Kinder- und Jugendhilfe
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Kinder- und Jugendhilfe

Grundlagen, Handlungsfelder, professionelle Anforderungen

Peter Hansbauer, Joachim Merchel, Reinhold Schone, Rudolf Bieker

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Kinder- und Jugendhilfe

Grundlagen, Handlungsfelder, professionelle Anforderungen

Peter Hansbauer, Joachim Merchel, Reinhold Schone, Rudolf Bieker

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Die Kinder- und Jugendhilfe ist eines der wichtigsten und der differenziertesten Arbeitsfelder in der Sozialen Arbeit. Dieses Lehrbuch trĂ€gt dieser Vielfalt Rechnung und liefert eine entsprechend umfassende Darstellung: von den grundlegenden konzeptionellen Vorstellungen ĂŒber die zentralen Handlungsfelder und Strukturen bis hin zum professionellen Handeln in den verschiedenen Aufgabenfeldern der Kinder- und Jugendhilfe. Mit der inhaltlichen Ausrichtung an der Leitfrage "Was benötigt man, um eine gute Kinder- und Jugendhilfe zu gestalten?" folgt das Lehrbuch einem klaren Grundsatz. Durch den Vergleich der unterschiedlichen Organisations-, Handlungs- und Kompetenzprofile in den verschiedenen Handlungsfeldern bietet das Lehrbuch den Leserinnen und Lesern sowohl eine fundierte Orientierung als auch alltagstaugliche Hilfen fĂŒr die Arbeitspraxis.

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Information

Year
2020
ISBN
9783170335059

1 Ein historischer Abriss ĂŒber die Entwicklung der Kinder- und Jugendhilfe zu einem eigenstĂ€ndigen System mit rechtlich-institutionell garantierter ZustĂ€ndigkeit

Auch wenn von Jugendhilfe im engeren Sinne erst ab dem 19. Jahrhundert gesprochen werden kann (vgl. Struck/Schröer 2015, 805), so liegen deren AnfĂ€nge bereits mehr als ein halbes Jahrtausend zurĂŒck – mindestens seit dieser Zeit existieren Formen von Anstaltserziehung. WĂ€hrend dieses Zeitraums unterlag die Wahrnehmung des eigentlichen Bezugsproblems – als â€șproblematischâ€č geltende Kinder und Jugendliche bzw. solche, die in â€șproblematischenâ€č Situationen aufwachsen – einer Vielzahl unterschiedlicher, oftmals lokal uneinheitlicher und zeitgebundener Deutungsweisen. Und ebenso unterschiedlich wie die Wahrnehmung des PhĂ€nomens im Zeitverlauf waren auch die AnsĂ€tze fĂŒr dessen Bearbeitung. FĂŒr das VerstĂ€ndnis des Systems der heutigen Kinder- und Jugendhilfe ist es gleichermaßen notwendig, sowohl organisatorische Differenzierungs-, Spezialisierungs- und Verflechtungsprozesse genauer zu betrachten als auch diese Prozesse auf VerĂ€nderungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu beziehen, die in ihrer Dynamik oft weit ĂŒber konkrete VerĂ€nderungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe hinausweisen. Erst vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen, sich wechselseitig beeinflussenden und bedingenden Entwicklungen – d. h. nur im Zusammenspiel von internen Dynamiken und extern gegebenen â€șMöglichkeitshorizontenâ€č – wird deutlich, wie sich die Kinder- und Jugendhilfe sukzessive als System etablieren konnte, das sich durch einen eigenstĂ€ndigen, rechtlich-institutionell garantierten ExklusivitĂ€tsanspruch auszeichnet. Dabei wird deutlich werden, dass diesem Prozess keine ZwangslĂ€ufigkeit oder ein bestimmtes Telos zugrunde liegt. Vieles an dieser Entwicklung ist zufĂ€llig, abhĂ€ngig von einzelnen Personen und ihren Ideen, von KĂ€mpfen, Siegen und Niederlagen, von den Interessen der MĂ€chtigen und deren Verwobenheit in grĂ¶ĂŸere ZusammenhĂ€nge. An zentralen Wegscheiden wĂ€ren deshalb oftmals Alternativen denkbar gewesen – Entwicklungspfade, die aus heutiger Sicht vielleicht einsichtiger oder funktionaler gewesen wĂ€ren und erst in der Retrospektive und der Rekonstruktion der beteiligten Interessen verstĂ€ndlich werden. Jedoch wird beim Blick zurĂŒck ein Muster erkennbar, das vielleicht typisch ist fĂŒr ein Staatsgebiet, das einstmals eine Ansammlung weitgehend unabhĂ€ngiger Staaten auf dem Boden des deutschen Reiches war und heute in einer föderal strukturierten Bundesrepublik weiterlebt: Immer wieder folgt die Praxis Eigengesetzlichkeiten, die Antworten auf lokale Erfordernisse oder das Ergebnis mikropolitischer Prozesse darstellen. Die HeterogenitĂ€t des Staatswesens und der politischen Strukturen machten und machen Deutschland in der Kinder- und Jugendhilfe, wenn man es denn so nennen will, zu einem â€șInnovationsinkubatorâ€č par excellence. Hingegen sind die Beispiele, bei denen sich belegen lĂ€sst, dass Gesetzesnovellen zu Innovationen gefĂŒhrt haben, Ă€ußerst rar gesĂ€t. Die Regel ist eine andere: Immer wieder schreitet die Praxis voran, wĂ€hrend der Gesetzgeber diese Praxis hinterher zusammenfasst, systematisiert, vereinheitlicht und manchmal erst legalisiert. Kennzeichnend fĂŒr die Entwicklung der deutschen Kinder- und Jugendhilfe ist daher, dass Strukturen i. d. R. schon bestanden, bevor sie formal, in kodifizierter Form als Gesetz, umfassenden Erwartungscharakter annahmen.

