IIINeue identitäre Verortungen jüngerer Generationen
Olivia Kraef-Leicht
Schwarzer Yi, Weißer Yi ?
Jugend, Identität und Tabu im Wandel
In den vergangenen zehn Jahren ist das Thema Ethnizität wieder verstärkt ins Zentrum des internationalen Interesses an China gerückt. Die westliche Medien-und politische Aufmerksamkeit, die dabei vor allem den Autonomiebestrebungen Tibets und Xinjiangs gilt, lässt jedoch die Frage unbeantwortet, inwiefern eine neu erwachte oder erstarkte Ethnizität auch im Rahmen der anderen offiziell anerkannten ethnischen Minderheiten für die Zukunft des multiethnischen Nationalstaats China – und dessen Imagination als solche – eine Rolle spielt. Kleinere ethnische Minderheiten, die über keine übergreifende, einheitsstiftende Ideen vereinende politische Lobby verfügen, bleiben in Analysen, die sich vor allem auf Konflikte und Konfliktpotenzial konzentrieren, leicht auf der Strecke. Allerdings sind es genau diese eher stillen und ‚peripheren‘ Verhandlungen von Identität, speziell ethnischer Identität, die u. a. Aufschluss über die Zukunft des Vielvölkerstaats China geben könnten oder zumindest eine breite Palette an Identitätsentwürfen aufzeigen, welche sich in den kommenden Jahren unter Umständen zu größeren und politisch bestimmenden Trends innerhalb der Kulturen Chinas entwickeln könnten.
Chinas Jugend, insbesondere die Generationen nach 1980, und ihr Verhältnis zum Internet spielt in diesen Verhandlungen von kultureller und politischer Identität eine zunehmend bedeutende Rolle. Als neues Medium, welches herkömmliche Theorien von Kommunikation infrage stellt, bietet auch das vielfach zensierte chinesische Internet nunmehr eine schier endlose Auswahl an Foren, Identitätsangeboten und Plattformen. Im Hinblick auf die Nutzung dieser Plattformen vor allem durch jüngere Mitglieder ethnischer Minderheiten in China stellt sich die Frage, inwiefern diese neuen Ausdrucksmöglichkeiten nicht auch Zeugnisse eines Generationenkonflikts sind, werden in Foren doch teilweise sensitive Themen zur Identität, denen im täglichen familiären und öffentlichen Leben kein Rahmen (mehr) geboten wird, diskutiert.
Anhand der komplexen Konstruktion und Struktur von Identität und dem damit verbundenen Selbstverständnis bei den Nuosu, einer Untergruppe der chinesischen ethnischen Minderheit der Yi, wird im Folgenden eben diese Verquickung aus Identitätssuche und -wandel, Internet und Generationenkonflikt näher beleuchtet. Außerdem soll neben dem Aufzeigen möglicher Implikationen für künftige Identitätskonstitution(en) bei den Nuosu bzw. Yi ein Ausblick auf die Bedeutung von Internetforen im Prozess der Konstitution ethnischer Identität in China gewagt werden.
Internetforen: Neue Räume für die Verhandlung von Identität?
Vor einiger Zeit stieß ich im Rahmen von Recherchen zu verständlichen Darstellungen der Gesellschaftsstruktur der Nuosu vor Gründung der Volksrepublik China auf eine kleine, aber gehaltvolle Zahl an chinesischen Internetforen, in denen junge Nuosu grundlegende Fragen zu Identität auf teilweise sehr direktem Wege austragen. Diese Foren sind offensichtlich Schnittstellen für UserInnen unterschiedlicher ethnischer und, wie im Folgenden erklärt wird, auch Kasten-Zugehörigkeit, die den Austausch über kulturelle und ethnische Identität bei den Yi im Allgemeinen und bei den Nuosu im speziellen ermöglichen. Gleichzeitig können sie als Orte des Ausdrucks von Generationenkonflikt und Identitätsbildung gleichermaßen interpretiert werden.
