Morgan und Tesla
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Morgan und Tesla

Lebensbeichten

Werner Szczepanski

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  1. 380 pages
  2. German
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Morgan und Tesla

Lebensbeichten

Werner Szczepanski

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Vor dem Hintergrund einiger Monate vollzieht sich das immer gleiche Treffen zweier grundverschiedener Männer, die selten Momente einer unbedeutenden Bekanntschaft überschreiten, Morgan Nazareè und Nicola Tesla.Tesla, ein Name geht nach 1856 um die Welt. Genau wie die von ihm entwickelte Technik für die er immer wieder einsteht, ohne seine Erfindungen wäre das heutige Leben ein ganz anderes. Aber Nicola ist nicht nur ein Mensch der Technik und so findet er in den letzten Jahren seines Lebens in Morgan, einem vehementen Vertreter des Krieges und von dunkelgrauer Gestalt, einen kongenialen Partner mit dem er gegenseitige Erlebnisse austauscht. Verlassen wir die Fakten, wenden wir uns etwas genauer den letzten Jahren ihres Lebens zu. In London macht Tesla die Bekanntschaft einer Taube und des verbissenen Patrioten Morgan, der im Leben zu kurz gekommen ist. Mit sich und der Welt unzufrieden sitzt er im Rollstuhl und lebt in seiner eigenen Welt. Ein bisschen Licht bringt Tesla durch seine Erzählungen von Erfindungen und seiner großen Welt hinein. Morgan zerstört sie ihm nicht, kann sich an ihr aber auch nicht erfreuen. Einzig die Rückkehr seiner schon früh aus dem Haus gegangenen Tochter Charlot würde seine angegriffene Seele befreien. Tesla lebt zwar immer noch in seiner großartigen Welt, jedoch lässt sich das eigentliche Herz eines Entdeckers nicht zurückdrängen. Zum Ende seines Lebens begeistert er sich deshalb für eine neue Idee, die alles in den Schatten stellen würde was er bisher entdeckt hatte, die des Gedankenlesens.