1.1 Erste organisatorische Differenzierungen – FĂŒrsorge im ausgehenden Mittelalter (bis ca. 1500)

In der mittelalterlichen Feudalgesellschaft erfolgte die Versorgung hilfsbedĂŒrftiger Kinder – vor allem der Waisen – noch ĂŒberwiegend im Rahmen verwandtschaftlicher Bindungen. Eine Ausnahme bildeten lediglich diejenigen Kinder, deren Sippe oder Familie nicht zu ermitteln war, sog. »Findelkinder«, also verlassene, ausgesetzte oder verlorene Kinder mit unbekannter Abstammung. Wenn man diese Kinder nicht erbĂ€rmlich zugrunde gehen lassen wollte, was oft genug geschah, mussten sie durch das Gemeinwesen versorgt werden (Sauer 1979, 8). Ihre Versorgung erfolgte im Allgemeinen in der universellen FĂŒrsorgeeinrichtung des Mittelalters: dem Hospital. Dort wurden Findelkinder, meist gemeinsam mit anderen hilfsbedĂŒrftigen Gruppen – z. B. alte Menschen, Kranke sowie körperlich und geistig Behinderte – abgesondert von der ĂŒbrigen Bevölkerung untergebracht (Scherpner 1979, 18). Aus heutiger Sicht mag diese unspezifische organisatorische Wahrnehmung von Kindern im Kontext allgemeiner HilfsbedĂŒrftigkeit ĂŒberraschen, vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, in der Kindheit und Jugend als eigenstĂ€ndige Lebensphase praktisch unbekannt war (vgl. AriĂšs 1985), erscheint sie jedoch nur konsequent:
»Sobald ein Kind sich allein fortbewegen und verstĂ€ndlich machen konnte, lebte es mit den Erwachsenen in einem informellen natĂŒrlichen â€șLehrlingsverhĂ€ltnisâ€č, ob dies nun Welterkenntnis oder Religion, Sprache oder Sitte, SexualitĂ€t oder Handwerk betraf. Kinder trugen die gleichen Kleider, spielten die gleichen Spiele, verrichteten die gleichen Arbeiten, sahen und hörten die gleichen Dinge wie die Erwachsenen und hatten keine von ihnen getrennten Lebensbereiche« (von Hentig 1985, 10).
Erst als das mittelalterlichen Spitalwesen anfing, sich allmĂ€hlich organisatorisch auszudifferenzieren, und erst, als vor allem infolge epidemisch sich ausbreitender Krankheiten gesonderte Krankenanstalten geschaffen wurden, wurde auch die KinderfĂŒrsorge zunehmend aus dem allgemeinen Spitalwesen ausgelagert.
Die in dieser Zeit im Entstehen begriffenen »Findel- und WaisenhĂ€user« waren jedoch zunĂ€chst reine Versorgungseinrichtungen, in denen die Kinder i. d. R. so lange aufgezogen wurden, bis sie selbstĂ€ndig genug waren, um wie andere Arme Almosen zu erbetteln. Von einem eigentlichen Erziehungsauftrag, der unserem heutigen VerstĂ€ndnis von Erziehung gerecht wĂŒrde, kann deshalb im Mittelalter keine Rede sein (Scherpner 1979, 26).
Vielmehr wurde die KinderfĂŒrsorge bis ins 17. und 18. Jahrhundert hinein primĂ€r im Kontext der Armenfrage – und damit primĂ€r unter Versorgungs- und Sanktionsaspekten – gesellschaftlich wahrgenommen und öffentlich bearbeitet. Dennoch ist diese erste organisatorische Differenzierung beachtenswert, weil sie dazu beitrug, Kinder und Jugendliche dauerhaft aus dem Bereich der allgemeinen FĂŒrsorge herauszulösen und in speziell dafĂŒr geschaffenen Organisationen zu versorgen.

