Europas Stunde
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Europas Stunde

Der Kampf der groβen Mächte und die Renaissance eines unterschätzten Kontinents

Torsten Riecke

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Europas Stunde

Der Kampf der groβen Mächte und die Renaissance eines unterschätzten Kontinents

Torsten Riecke

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Europa und der Westen stehen im Herbst 2020 vor einer historischen Weichenstellung. Sollte die "Ära Trump" keine vorübergehende Laune der Geschichte gewesen sein und sich der Kampf der Giganten USA und China um die Weltherrschaft weiter radikalisieren, könnte dies die westlich orientierte Staatengemeinschaft Europas zerreiben.Den kalten Wirtschaftskrieg zwischen den dominierenden Nationen China und USA, das Wettrennen um die Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts und den Wettstreit konkurrierender Gesellschaftsentwürfe um die Köpfe und Herzen seiner Bürger, all dies kann Europa nicht allein entscheiden. Aber es hat die intellektuelle, politische, wirtschaftliche und historische Potenz, einen dritten Weg, ein interessantes Alternativmodell zum bisherigen entweder "China" oder "USA" zu entwickeln. Die Renaissance Europas könnte seine Menschen und Nationen zu einer neuen, ungeahnten Blüte zurückführen und die Welt erneut inspirieren.

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Teil I: Aufstieg und Fall der großen Mächte im digitalen Zeitalter

Prolog

Noch zehn Minuten, um die Welt zu retten. Unerbittlich zeigt mir die digitale Uhr links auf dem schlichten Holztisch an, dass die Zeit abläuft. Was tun? 200 nuklear bestückte Interkontinentalraketen rasen unaufhaltsam auf Amerika zu. Vor mir liegen drei Handlungsoptionen, die sich nur dadurch unterscheiden, dass die prognostizierten Opferzahlen um zig Millionen Menschenleben schwanken. Wie auch immer ich mich entscheide, das Ende der Welt, so wie wir sie kennen, scheint sicher. »Ich brauche jetzt eine Entscheidung«, verlangt der uniformierte Chef der Streitkräfte auf einem Video-Bildschirm vor mir. Auf dem Bildschirm daneben philosophiert der Nationale Sicherheitsberater über die Motive des Angreifers, zu dem es keine Verbindung gibt. Der Monitor rechts davon flimmert nur noch – so wie mein Herzschlag etwa. Noch vier Minuten, um einen nuklearen Gegenschlag anzuordnen. Doch gegen wen? Nur Russland kommt als Angreifer in Frage, niemand sonst verfügt über eine so große Zahl von Interkontinentalraketen mit Atomsprengköpfen. »Wir haben neue Informationen«, ruft der General von der Videowand, »es hat heute Nacht eine Cyberattacke gegeben. Wir können also nicht mehr hundert Prozent sicher sein, dass der Nuklearangriff wirklich stattfindet.« Was nun? Noch zwei Minuten bis zum Einschlag der Raketen, die es womöglich gar nicht gibt. Ich entscheide, einfach abzuwarten – in der Hoffnung, dass dies alles nur ein digitaler Albtraum ist.