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Information

Year
2020
ISBN
9783751939447
Edition
1
Subtopic
Poetry

Tesla und die Taube

‚Sie fliegen schön weit hinter dir, Tita‘, murmelte Tesla in sich hinein, als er bemerkte, wie seine Taube von einem großen Schwarm Weißgrauer in ungefährlich weiter Entfernung verfolgt wurde. Eben flog sie eine scharfe Kurve und steuerte auf ihn zu. So nah flog sie an ihm vorbei, dass er ihr in die Augen sehen konnte und erschrak, weil er sich nicht an etwas erinnern konnte, das ihren traurigen Blick auf ihn gerechtfertigt hätte. Einen, der sagen könnte: ‚Heh, du warst lange nicht bei mir, kommst du also zurück?‘ Doch hätte dieser Vorwurf keine Berechtigung gehabt, erst gestern war er hier. Eine Vermutung wegen einer anderen Freundin? Tesla begann zu lachen. Nein, Tita wusste, die Einzige zu bleiben, und dass es sich nicht lohnen würde, in seinem Alter ein neues Verhältnis zu beginnen. Das Maß an gütiger Zuneigung, das er noch vom Leben erhoffte, würde sie allein spenden können. Warum dann ihr Blick, äußerte sie sonst Gefühle nicht auf verständlichere Weise? Hatte sie sich an die Geschichte mit dem Salz oder an eine andere erinnert? Genauer – Taubensalz? ‚Übrigens‘, so hatte er ihr eines Tages die unschöne Begegnung mit dem geschäftstüchtigen Krämer um die Ecke erzählt, ‚da gäbe es etwas ganz Neues für wirkliche Taubenfreunde‘, hatte ihm der Krämer fast geheimnisvoll anvertraut, ‚es nennt sich Taubensalz und wird gern von Ihren Freunden gekauft. Es soll eine Weiterentwicklung sein. Viele Käufer berichten von positiven Ergebnissen. Einige kranke Tauben konnten bereits am zweiten Tag mit Hilfe dieses Wundermittels wieder fliegen. Andere berichten von noch erstaunlicheren Erfolgen. Es kostet ein bisschen mehr als die gewöhnlichen Maiskörner, aber das Salz ist doch für Ihre Freunde, sie müssten Ihnen eigentlich das Geld wert sein. Nun kaufen Sie schon. Was, Sie wollen nicht, Ihre Taube ist gesund? Na, Sie müssen es ja wissen.‘
Ein andermal waren die Körner zu Haus geblieben, unabsichtlich, wie er ihr lang erklärt hatte. Es waren lange Minuten, bis sie ein klein wenig beruhigt schien, trotzdem prallte sie gleich nach ihrem Start absichtlich, so musste es gewesen sein, gegen eine weißgrau Gescheckte. Als Ausgleich für seine Nachlässigkeit hatte er ein andermal Körner zu einem horrenden Preis gekauft, dem Händler waren die üblichen ausgegangen. Gleich war sie aufgeregt flatternd zu ihm gekommen und zeigte nach dem ersten Bissen ein Lächeln, das ihn glücklich machte. Tita aber, die, wie gesagt, sonst nicht sehr zurückhaltend war, äußerte ihren Unmut über ein unbestimmtes Ereignis heute nur darin, das sie ihn kritisch betrachtete. Wie es Tauben so tun, war ihr Kopf dabei schräg und leicht geneigt, gleich fühlte er sich auch der Haltung wegen unwohl. Tesla war erfahren und glaubte zu wissen, was jetzt zu tun war. Vorsichtig schob er sich an Tita heran, griff langsam nach ihr, und zum Dank für die zurückliegenden Tage einer gemeinsamen Liebe nahm er sie in den Arm und strich über ihr weichglattes Gefieder. Sie sah ihn mit traurigen Augen an, so, als wüsste nur sie, dass aus ihrer gemeinsamen Liebe nichts Ernsthaftes entstehen könne. Bald wurden ihr die Streicheleien zu viel. Um den Tag nicht weiter zu vergeuden, erhob sie sich mit schrillem Gurren federleicht in die Luft. Tesla sprang erschrocken auf und lehnte sich nach Halt suchend gegen die Holzverkleidung der Bank.
Es war früh kühl geworden, und er sah auf das feuchte Gras vor ihm, ein paar Maulwurfshügel aus denen die spitzen Nasen ihrer Bewohner herausragten, unterbrachen die sonst platt getretene Ebene. Die ganze Umgebung fügte sich zu einem ruhigen Bild, das er sich schon früher oft gewünscht hatte. An eine Taube und schwarze Hügel hatte er dabei nie gedacht.
Weiter blickte er und stellte fest, dem Grün der Bäume bisher keine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Ginkos und andere Zierbäume gab es viele. Die prächtige Buchsbaumhecke, etwa drei Meter hoch, beeindruckte ihn jedoch mehr als alles andere. Er hatte nicht gewusst, dass die Kleinblättrigen auf diese Höhe anwachsen können. „Du hast es gut, das zu sehen“, sagte er sich, „aber es ist gerecht. Dein Leben lang hast du gekämpft, gleichgültig, ob du der Über- oder Unterlegene wärst. Nun kennst du außer dem Krüppel in seinem übertrieben einfachen Rollstuhl niemanden mehr. In Smiljan wäre das anders gewesen. Über Tod, Krankheit und Schmerzen hättest du mit jedem reden können. Leider hatte jene zuvor lange Zeit des Wartens auf Veränderung die schon immer Älteren mächtig gewandelt, wiedererkennen konnte ich nicht einen einzigen. Nein, den Entschluss, Londoner geworden zu sein, bereue ich nicht.“