1.2 Ausgrenzung und Sozialdisziplinierung – Armenpolitik und KinderfĂŒrsorge am Beginn der Neuzeit (1500–1650)

Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit war politisch, ökonomisch und sozial durch tiefgreifende UmbrĂŒche charakterisiert und mit erheblichen Auswirkungen auf das damalige FĂŒrsorgewesen verbunden (Sauer 1979, 10). Die Auflösung der relativ statischen mittelalterlichen StĂ€ndeordnung, Katastrophen, Hungersnöte und Kriege sowie insbesondere die großen Pestepidemien, die ganz Europa in der Mitte des 14. Jahrhunderts heimsuchten, fĂŒhrten zur Herauslösung grĂ¶ĂŸerer Bevölkerungsteile aus tradierten Sozialbindungen und zu einem Anwachsen der Armut. Letzteres fĂŒhrte mittelfristig zu einer Überforderung des kirchlichen Almosen- und Spitalwesens in den StĂ€dten. Infolgedessen ging die Armenpflege nach und nach von kirchlichen Einrichtungen auf die StĂ€dte ĂŒber, die allmĂ€hlich die Aufsicht ĂŒber die Gesamtheit aller die Stadt betreffenden Aufgaben, inklusive des Armenwesens, ĂŒbernahmen (Amthor 2012, 53 ff.). Hatte das Betteln bzw. das Almosengeben in der katholisch geprĂ€gten Gesellschaftsordnung des Mittelalters noch eine klar umrissene Bedeutung fĂŒr die jenseitigen Heilserwartungen der Reichen (Dort 2014), wurde es nun immer stĂ€rker als gesellschaftliche Bedrohung wahrgenommen, und die StĂ€dte gingen sukzessive zu einer restriktiveren Armenpolitik ĂŒber, bei der das Betteln verboten oder stark eingeschrĂ€nkt wurde. Ab dem Ende des 14. Jahrhunderts wurden in den hierzu erlassenen Bettelordnungen erstmals Kriterien entwickelt, um die tatsĂ€chlich BedĂŒrftigen von den (vermeintlichen) Simulanten und (potenziell) arbeitsfĂ€higen Armen, die zur Arbeit gezwungen werden konnten, zu unterscheiden. Bettelabzeichen, die offen zu tragen waren, dienten gleichfalls der Unterscheidung zwischen ortsansĂ€ssigen und nicht ortsansĂ€ssigen Bettlern (Schilling/Klus 2015, 26 f.), also der Unterscheidung zwischen legitimen und nicht legitimen AnsprĂŒchen.
Im Gefolge religiöser UmbrĂŒche im Zuge der Reformation und einem Erstarken humanistischer Ideen kam es praktisch zeitgleich mit der Reform des Armenwesens zu einer stetigen »Aufwertung« der Berufsarbeit. Selbst wenn der Einfluss dieser neuen Ideen auf das FĂŒrsorgewesen nicht genau zu bemessen ist, so lag die Leistung der Reformation zuvorderst darin, »dass im Kontrast gegen die katholische Auffassung der sittliche Akzent und die religiöse PrĂ€mie fĂŒr die innerweltliche, beruflich geordnete Arbeit mĂ€chtig schwoll« (Weber 1988, 74). Als Folge dieses weitreichenden gesellschaftlichen Einstellungswandels setzte sich nun auch in der FĂŒrsorge zunehmend der Gedanke einer Arbeitspflicht fĂŒr Arme durch (Scherpner 1979, 27 ff.), und bereits die zweite NĂŒrnberger Bettelordnung von 1478 enthielt die Forderung, Kinder nicht mehr nur aufzuziehen, bis sie selbst ihren Lebensunterhalt erbetteln konnten, sondern sie dazu zu befĂ€higen, »sich ohne Almosen, nur durch ihre eigene Arbeit zu unterhalten« (Schilling/Klus 2015, 26). Dazu wurden ihnen von der Stadt ArbeitsplĂ€tze vermittelt.