»Das war’s«, sagt Sharon Weiner und nimmt mir die schwere Virtual Reality (VR)-Brille mit den Kopfhörern vorsichtig aus den Händen. Der digitale Albtraum ist zu Ende. »Wir wollten Ihnen zeigen, in welch unmöglicher Stresssituation sich ein amerikanischer Präsident heute bei einem Nuklearangriff befinden könnte«, erklärt mir die Professorin von der American University in Washington. Sie arbeitet für »Global Zero«, eine internationale Organisation für die Abschaffung der Nuklearwaffen. Die VR-Simulation eines Nuklearangriffs auf Amerika soll mit dazu beitragen, dass der öffentliche Druck auf die Atommächte wächst, ihre Vernichtungswaffen zu strecken. Ich verlasse den schmucklosen Raum auf der Empore des Münchner Luxushotels »Bayerischer Hof« und tauche mit einem mulmigen Gefühl in die Schar aus Politikern, Wissenschaftlern und Militärs der »Munich Security Conference« (MSC) ein: Zwar hatte ich Szenen eines nuklearen Showdowns schon in einigen Katastrophenfilmen wie »War Games« gesehen. Erschreckt hat mich jedoch, wie sich hier die Risiken der alten Atomwaffen des 20. Jahrhunderts durch eine virtuelle Cyberattacke des 21. Jahrhunderts potenzieren. Der erste Kalte Krieg trifft quasi auf den neuen kalten Technologiekrieg. Eine Bemerkung von Ren Zhengfei, dem Gründer des umstrittenen chinesischen Hightech-Konzerns Huawei, über die kommende, fünfte Generation der digitalen Mobilfunktechnik (5G) kommt mir in den Sinn: »Für Amerika ist das eine Art neue Atombombe.«

Der andere Kalte Krieg

Für Kai-Fu Lee ist der neue »Rüstungswettlauf« bereits entschieden. Der 57-jährige Chinese gibt Europa keine Chance mehr. Und das macht er mit einer Selbstverständlichkeit, die kaum Zweifel am Urteil des Technologie-Gurus zulässt. Die Europäer, so Lees Kassandra-Ruf, könnten im globalen Wettrennen um die Zukunftstechnologien am Ende sogar »leer ausgehen«. Es ist Ende Januar 2019 und die Mächtigen und Möchtegern-Mächtigen der Welt gönnen sich beim »World Economic Forum« (WEF) im tiefverschneiten Davos ihre alljährliche Denkpause. Grund dafür gibt es mehr als genug: Handelskriege, Bürgerkriege, Währungskriege und jetzt auch noch ein »Tech War«. Die Welt ist ziemlich in Unordnung geraten. Und der technologische Wandel spielt dabei eine zentrale, womöglich sogar die entscheidende Rolle. Lee gehört auf dem Davoser Jahrmarkt der Eitelkeiten zu den gefragtesten Hellsehern der Welt von Morgen. Dass ausgerechnet er ein vernichtendes Urteil über Europa fällt, hat durchaus symbolische Bedeutung: Lee ist in Taiwan geboren, hat für die US-Giganten Apple, Microsoft und Google Pionierarbeit bei der Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) im Silicon Valley geleistet und sucht heute mit seinem Risikokapitalfonds »Sinovation Ventures« in China nach »the next big thing« – also nach der nächsten bahnbrechenden Erfindung. In Person und Biografie verkörpert der Chinese mit dem amerikanischen Pass damit die beiden Machtzentren der Tech-Welt: China und die USA. Im Titel seines 2018 erschienenen Bestsellers »AI Superpowers: China, Silicon Valley, and the New World Order« kommt Europa schon gar nicht mehr vor.
Für europäische Ängste vor einem »Big Brother«, sei es im Gewand von Facebook oder der Kommunistischen Partei (KP) Chinas, hat Lee wenig Verständnis. »Die Debatte über mögliche Gefahren Künstlicher Intelligenz hat paranoide Züge angenommen«, moniert er in Davos in kleiner Runde und meint damit vor allem europäische Bedenkenträger. In seinem dunkelgrauen Anzug und seiner weinroten Krawatte ähnelt Lee eher einem Investmentbanker denn einem Computer-Nerd. Kühl und ohne Mitleid fällt er sein Urteil über Europas technologische Schwäche. Dass einer der renommiertesten Technologie-Experten der Welt mit weltweit über 50 Millionen Fans in den sozialen Netzwerken ausgerechnet jenen Kontinent abschreibt, dem die Welt die Aufklärung und moderne Wissenschaft verdankt, ist zwar noch kein Todesurteil, aber eine letzte Warnung für Europa ist es schon. »Wir kämpfen um unsere Souveränität. Wenn wir nicht in allen Gebieten, den digitalen wie der Künstlichen Intelligenz, unsere eigenen Champions aufbauen, dann werden unsere Entscheidungen von anderen diktiert«, redet wenig später der französische Präsident Emmanuel Macron den »Movern & Shakern« aus Europa ins Gewissen.