Im Sinne der Definition von Hipfl (2004) werden Medien, in diesem Falle das Internet, als „Zwischen-Räume“ begriffen, „die sich in den Prozessen der Medienrezeption und der Interaktion mit den Medien herausbilden.“ (Hipfl 2004, 17) Hipfls Begriff des ‚Zwischen‘ soll hier die Komplexität dessen verdeutlichen, was bei und zwischen den UserInnen in den von den Medien zur Verfügung gestellten mentalen Räumen passiert. In der Interaktion mit den Medien entstehen „dabei neue Räume, in denen je spezifische Identitäten der NutzerInnen (re-)konstituiert [sic!] werden. Dies kann darin resultieren, dass Räume und Identitätspositionen eröffnet werden, die in den Medien selbst gar nicht vorhanden oder vorgesehen waren [...]“. (Hipfl 2004, 17) Diese Räume und Identitätspositionen haben wiederum einen direkten Einfluss darauf, wie Identität im Alltag gebildet und aufrechterhalten wird, also auf soziale und kulturelle Performanz. Mit anderen Worten sind „alle Handlungsfelder und Sozialwelten, gesellschaftliche Praktiken, individuelle und kulturelle Sinngebungen [...] heute untrennbar mit Medien verschränkt. Das Leben und die Erfahrungen der Menschen finden somit in und in Bezug zu mediatisierten Welten statt.“ (Tillmann 2010; vgl. dazu Krotz und Friedrich 2001)
Eine besondere Bedeutung erlangen diese medialen und eben u. a. auch virtuellen Räume hinsichtlich der Begriffe von ethnischer Identität oder, wie im vorliegenden Falle, von Ethnizität (‚race‘). Insbesondere im Hinblick darauf, ob die hier besprochenen Foren neue mediale Räume für Identitätskonstruktionen, nicht nur für Chinas Jugend im Allgemeinen, sondern für junge Angehörige ethnischer Minderheiten in China im Speziellen öffnen könnten, bleibt die Frage nach dem Wie und auch nach den Einflüssen, die eine Partizipation in diesen Foren kurz- oder längerfristig auf die Wahrung oder Bildung von Identität im jeweiligen Kontext hat oder haben könnte. Von besonderem Interesse ist dabei, ob das Netz ursprüngliche Identitätskomponenten ersetzen oder ihre Hierarchie neu ordnen kann, oder ob es sogar die Struktur und Mechanismen von Identitätsbildung gänzlich neu konfigurieren könnte – und, damit einhergehend, ob diese Prozesse dem Internet inhärent sind oder, wie Nakamura (2003, 1–2) konstatiert, durch äußere Machtstrukturen bewusst gesteuert und kanalisiert werden.
Laut Manovich (2001) ist das Internet als neues Medium nicht mit den Terminologien oder der Logik herkömmlicher Medien versteh- oder analysierbar (Nakamura 2002, 2–3; Nakamura zitiert im Folgenden aus Manovich 2001). Stattdessen sind hier neue Begriffe, Kategorien und Funktionen entstanden, also eine Neukonfigurierung von Terminologien, die „native to the computer“ sind (Nakamura 2002, 2–3). Diese stellen wiederum den begrifflichen Rahmen, mittels dessen wir das Internet begreifen und beschreiben. Gleichermaßen, und vielleicht noch viel bedeutender, haben diese neuen Begrifflichkeiten direkten Einfluss auf die Neukonfiguration von Kultur und kulturellen Systemen (Manovich 2001, 64; zitiert in Nakamura 2002, 273). Wenn also, wie Manovich impliziert, die dem Computer inhärente Sprache zu einer Neukonfiguration des Denkens (und Fühlens) von Internet-UserInnen und längerfristig damit sogar zu einer Veränderung der Kultur eben dieser UserInnen führt, dann könnte diese Veränderung auch zu einer Re-Hierarchisierung von Identitätskomponenten bei den Nuosu führen.
Auf der Basis von Manovichs Ausführungen betont Nakamura (2002, xiii) die „soziale transformative“ Kraft des Internets. Im Hinblick auf das Verhältnis des Internets zur Transformation der Kategorie ‚Rasse‘ hält sie fest:
The Net changes some things. Images of race on the Net are both „stereotyped“ at times, as in some chat rooms, cyberpunk fictions, and advertisements, and at other times race is deployed in creative coalition building that creates a sense of community and racial identity online.