Umfassend theoretisch ausgearbeitet wurde diese Position durch den spanischen Humanisten Juan Luis Vives, der in seiner 1526 erschienenen Schrift De subventione pauperum entschieden den Gedanken einer systematischen Arbeitserziehung formulierte:
»Der einzige Weg ist die planmĂ€ĂŸige erziehende BemĂŒhung um den einzelnen Armen. Mit der UnterstĂŒtzung und durch die UnterstĂŒtzung soll der Arme erzogen und, wenn er arbeitsfĂ€hig ist, zur Arbeit erzogen werden. Der innere Kern allen fĂŒrsorgerischen Handelns ist die Erziehung zur Arbeit« (Scherpner 1979, 28).
Begreiflicherweise musste eine so verstandene FĂŒrsorge, wenn sie Erfolg haben wollte, vor allem bei den Kindern einsetzen. Vives forderte daher, die Erziehung der Findel- und Waisenkinder, zusammen mit den Kindern der Armen, dem Gemeinwesen zu unterstellen, das diese Kinder in einer öffentlichen, internatsĂ€hnlichen Schule unterrichten sollte (Schmidt 2014, 81 ff.). Selbst wenn es zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Reihe von Findel- und WaisenhĂ€usern gab, die darum bemĂŒht waren, zumindest den Jungen eine Bildung und Ausbildung zu verschaffen, blieb die allgemeine Praxis der Armenkinder-Erziehung jedoch weit hinter diesen programmatischen AnsprĂŒchen zurĂŒck (Röper 1976, 102).
Interessant ist die Reform der stĂ€dtischen ArmenfĂŒrsorge im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert aber noch aus einem anderen Grund: Sie beendete nĂ€mlich die Phase der bloßen Ausgrenzung und leitete, wie Sachße/Tennstedt (1980, 38) zusammenfassend feststellen, »den Prozess der â€șSozialdisziplinierungâ€č der untersten Bevölkerungsschichten der spĂ€tmittelalterlichen Gesellschaft, ihre Erziehung zu Arbeitsdisziplin, Fleiß, Ordnung und Gehorsam« ein. Mit diesen frĂŒhen AnsĂ€tzen zur Disziplinierung der Armenbevölkerung durch Erziehung wird ein neues Muster in der organisierten Bearbeitung sozialer Probleme erkennbar: Bedeutete »FĂŒrsorge« bis dahin zumeist die dauerhafte rĂ€umliche und soziale Entfernung aus der Gemeinschaft, so hat etwa Foucault am Beispiel des gesellschaftlichen Umgangs mit geistig Behinderten (1969) und StraftĂ€tern (1977) exemplarisch herausgearbeitet, dass FĂŒrsorge und Sozialdisziplinierung im 17. und 18. Jahrhundert immer stĂ€rker einen inklusionsvermittelnden Charakter annahmen: Ausgrenzung, bis dahin Selbstzweck, wird nun zu einem Mittel, das die Voraussetzungen fĂŒr eine erneute Inklusion in den Sozialzusammenhang der Gesellschaft zu einem spĂ€teren Zeitpunkt schafft, indem der Ausgegrenzte sich bessern soll, wĂ€hrend er ausgegrenzt ist.