Die Warnung kommt zur rechten Zeit. Wandelt sich unsere Welt doch gerade dramatisch. Der Aufstieg Chinas hat zu einer nachhaltigen Machtverschiebung von West nach Ost geführt und damit einen Machtkampf auf globaler Ebene ausgelöst. Das aufstrebende Reich der Mitte mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern ist, gemessen an internationalen Kaufkraftparitäten, bereits heute die größte Volkswirtschaft der Welt und hat damit die USA überholt. Ein Drittel des globalen Wachstums kommt heute aus China – das ist mehr als die USA, Europa und Japan zusammen erarbeiten. Deutschland verkauft, gemessen an der eigenen Wirtschaftsleistung, heute fast so viel Waren nach China wie in die USA. Für Südkorea, Australien und Japan ist China bereits jetzt der wichtigste Exportmarkt. Unter den zehn wertvollsten Technologieunternehmen der Welt befinden sich immer noch sechs amerikanische, aber bereits zwei chinesische Konzerne. Weit abgeschlagen auf Platz zwölf folgt mit dem deutschen Softwareanbieter SAP das erste europäische Unternehmen. Der chinesische Telekomausrüster Huawei ist zum Weltmarktführer aufgestiegen und spielt für den Aufbau des neuen, für Wohlstand und technologischen Fortschritt so wichtigen Mobilfunkstandards 5G eine ebenso zentrale wie umstrittene Rolle. Smart Cities, autonomes Fahren, Smart Grids – all das geht nicht ohne 5G. Huaweis Konkurrenten Ericsson aus Schweden und Nokia aus Finnland sind immerhin noch im Rennen, doch die Nordamerikaner haben nach dem Untergang ihrer Telekomausrüster, Nortel aus Kanada und Lucent aus den USA, ihre Kompetenz in dieser Schlüsseltechnologie weitgehend verloren.
Machtwechsel zwischen Großmächten verlaufen nie friedlich. Auch diesmal nicht. Mit einer Mischung aus Protektionismus und Nationalismus stemmen sich die USA unter ihrem Präsidenten Donald Trump gegen den immer stärker spürbaren Machtverfall. Es ist durchaus noch nicht ausgemacht, dass die Pax Americana, die seit dem Zweiten Weltkrieg den Lauf der Welt bestimmt hat, im 21. Jahrhundert durch eine Pax Sinica abgelöst wird. Die USA sind nach wie vor die größte Militärmacht der Welt und in vielen Technologien immer noch führend. Amerika und China ringen weltweit um die modernen Insignien der Macht: um wirtschaftliche Stärke, militärische Überlegenheit, politischen Einfluss, vor allem aber um technologische Dominanz. Denn sie ist der Schlüssel zu wirtschaftlichem Wohlstand und militärischer Überlegenheit in einer digitalisierten Welt. Der Titel von Lees Buch macht deutlich, dass es dabei um mehr geht, als um die Kinder und Enkel von Alexa und Siri, den intelligenten Sprachassistenten von Amazon und Google. Um viel mehr. Es geht um eine neue Weltordnung, also um die Frage, wer künftig die Welt beherrscht und ihre Standards, Werte und Regeln bestimmt. Dass Lee dabei China und die großen amerikanischen Technologie-Konzerne aus dem Silicon Valley als die eigentlichen Kontrahenten sieht, ist durchaus kein Zufall. »Entweder China oder wir«, stellte Facebook-Chef Mark Zuckerberg amerikanische Kongressabgeordnete bei einer Anhörung im Herbst 2019 vor die Wahl, wem sie in Zukunft vertrauen wollten. Und der Politikberater Ian Bremmer von der »Eurasia Group« in New York ergänzt: »Der Kalte Krieg mit China wird sehr wenig mit militärischer Macht zu tun haben. Es geht um wirtschaftliche Stärke und technologische Überlegenheit. Und um die Stärke und Effektivität zweier radikal unterschiedlicher politischer Systeme.«