Für Nakamura (2002, xiii) ist das Internet dabei vor allem ein diskursiver und rhetorischer Ort, an dem ‚Rasse‘ als „effect of the net’s distinctive uses of language“ geschaffen wird.
Im Sinne dieser Definitionen und Konzeptionen von Medien als Orten für Identitätsbildung bergen diese Zwischenräume also nicht nur unmittelbare Implikationen für die Bildung oder Performanz von individueller (ethnischer) Identität, sondern sind de facto auch Orte der Rehierarchisierung von bereits bestehenden Konzepten und Kategorien, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Bildung und Wahrung von Identität stehen. Diese Rehierarchisierung hat nicht nur unmittelbar Relevanz für die UserInnen der Foren, sondern birgt, wie oben beschrieben, unter Umständen größere Konsequenzen für die (Minderheits-)Kultur, der die UserInnen angehören. Eine ‚konfliktfreie‘ Rehierarchisierung von Kultur oder identitätsstiftenden Elementen ethnischer Zugehörigkeit ist dabei in konservativen Kulturbezügen wie denen der Nuosu nur schwer vorstellbar. Ist also das Internet möglicherweise erst aufgrund eines Generationenkonflikts zu einem relevanten Ort für (alternative) Identitätsentwürfe geworden, so ist im Gegenzug auch denkbar, dass sein implizites Rehierarchisierungspotenzial wiederum zu einer Verschärfung nicht nur des Generationenkonflikts, sondern auch der grundlegenden Diskrepanzen innerhalb des kulturellen Gefüges der Nuosu führen könnte.
Hintergründe: Nuosu-Identität im Spiegel der traditionellen Gesellschaftsordnung
Die Nuosu sind eine Untergruppe der chinesischen ethnischen Minderheit der Yi. Heute leben ca. zwei Millionen Nuosu in der Autonomen Präfektur Liangshan, einem bergigen Gebiet im Südwesten der Provinz Sichuan, den angrenzenden autonomen Kreisen Ebian, Mabian und Ninglang (Yunnan) und zunehmend in translokalen urbanen Kontexten wie Chengdu und Beijing. Innerhalb der verhältnismäßig großen Volksgruppe der Yi124 nehmen die Nuosu in vielerlei Hinsicht eine besondere Stellung ein. Geografische Abgeschiedenheit und eine lange Abwehrhaltung gegenüber äußeren Einflüssen, etwa chinesischen Dynastien und Siedlern anderer ethnischer Gruppen, haben zur Ausbildung und ansatzweise zur Bewahrung einer eigenständigen Gruppe von Menschen mit eigener Identität und eigenem kulturellen Erbe beigetragen (so u. a. eigener Sprache und Schrift). Ca. Mitte der 1950er Jahre übernahmen kommunistische Truppen endgültig die Kontrolle über das zentrale Siedlungsgebiet der Nuosu. Nach langwierigen Kämpfen kam so auch die jahrhundertealte soziale Hierarchie zu Fall. Das Clan- und Kastensystem bestand, je nach Lokalität, aus zwei Adelskasten – den nzymo und den sogenannten Schwarzen Yi oder nuoho an der Spitze, darunter den Weißen Yi (qunuo/quho oder gemeines Volk) und den je nach Sichtweise separaten oder in die Kaste der qunuo integrierten zwei Leibeigenen-Kasten der mgajie und gaxi als Unterbau des Ganzen. Da die Adligen ihre Arbeitskräfte ausschließlich aus bei Raubzügen verschleppten Han-Chinesen oder Angehörigen anderer ethnischer Gruppen rekrutierten, wurden die Nuosu im Sinne der marxistischen Neukonfiguration ab 1949 fortan als ‚Sklavenhaltergesellschaft‘ (chin. nuli shehui) begriffen – ein Stigma, dessen sie sich trotz beständiger Bemühungen ihrer politischen und akademischen Eliten bis heute nicht entledigen konnten.
So herrscht zwar in Kreisen chinesischer und westlicher Anthropologen der Konsens, dass die Bezeichnung einer Sklavenhaltergesellschaft nicht gerechtfertigt ist (vgl. Harrell 2001, 4; Heberer 2006, 45), allerdings stellt sich eine exakte Bestimmung dessen, was bis c...