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Die groĂen Aufgaben des Konzils I â Die Einheit der Kirche (causa unionis)
Drei groĂen Aufgaben sah sich das Konzil vor allem gegenĂŒber: der Ăberwindung des Schismas und damit der Wiederherstellung der Einheit der Kirche (causa unionis), der KlĂ€rung von Glaubensfragen (causa fidei) und der Erneuerung der Kirche an Haupt und Gliedern (causa reformationis).
Johannes XXIII. und seine Flucht
Johannes XXIII. war in der festen Ăberzeugung nach Konstanz gereist, das Konzil wĂŒrde ihn nach endgĂŒltiger Absetzung der beiden anderen PĂ€pste, Benedikt XIII. und Gregor XII., als einzig wahren Papst bestĂ€tigen. Seine Obödienz war die mit Abstand gröĂte, seine LegitimitĂ€t stand bei der Pisaner Partei auĂer Frage und Konstanz sollte im Wesentlichen der allseitigen Anerkennung und Durchsetzung des Konzils von Pisa dienen. Die Frage der Kircheneinheit war fĂŒr Johannes lĂ€ngst entschieden. Um hier gar keine neuen Debatten aufkommen zu lassen, sollte sich das Konzil gleich den Angelegenheiten des Glaubens in Form der hussitischen Irrlehren zuwenden.
Doch zwischen November 1414 und MĂ€rz 1415 drehte sich der Wind völlig. Je lĂ€nger der Zuzug von Nichtitalienern auf das Konzil anhielt, desto stĂ€rker wuchsen die Ressentiments gegen eine bloĂe BestĂ€tigung der Pisaner BeschlĂŒsse.
AngefĂŒhrt vom französischen Kardinal Pierre dâAilly und befördert durch das Wirken König Sigismunds emanzipierte sich das Konzil allmĂ€hlich von der Festlegung auf eine Papstlinie. Das begann mit dem ZugestĂ€ndnis, auch Gregor XII. und Benedikt XIII. pĂ€pstliche Ehrbezeugungen zukommen zu lassen, wenn sie denn persönlich nach Konstanz kĂ€men â ein deutliches Zeichen dafĂŒr, dass in Konstanz alle drei PĂ€pste gleich behandelt werden sollten. Ein nĂ€chster RĂŒckschlag fĂŒr Johannes war der Abstimmungsmodus nach Nationen, der die Dominanz seiner zumeist italienischen AnhĂ€nger brach.
Als schlieĂlich Gregor XII. am 25. Januar 1415 seinen freiwilligen RĂŒcktritt offerierte, wenn denn auch seine beiden KontraÂhenten gleichfalls abtrĂ€ten, musste sich Johannes fortan den Vorwurf gefallen lassen, durch seinen Verzicht auf Resignation die Beendigung des Schismas zu verhindern. Pierre dâAilly drĂ€ngte die Pisaner Selbstherrlichkeit argumentativ ins Dilemma: Wer 1409 das Prinzip des freiwilligen und sogar auch erzwungenen RĂŒcktritts der rivalisierenden PĂ€pste anerkannt habe, könne nun in Konstanz kaum gegen die Anwendung desselben Prinzips sein.
Die Ăberzeugung, dass fĂŒr die Einheit der Kirche der gleichzeitige RĂŒcktritt aller drei PĂ€pste erforderlich sei, der in letzter Konsequenz auch durch eine gewaltsame Absetzung herbeigefĂŒhrt werden könne, gewann an immer gröĂerer Wucht, die Johannes als einziger in Konstanz anwesender Papst besonders zu spĂŒren bekam. Polemiken, die seinen unlauteren Lebenswandel und seine Bestechungspraktiken ausmalten, kamen in Umlauf. In dieser fĂŒr ihn zunehmend kritischen Lage rang sich Johannes Anfang MĂ€rz zur Abdankungsbereitschaft durch, bevor er im Verbund mit Friedrich IV. von Habsburg-Tirol in der Nacht vom 20. auf den 21. MĂ€rz aus Konstanz nach Schaffhausen floh, um sich damit dem unmittelbaren Zugriff durch das Konzil und dem Herrschaftsbereich König Sigismunds zu entziehen.
Die Flucht erscheint rĂŒckblickend als durchgeplante Aktion. Kurz nach Mitternacht verlieĂ Friedrich mit dem als Landsknecht verkleideten Papst die Bischofspfalz neben dem MĂŒnster. Unerkannt gelangte Johannes XXIII. durch das Kreuzlinger Tor im SĂŒden aus der Stadt. Es folgte ein gemeinsamer Ritt am SĂŒdufer des Untersees entlang nach Steckborn. Von dort ging es mit dem Schiff den Rhein hinunter bis Stein am Rhein. Hier wechselte der Herzog wieder aufs Pferd und ritt voraus, sodass er in der MorgendĂ€mmerung des 21. MĂ€rz zum Empfang bereitstand, als das Boot mit dem Papst Schaffhausen erreichte.
Das Dekret Haec Sancta
Obwohl sich die Hoffnungen des flĂŒchtigen Papstes Johannes XXIII., das Konzil zu sprengen, nicht unmittelbar erfĂŒllten â nur wenige KardinĂ€le kamen dem Aufruf nach, ihm zu folgen â, hinterlieĂ er in Konstanz eine Versammlung in ErklĂ€rungsnöten. War man ohne Papst noch ein rechtmĂ€Ăiges Konzil?