Was für die Großmächte früher ihre Nuklearwaffen waren, sind heute Zukunftstechnologien wie der neue Mobilfunkstandard 5G, die Daten-Cloud, Künstliche Intelligenz oder das Quanten-Computing. »Wer die Künstliche Intelligenz beherrscht, regiert die Welt.« Nicht zufällig hat ausgerechnet Wladimir Putin diese neue Formel der Macht im 21. Jahrhundert formuliert. Der russische Präsident gilt als der Staatschef mit den größten Machtinstinkten, sein Land hat allerdings nur Außenseiterchancen, im Wettrennen der großen Mächte ganz vorne mitzumischen. Wirtschaftliche Stärke, vor allem aber technologische Überlegenheit sind heute Voraussetzungen für nationale Sicherheit. Früher galt »Wandel durch Handel« als Friedensformel, heute ist der Handel eine wichtige »Waffe« im Ringen mächtiger Nationalstaaten um globale Dominanz. Aus der liberalen, regelbasierten, vom Westen geprägten Nachkriegsordnung ist eine »Arena« geworden, in der jeder gegen jeden um den eigenen Vorteil ringt, und dabei gilt nur ein Recht: das des Stärkeren. »Ich zuerst«, ruft der neue Zeitgeist. Europa hat darauf noch keine Antwort gefunden. Zwar hat sich die neue EU-Kommission unter der deutschen CDU-Politikerin Ursula von der Leyen selbst das Prädikat »geopolitische Kommission« gegeben und die Europäer aufgefordert, die »Sprache der Macht zu lernen«. Darin steckt zwar der richtige Wunsch, dass Europa sich im Powerplay der Großmächte behaupten muss. Wie die Europäische Union (EU), die in wesentlichen Fragen oft uneins und vom Populismus innerlich und dem Brexit Großbritanniens äußerlich geschwächt ist, ihre wirtschaftliche und politische Macht wirksam einsetzen will, darauf gibt es weder in Brüssel noch in den europäischen Hauptstädten bislang eine Antwort.
Was von der Leyen anmahnt, dürfte vielen Europäern und insbesondere vielen Deutschen gegen den Strich gehen. Für sie ist die EU ein Gegenentwurf zur Machtpolitik des frühen 20. Jahrhunderts, die den Kontinent verwüstet hat. Das Friedensprojekt Europa ist von der Rückkehr nationalistischer Machtpolitik denn auch überrascht worden. Mehr als dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhang zwischen Ost und West ist die Geschichte mit voller Wucht zurückgekehrt. Ob im Mittleren Osten, Afghanistan oder im Südchinesischen Meer. Ob auf der koreanischen Halbinsel, in Hongkong oder der Ukraine: So viele Krisen wie heute gab es zuletzt vor hundert Jahren. Kapitalismus und Marktwirtschaft gelten seit der Finanzkrise 2008 nicht mehr als natürliche Sieger der Geschichte, die Verlierer der Globalisierung gehen auf die Barrikaden und erhoffen sich die Rettung ihrer Jobs und ihrer abendländischen Leitkultur von populistischen »Scheinriesen« und Scharlatanen wie Donald Trump, Viktor Orbán und Boris Johnson. Der Klimaschutz wird zum Kultur- und Überlebenskampf, Millionen Menschen fliehen vor Klimakatastrophen und Bürgerkrieg, der technologische Wandel verschlingt mit immer intelligenterer Software die alte, vertraute Welt und mit ihr die Geschäftsmodelle, Betriebe und Jobs des industriellen Zeitalters. Ein Beispiel: 1955 war der US-Autokonzern General Motors (GM) das größte und wertvollste US-Unternehmen und beschäftigte damals rund 577000 Mitarbeiter. Im Oktober 2019 übernahm Apple die Krone der Wirtschaft, der Tech-Gigant beschäftigt aber »nur« 137000 Menschen. »Software is eating the world«, hat Marc Andreessen, Mitbegründer des ersten Internet-Browsers »Netscape«, schon 2011 gewarnt. Europa scheint dabei das Hauptgericht zu sein. Findet sich doch unter den zehn wertvollsten Unternehmen der Welt kein einziges mehr vom europäischen Kontinent.