Titas naher Vorbeiflug wirbelte sein Haar auf, und wieder dachte er an ihre gelben Körner, die ja beim Handel um die Ecke für viel Geld zu erstehen waren. Schon oft war er den bohrenden Fragen des feisten Pächters, wer denn in aller Welt diese Mengen an exotischen Körnern essen würde, ausgewichen. Seine besten wären doch so hart, dass kein heißes Wasser der Welt sie garkochen könnte! Tesla gab nie Antwort; sollte sich doch der Dicke den Mund fusselig reden. Ganz sicher würde er, außer Morgan, nie einem anderen von seiner Ergebenheit zu der Taube erzählen.
Tita wollte nicht wieder enttäuscht davonfliegen, aber sie war wenig geübt, zurückgeschobene Aufmerksamkeit erneut einzufordern, und als sie auf den kleinen Futterplatz zuflog, um Körner aufzupicken, erinnerte sie sich an ihre kleine Schwäche. Wie andere Tauben verstand sie es nämlich nicht, die manchmal von Tesla unvorsichtigerweise in den ungekämmten englischen Rasen geworfenen gelben Maiskörner zeitig aufzupicken. Stets kamen ihr auf dem unwegsamen Gelände wankende Konkurrentinnen sehr agil entgegen, oft auch zuvor. Außerdem war sie eifersüchtig. Was der Herr dort auf den Rasen werfen würde, gehöre ihr allein! Leider konnte sie wenig gegen die anderen unternehmen. War sie gerade damit beschäftigt eine von dem exotischen Gemüse naschende Konkurrentin zu verjagen, schlich sich eine weitere heran und pickte ohne jede Hemmung nach einigen der besten Körner.
Bald wurde ihr Teslas Missachtung zu viel, laut aufkreischend flog sie erneut direkt auf ihn zu und nahm an, er würde sich bücken und Tesla dachte, sie müsste jetzt ausweichen. Jeder täuschte sich. So kam es, dass ihr spitzer Schnabel seinen Kopf traf, von dem anschließend Blut tropfte. Noch leicht benommen beschloss Tesla, die ebenfalls verletzte Taube mit nach Haus zu nehmen, sie bis zum nächsten Tag ein bisschen zu pflegen.
‚Sehr ungewöhnlich, was eben passierte!‘, fand er. ‚Sind nicht auch deine Erfindungen von dieser eigenartigen Aura gewesen? Warum zur Abwechslung nicht auch eine Taube heilen?‘ Er breitete die Arme aus, wartete, bis sich nach ein paar Runden Tita endlich auf den Ärmel des teuren Mantels setzte und trug sie zufrieden nach Haus. Niemand hatte von dem innig verschlungenen Paar Notiz genommen, nur ein Spinner mehr war er auf den geduldigen Straßen der Innenstadt.
Dann hatten sie seinen Palast erreicht. Anschließend war ihr Blut mit einem sanften Desinfektionsmittel entfernt worden, und ein winziger Verband umgab ihren Schnabel. Wie es schien, schmiegte sie sich nach der Prozedur dankbar eng an seinen Schuh. Dass sie dies öfter tat, bemerkte man an der blitzenden Seite des rechten, gefertigt aus bestem Nappaleder. Tesla trug Schuhe, wie sie sich nur die Reichsten leisten können. Nie würde er mit ihnen nach Steinen oder gar Tita treten. Im Gegenteil, ein noch eheähnlicheres Verhältnis war im Verlauf der letzten Wochen mit ihr entstanden. Doch dass es dem Herrn Tesla nicht mehr gut ging, hatte sie ebenfalls längst verstanden, außer ihr jedoch niemand, vermutete sie.
Tita hatte auch verstanden, dass er es darauf anlegte, seine vorsichtig aufkommende Nachlässigkeit und sonstigen Schwächen, so gut es ging, zu verbergen. Denn sie konnte er nicht täuschen. Nicht nur, dass seine Krankheit am Äußeren deutlich zu erkennen war, sie fühlte darüber hinaus fast körperlich seine verborgenen Gebrechen. Wenn ihre Schwarmkollegen am Abend in den Verstecken auf schmutzigen Gesimsen zusammensaßen oder gar verstaubte Dachböden das gemeinsame Ziel waren, wurde oft über den merkwürdigen Herrn gesprochen, der außer ihr und einem Rollstuhlfahrer niemanden zu kennen schien. ‚Was für ein Zustand‘, dachte sie dabei. ‚Der hatte ein langes Leben mit Höhen wie Tiefen, und zum Schluss kümmert sich niemand um ihn. Ist das bei uns anders? Auch hier gilt die Einzelne nichts, aber wir sind ja nicht die Erfolgreichen, sondern nur ein Schwarm unwichtiger Tauben. Was bedeutet das eigentlich den Irdischen, erfolgreich zu sein? Was ist es wert, wenn man doch vergessen wird? Vielleicht ist es bei Nikola anders, und ich hoffe das sogar. Ich werde ein wenig nachhelfen, ihn lebendig sein zu lassen. Vielleicht gurre ich dem, der regungslos im Rollstuhl sitzt, etwas Unvergessliches über seinen Freund ins Ohr. Zu prüfen wäre vorher, ob er die Kraft aufbringt, mich verstehen zu wollen. Allein das würde schon zählen.‘
‚Höre‘, flüsterte Tita jedoch Nikola zu, der noch zu ihren Füßen saß, ‚so ist es recht, lass mich bei dir wohnen. Richte mir ein kleines Nest, und ich gurre für dich den ganzen Tag.‘
