€re nichts geschehen. Unbehelligt von StaatsanwĂ€lten packten sie an beim Wiederaufbau des Landes und grĂŒndeten Familien.
Vielfach ist daraus der Schluss gezogen worden, dass ehemalige SS-Leute, Poliz...