Dabei sollte nach dem Ende des Kalten Krieges 1989 doch eigentlich alles ganz anders kommen. Stellvertretend für den damaligen Zeitgeist feierte der amerikanische Politologe Francis Fukuyama mit seinem weltberühmten Buch »The End of History and the Last Man« den Sieg der westlichen Demokratien über ihre ideologischen Gegner. 30 Jahre und viele Rückschläge später musste Fukuyama zum Jubiläum des Berliner Mauerfalls im November 2019 einräumen, dass der Westen sowohl von innen wie von außen bedroht ist und sich die Welt keineswegs auf einem unwiderruflichen Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft befindet. Schuld daran ist seiner Meinung nach auch der technologische Wandel. Ist der technische Fortschritt doch nicht immer ein Schritt in die richtige Richtung. »Die neuen Technologien haben zwei Gesichter: Sie erhöhen unsere Freiheit, sie sind aber auch ein Werkzeug der Unterdrückung«, warnt Fukuyama bei seinem Besuch in Berlin und denkt dabei vor allem an die immer größer werdende Macht intelligenter Maschinen. Eurasia-Chef Ian Bremmer geht sogar noch einen Schritt weiter: »Die neuen digitalen Technologien begünstigen autokratische Regime«, warnt er mit Blick auf den Überwachungsstaat China, der schon jetzt digitale Gesichtserkennung zur politischen und sozialen Kontrolle einsetzt.
»Der Krieg um die Künstliche Intelligenz hat gerade erst begonnen«, sagt der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson. Ich treffe den gebürtigen Schotten ebenfalls in Davos. Der an der »Hoover Institution« in Stanford lehrende Historiker ist so etwas wie der »Rockstar« seiner Zunft, seitdem er frühzeitig vor der weltweiten Finanzkrise 2008 gewarnt hatte. Vor allem aber ist der 55-Jährige ein Querdenker, der seinen historisch geschulten Blick nicht nur nach hinten in den Rückspiegel der Geschichte wirft, sondern auch nach vorne schaut. Ferguson war es auch, der 2006 zusammen mit dem deutschen Ökonomen Moritz Schularick den Begriff »Chimerica« prägte, um die symbiotischen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den USA und China zu beschreiben. Die USA importieren jedes Jahr Waren im Wert von mehr als 500 Milliarden Dollar aus China. Mit den Einnahmen daraus kauft China in großer Zahl amerikanische Staatsanleihen und besitzt heute Schuldscheine der USA im Volumen von deutlich mehr als einer Billion Dollar. »Heute ist Chimerica tot«, konstatiert Ferguson mit der Gewissheit eines Pathologen, »Trump hat den Handelskrieg mit China auf den Technologiesektor und den Währungsbereich ausgeweitet. Wir befinden uns in einem neuen Kalten Krieg.«
Tatsächlich gibt es einige Parallelen zum ersten Kalten Krieg zwischen dem Westen und der Sowjetunion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wieder stehen sich zwei Großmächte mit konkurrierenden politischen und gesellschaftlichen Systemen gegenüber. Wiederum wird der Konflikt durch Stellvertreterkriege rund um den Globus ausgetragen. Wiederum spielen Schlüsseltechnologien darin die entscheidende Rolle. Und doch ist es ein anderer Kalter Krieg, den wir jetzt erleben. Es gibt bislang noch keine eindeutige Blockbildung zwischen dem von Amerika geführten Westen und einer von China dominierten Einflusssphäre. Dass es dazu noch nicht gekommen ist, liegt vor allem daran, dass die Welt wirtschaftlich viel zu stark miteinander verflochten ist, als dass man sie durch einen neuen Eisernen Vorhang so einfach spalten könnte. Unmöglich ist es aber nicht, und wir werden noch sehen, wie die USA unter ihrem Präsidenten an einer Abkoppelung von China arbeiten. »Wir könnten die gesamte Beziehung abbrechen und würden 500 Milliarden Dollar sparen«, drohte Trump Mitte Mai 2020 in seinem amerikanischen Lieblingssender Fox.