Europaweit scheitert die breite Durchsetzung einer allgemeinen Arbeitspflicht fĂŒr Arme allerdings vor allem an dem vorhandenen Überangebot an verfĂŒgbarer Arbeitskraft, dem kein entsprechender Bedarf gegenĂŒberstand. Mit dem Aufkeimen frĂŒhkapitalistischer Wirtschaftsformen und dem Entstehen einzelner Manufakturbetriebe am Ende des 16. Jahrhunderts Ă€nderte sich dies allmĂ€hlich:
Bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts wurden in England, zur Behebung des Armutsproblems und zur Sicherung des einsetzenden ArbeitskrĂ€ftebedarfs, bei gleichzeitigem Verbot des Bettelns vereinzelt Anstalten geschaffen, in denen umherziehende Arme unter Anwendung hĂ€rtester Körperstrafen zur Arbeit gezwungen wurden. Nach und nach entwickelte sich in den damaligen Zentren des Kapitalismus – England, Frankreich und Holland – ein Anstaltstypus ganz neuer Art: das Zucht- oder Arbeitshaus (Scherpner 1979, 40 ff.).
Auch in den alten HandelsstĂ€dten Hamburg, Bremen und LĂŒbeck wurden bald Anstalten des â€șneuenâ€č Typs geschaffen. Diese waren, bedingt durch die engen Handelsverflechtungen mit den Niederlanden, vor allem an hollĂ€ndischen Vorbildern orientiert. Dort verlief die Entstehung der ZuchthĂ€user, anders als in Frankreich und England, teilweise unabhĂ€ngig von der allgemeinen ArmenfĂŒrsorge. Beeinflusst durch humanistische und reformatorische Glaubensvorstellungen sah der niederlĂ€ndische »Sonderweg« eine getrennte Behandlung jugendlicher StraftĂ€ter und verwahrloster Jugendlicher vor, die im »tuchthuis« durch strenge Zucht und schwere Arbeit moralisch gebessert und zu nĂŒtzlichen Gliedern der Wirtschaftsgesellschaft erzogen werden sollten. Im Gegensatz zu Frankreich und England war Arbeitserziehung in den Niederlanden also vorwiegend an wirtschaftspolitischen und pĂ€dagogischen – nicht armenpolizeilichen und disziplinierenden – Überlegungen orientiert (ebd., 58 ff.). Insgesamt waren aber die Voraussetzungen im konfessionell wie politisch zersplitterten Deutschland fĂŒr den â€șneuenâ€č Anstaltstyp eher ungĂŒnstig. Er setzte sich dort erst verspĂ€tet, mit dem Ende des DreißigjĂ€hrigen Krieges, allmĂ€hlich durch. Zu diesem Zeitpunkt war es vor allem der massive, kriegsbedingte BevölkerungsrĂŒckgang und der notwendige ökonomische Neuaufbau, die das Interesse der Obrigkeit an der wirtschaftlichen Nutzung kindlicher Arbeitskraft anwachsen ließ. Dabei gingen hĂ€ufig die Interessen einzelner Kapitalgeber Hand in Hand mit den Interessen der jeweiligen Landesherren an der EinfĂŒhrung und Entwicklung neuer Produktionszweige, wĂ€hrend pĂ€dagogische Überlegungen in den Hintergrund traten.