Es waren dramatische Stunden in Konstanz: König Sigismund verhinderte mit groĂem persönlichen Einsatz und durch Absperrung der Stadt ein schnelles Auseinanderlaufen der Versammlung. Mindestens so wichtig war der Auftritt des bedeutenden Theologen und Kanzlers der Pariser UniversitĂ€t, Jean Gerson. Mit seiner berĂŒhmten Predigt nach dem Jesuswort »Ambulate dum lucem habetis âŠÂ« â »Geht, solange ihr das Licht habt, [âŠ]« (Joh 12,35) wies er am 23. MĂ€rz den verunsicherten Konzilsteilnehmern den Weg, sich eine neue, papstunabhĂ€ngige, mithin konziliaristische Legitimation zu geben. Nicht der Papst, sondern Christus bilde das oberste Haupt der Kirche, und das Generalkonzil als ReprĂ€sentant der Kirche sei weniger eine vom Papst als vielmehr eine vom Heiligen Geist eingesetzte und von Christus her ĂŒberlieferte Norm, der jeder Mensch, auch der Papst, Gehör und Gehorsam schenken mĂŒsse. Die Kirche bzw. das Generalkonzil könne daher auch ohne ausdrĂŒckliche Zustimmung oder Mandate des Papstes, selbst wenn dieser korrekt gewĂ€hlt worden wĂ€re und rechtmĂ€Ăig leben wĂŒrde, in bestimmten FĂ€llen versammelt werden, insbesondere dann, wenn eine schwerwiegende Frage der Kirchenleitung entschieden werden mĂŒsse, der Papst sich aber weigere, ein Generalkonzil einzuberufen.
Gersons Worte bildeten in den nĂ€chsten Tagen den Gegenpol zu den andauernden BemĂŒhungen des geflohenen und nun in Schaffhausen weilenden Papstes, dem zurĂŒckgelassenen Konzil jegliche Berechtigung abzusprechen. Erst zögerlich, dann immer ĂŒberzeugter vertraute man in Konstanz der bisherigen Ungeheuerlichkeit eines papstlosen Konzils. Als am 26. MĂ€rz die erste Sitzung ohne Papst â aber in Gegenwart des Königs â tagte, nahmen nur zwei von zwölf KardinĂ€len (dâAilly, Zabarella) und lĂ€ngst nicht alle Bischöfe teil. Viele KardinĂ€le bestritten im Namen des geflohenen Papstes die RechtmĂ€Ăigkeit dieser Sitzung und verlangten den Verzicht auf die am 30. MĂ€rz angesetzte nĂ€chste Sessio. Doch in leidenschaftlichen Auseinandersetzungen und in Abgrenzung zu den KardinĂ€len, die zeitweilig laut um sich geschrien haben sollen, hielten die deutsche, die französische und die englische Konzilsnation am Termin fest.
Den drĂ€ngendsten Punkt, die papstunabhĂ€ngige AutoritĂ€t des Konzils zu begrĂŒnden, ging das Konzil durch die Abfassung eines Dekrets an, das die konziliaristische Predigt Gersons aufgriff: Das Konzil hat seine Gewalt unmittelbar von Christus und ist im Heiligen Geist â auch ohne Papst â rechtmĂ€Ăig versammelt. Allerdings goss man diese Gedanken in eine dem Kirchenrecht kompatible Form und berĂŒcksichtigte auch die Skeptiker, die eine papstlose Zusammenkunft allenfalls im Falle eines hĂ€retischen Papstes gelten lassen wollten. Als Ergebnis lag am 30. MĂ€rz ein scharfsinniger Kompromiss vor, ein Kunstwerk der Vermittlung, das gewohnheitsgemÀà nach den ersten Worten des Textes mit Haec Sancta tituliert wird.
Doch im unmittelbaren Vorfeld seiner Verabschiedung verlor dieses Dokument bereits einen Teil seiner Wirkkraft, denn ein Paukenschlag ertönte aus Schaffhausen. Johannes machte sich zur abermaligen Flucht Richtung Westen auf, widerrief sein bisheriges angeblich erzwungenes Abdankungsversprechen und verlangte von seinen AnhĂ€ngern, sich unverzĂŒglich zu ihm zu begeben. Wollte der Papst gar nach Frankreich fliehen und das Konzil nach Avignon verlagern? Schon frĂŒher hatte er mit dieser Stadt als seiner Residenz geliebĂ€ugelt. Oder war er auf dem Weg Richtung Mainz, dessen Erzbischof ihm treu verbunden war?
Neuerlich war die Konstanzer Versammlung von der Selbstauflösung bedroht. Abermals musste König Sigismund alle Energie aufwenden, das Konzil beisammenzuhalten und am 6. April zu einer weiteren Sitzung zu versammeln. AngefĂŒhrt von den Gelehrten der Pariser UniversitĂ€t hatten die Konziliaristen in den erregten Debatten nun Oberwasser. Das Dekret Haec Sancta wurde nachgerĂŒstet, indem nun die Reformkompetenz des Konzils auch auf die Kirchenspitze bezogen wurde, ohne eine ausdrĂŒckliche BeschrĂ€nkung auf die Notsituation Âeines papa haereticus. Klare Strafsanktionen fĂŒr nichtbeugewillige PĂ€pste wurden formuliert. In dieser Endfassung wurde das Dekret auf der 5. Sitzung des Konzils mit der Zustimmung aller vier Konzilsnationen, aber der Ablehnung aller KardinĂ€le verabschiedet. In der Folgezeit stieg Haec Sancta zur »Magna Charta des Konziliarismus« auf. Bis heute ziehen sich die Diskussionen, inwieweit das Dekret eine prinzipielle Oberhoheit des Konzils ĂŒber den Papst definiert und welche Verbindlichkeit ihm auĂerhalb der konkreten Notsituation von Schisma und Flucht des Johannes zukommt.