Seit der düsteren Prophezeiung von Kai-Fu Lee ist ein Jahr vergangen. Ein Jahr, in dem US-Präsident Donald Trump fast die gesamten chinesischen Exporte nach Amerika mit Strafzöllen von bis zu 25 Prozent überzog, chinesische Tech-Firmen wie Huawei geächtet und damit internationale Lieferketten großer Konzerne gekappt hat. Die Chinesen haben mit ihren begrenzten Mitteln zurückgeschlagen. Im Moment herrscht zwischen der alten und der neuen Supermacht ein brüchiger Waffenstillstand im globalen Handelskrieg. Der Anti-Globalist Trump hat die Globalisierung zur wichtigsten Waffe für seine »America First«-Politik verkehrt. Die beiden US-Wissenschaftler Henry Farrell und Abraham L. Newman nennen das »Weaponized Interdependence«. Die Erdkugel ist heute von einem engmaschigen Geflecht aus Güter-, Kapital- und Datenströmen überzogen, den eigentlichen Lebensadern der Weltwirtschaft. Apples iPhone wird von 300 Firmen aus fast 30 Ländern gebaut. Die Smartphones von Huawei liefen bis vor Kurzem mit dem Android-Betriebssystem von Google und den Chips der US-Anbieter Intel und Qualcomm. Das schafft gegenseitige Abhängigkeiten – und macht Unternehmen und ganze Nationen verwundbar. Mit Strafzöllen und Technologieembargos hat Trump viel Sand in das Getriebe der Globalisierung gestreut und damit die auf Kooperation und Freihandel aufgebaute Weltwirtschaftsordnung zu einer Arena der Konfrontation gemacht. Als der US-Präsident 2019 kurzzeitig ein Technologieembargo gegen den chinesischen Smartphone-Hersteller ZTE verhängte, stand die Firma kurz vor der Pleite. Huawei muss ein eigenes Betriebssystem für seine Smartphones entwickeln, seitdem Google auf Druck von Trump die Chinesen nicht mehr mit seiner Android-Software beliefern darf.
Die immer noch anhaltende »Schlacht um Huawei«, dem führenden Anbieter des neuen Mobilfunkstandards 5G, sei Beispiel für die kommende Spaltung der Welt in unterschiedliche Technosphären, prophezeit Ferguson. »Huawei ist zum Symbol des globalen kalten Technologie-Krieges geworden.« »Decoupling« heißt dafür das Schreckenswort, das die technologische Entkopplung der beiden größten Volkswirtschaften beschreibt. Die USA haben den chinesischen Telekomausrüster aus Angst vor Spionage und Cyberattacken aus ihrer Technosphäre verbannt und drängen auch ihre westlichen Verbündeten, die Verbindungen zu Huawei zu kappen. »Leider sehen die USA die 5G-Technik als eine strategische Waffe. Für sie ist es eine Art Atombombe«, klagte Huawei-Gründer Ren Zhengfei in einem Interview mit dem »Handelsblatt«. In Davos gibt er sich nach außen dennoch gelassen: »Wir sind für die nächste Attacke gerüstet«, versichert der 75-Jährige. Da wusste er noch nicht, dass die US-Regierung wenig später versuchen würde, Huawei auch von lebenswichtigen Chiplieferungen aus dem Ausland abzuschneiden. »Überleben ist für uns das Schlüsselwort«, gestand Huawei-Manager Guo Ping im Mai 2020 nach der neuerlichen Attacke aus den USA und bestätigte damit die düstere Prophezeiung von Yuval Noah Harari. Der israelische Historiker und Autor des Weltbestsellers »Eine kurze Geschichte der Menschheit« hatte in Davos ein weltweites technologisches Wettrüsten vorausgesagt. »Um ein Land zu erobern, braucht es heute keine Waffen mehr«, sagte Harari, Imperialismus und Kolonisierung fänden jetzt mithilfe von Daten statt.