1.3 Kommunale und private KinderfĂŒrsorge unter dem Einfluss von Pietismus und AufklĂ€rung (1650–1820)

Neue Impulse erhielt die Anstaltserziehung in Deutschland nach dem DreißigjĂ€hrigen Krieg durch das Aufkommen des Pietismus. Der Pietismus, wurzelnd im lutherischen Protestantismus, betonte vor allem die persönliche GlaubensĂŒberzeugung und Frömmigkeit sowie die Verantwortung des Einzelnen fĂŒr sein Seelenheil. Dazu gehörte auch die aktive Befassung mit dem Wort Gottes. Auf diese Weise formulierte der Pietismus gleichzeitig die Programmatik fĂŒr die grundlegende Bildung breiter Schichten, denn die individuelle Befassung mit der ĂŒbersetzten Bibel erforderte Kenntnisse im Lesen und förderte SekundĂ€rtugenden wie PĂŒnktlichkeit, Arbeitsamkeit, Bescheidenheit, Ordnung und PflichtgefĂŒhl. Die fĂŒr die Kinder- und JugendfĂŒrsorge wohl wichtigste Person des Pietismus war August Hermann Francke (1663–1727), der um 1695 damit begann, die spĂ€teren »Halleschen Anstalten« aufzubauen, in denen die Kinder, getreu seiner pietistischen Überzeugung, wonach erst Bildung den Zugang zu Gott ermögliche, auch eine Schulbildung erhielten, selbst wenn das vorrangige Ziel von Franckes Arbeit mit den Kindern das »Einpflanzen der wahren Gottseligkeit« war. Um einen Teil der Unterhaltskosten selbst bestreiten zu können, vor allem aber, um sie vor den »Verlockungen der Welt« zu schĂŒtzen, sollten die Kinder in den Anstalten unter stĂ€ndiger Aufsicht stehen und allzeit nĂŒtzlich beschĂ€ftigt werden, um sie, frĂŒh an Arbeit gewöhnt, entsprechend ihren Neigungen und FĂ€higkeiten auf die Berufsarbeit vorzubereiten (Röper 1976, 107 ff.).
Von zentraler Bedeutung fĂŒr die Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe ist Francke aber weniger wegen seines pĂ€dagogischen Programms und der vielfach auf ihn zurĂŒckgehenden Armenschulen, sondern vielmehr deshalb, weil mit ihm ein völlig neuer Organisationstyp in die Geschichte der Kinder- und JugendfĂŒrsorge eintritt: Lag bisher die Verantwortung fĂŒr die Versorgung von SchutzbedĂŒrftigen bei den StĂ€dten, den Landesherren oder kirchlichen Einrichtungen, so bemĂŒht sich mit Francke erstmals ein Einzelner, angetrieben von religiösen Motiven, um die Beseitigung sozialer NotstĂ€nde und grĂŒndet dafĂŒr eine besondere Einrichtung, wobei die finanzielle UnterstĂŒtzung von Gesinnungsfreunden den Bestand der Einrichtung sicherstellte (Scherpner 1979, 72 f.). Francke war also, wenn man einen Begriff von Howard S. Becker heranziehen will, der erste erfolgreiche »Moralunternehmer« (Moral Entrepreneur) auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendhilfe. Seine Einrichtung stand Pate fĂŒr viele weitere, Ă€hnlich geartete Institutionen. Das so entstandene Nebeneinander privater, ĂŒberwiegend religiös motivierter FĂŒrsorge und staatlicher bzw. kommunaler FĂŒrsorge sollte bis in die Gegenwart hinein bestimmend bleiben fĂŒr die deutsche Kinder- und Jugendhilfe...

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