Europa ist Frontstaat und Schlachtfeld zugleich im neuen Kalten Krieg. »Die Europäer werden von den beiden Supermächten Amerika und China in die Zange genommen und glauben immer noch, sie könnten ihre eigenen Wege gehen. Das ist jedoch reines Wunschdenken«, warnt Ferguson. Europa habe den großen Tech-Konzernen aus dem Silicon Valley und China nichts entgegenzusetzen. Apple sei heute mehr wert als alle deutschen Dax-Konzerne zusammen. »Europa muss sich zwischen den beiden Technosphären der Supermächte entscheiden«, sagt der Historiker. Eine Meinung, die zum Beispiel auch von Mathias Döpfner, Chef des Axel-Springer-Verlages geteilt wird. »Nach der (Corona-)Krise müssen wir uns festlegen: Wollen wir weiter an der Seite Amerikas stehen oder an der Seite Chinas? Beides geht nicht«, schreibt der ehemalige Journalist in einem Essay. Dass es zu einem wirtschaftlichen und technologischen Decoupling kommen wird, hält Ferguson für unausweichlich – trotz der immer noch engen ökonomischen Verflechtungen zwischen dem Westen und China. Ist das überhaupt möglich in einer so stark vernetzten Welt? Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges glaubten auch viele Experten, dass ein militärischer Konflikt zwischen Deutschland und England wegen der engen wirtschaftlichen Bande beider Länder unvorstellbar sei. »Nach Kriegsbeginn haben Deutschland und England innerhalb von Tagen alle Bande gekappt«, erinnert der Historiker Ferguson. Wie ähnlich die Rivalität zwischen den USA und China heute dem Machtkampf zwischen dem Vereinigten Königreich und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg ist, haben der Ökonom Markus Brunnermeier und der Wirtschaftshistoriker Harold James von der Princeton University zusammen mit dem China-Experten Rush Doshi vom »Brookings Institute« dokumentiert. »Die Rivalität zwischen China und den Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert hat eine unheimliche Ähnlichkeit mit der Rivalität zwischen Deutschland und Großbritannien im neunzehnten Jahrhundert«, schreiben die drei Wissenschaftler in ihrem Aufsatz aus dem Herbst 2018. Wie schnell auch heute noch Grenzen geschlossen, Lieferketten gekappt und Forderungen nach »strategischer Autonomie« laut werden, hat auch die Corona-Pandemie gezeigt. Die Folgen einer Spaltung der Weltwirtschaft wären insbesondere für Europa und Deutschland dramatisch. Noch mehr als die USA und China, die beide über riesige Binnenmärkte verfügen, wäre Deutschland als offenste Volkswirtschaft der Welt davon betroffen, wenn sich Globalisierung und Freihandel von Wohlfahrtsgaranten zu Achillesfersen verwandeln sollten. Zwar bietet der europäische Binnenmarkt mit seinen 450 Millionen Verbrauchern einen gewissen Schutz und fast 60 Prozent der deutschen Ex- und Importe gehen bzw. kommen aus den EU-Ländern. Schlüsselbranchen wie die deutsche Automobilindustrie sind jedoch stark von China und den USA abhängig. Etwa jedes dritte Auto von Volkswagen, BMW und Daimler wird von Chinesen gekauft. Allein BMW verkaufte 2019 do...

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