Tesla erschrak und erwachte. Den Angstschweiß tupfte er sich von der Stirn und suchte gleich nach seiner Taube. Tita lag in einem Korb, der mit trockenem Gras ausgelegt war. Auf ihr befand sich eine leichte Decke aus einem der letzten Labore. Sie schlief den Schlaf der Genesenden.
Lang sah er gedankenverloren auf das kleine Wesen, das sich ihm so weit wie kaum ein zweites genähert hatte. Und er dachte an den letzten Abend mit seinen besonderen Einfällen. Nun verstand er, wie wirr Gedankenblüten mit jemandem umgehen können, trotzdem konnte er wieder kaum zwischen Erfindung und Wirklichkeit unterscheiden. Obwohl, früher war das natürlich kein Problem gewesen, oft eingetreten war es auch und immer hatte er die richtige Entscheidung getroffen. Im Anschluss an diese goldenen Zeiten war dem Schicksal ein Weg eingefallen, den Tesla nie vorausgesehen hätte.
Für Tita war die Nacht ruhig verlaufen, aber, wusste sie, ihr Geliebter hatte unruhig geschlafen. Um nach ihr zu sehen war er nach jeweils einer halben Stunde wie in Trance aufgestanden, und hatte an ihr die schnelle Genesung bemerkt. Dennoch fühlte er sich bis zum Vormittag unsicher über den Ausgang seiner Hilfe. ‚Noch einmal darf sie nichts wie ihr Zusammenprall mit seinem Kopf bedrohen, danach gäbe es große Leere‘, schien er zu denken.
Aber Tesla war Charlot in den Sinn gekommen, und sein Wunsch, dass sich Vater und Tochter versöhnen sollten, ließ ihn schon seit Tagen nicht mehr los. ‚Sie wird stark sein und zu ihm gehen‘, hoffte er, und endlich, als das weiche Federkleid Titas zu spüren war, beruhigte er sich.
*
Charlot wählte einen Tag, den kein anderer bestimmt hätte. Schmutziggrau, fast ungeliebt war er. Die ganze Nacht zuvor hatte sie sich bei stärkstem Regen mit dem letzten Gespräch zwischen ihr und Tesla beschäftigt, hatte versucht, aus seinen feinen Andeutungen herauszulesen, was gut für sie, vielleicht auch Morgan sein könnte. Weiteres zu entdecken, als es in früheren Überlegungen gelungen war, war ihr aber auch heute nicht möglich. Erst gegen Morgen, endlich, fasste sie den Entschluss, nicht länger zu rätseln und, passiere was wolle, den steinigen Weg zu Morgan anzutreten.
Wie erwartet fand sie ihn auf seinem Platz, direkt an der Straße. Es war ihr recht so, seine Wohnung, vielleicht eine wie die von Tesla, wäre zu einer Einschüchterung geworden, auf die sie ganz sicher mit viel Widerstand und schlechter Laune reagiert hätte. Sie sah nur einen Augenblick auf ihn und so, als ob sie Unbekannte wären, kam kühl ihr gegenseitiges ‚Guten Morgen‘. Eine winzige, vielleicht sogar ungewollte Kleinigkeit mehr an Abstand hätte gereicht, um sofort wieder in die größtmögliche Distanz zu verfallen.
„Morgan, sag kein Wort bis ich dich dazu auffordere. Hältst du dich nicht daran, bin ich schwach genug, unsere Zusammenkunft abzubrechen und dich zu verlassen. Nie würde ich zurückkommen. Mein größtes Problem, selbst wenn es nur zart erkennbar sein sollte, will ich dir gleich am Anfang sagen. Ernst gemeint ist jedes meiner Worte in seiner bedrückenden Wahrheit: Vater, irgendwann hasste ich dich und Mutter! Das klingt rau, aber es ist die Wahrheit. Deine fast täglichen Abende mit den Kameraden aus der Armee, Mutters Stunden in den Geschäften, ihre Zeit mit den Freundinnen. Alles hasste ich. Nein, ich hätte keine teuren Geschenke gebraucht, keine exklusive Kleidung. Meine Mitschülerinnen hatten sie ja auch nicht. Ich kann dir sagen, was wichtig für mich gewesen wäre, und will nur eines der wichtigen Beispiele bringen, welches ich nicht nur aus heutiger Sicht so sehe. Wenn nach den Streitigkeiten dein oder Mutters Arm um mich lag, mit Mutter am Steuer wir gemeinsam zu bekannten Urlaubsorten fuhren, es aussah, als wären wir eine normal glückliche Familie, dann gab es nichts, was mich auf den gleichen Gedanken brachte, und hätte es doch gern gewollt. Lag ich spät abends in meinem Urlaubszimmer, fühlte ich mich allein wie ein verdurstender Tramp in sandverhangener Wüste, als wäre außer mir niemand auf der Welt. Immer weiter begann ich in einer Traumwelt zu versinken, die mich von Angst und Depression befreite und hoffte, ob das nicht für immer so sein könnte? Langsam, eigentlich ohne dass ich den Gedanken aktiv vorantreiben musste, nistete sich eine Vorstellung in mir ein, die da hieß: Hand an mich zu legen – denn niemand liebt dich. Natürlich hatte ich oft als Ausgangspunkt eurer Kämpfe meine Person erkannt. Mutter wollte so, du anders. Eine echte Verschwörung gegen euer einziges Kind habt ihr damit vorangetrieben. Immer musste ich weinen, war dieser Punkt erreicht. Hätte ich eingreifen können, müssen? Hätte ich euch anflehen sollen, mir eine halbwegs kindgerechte Jugend zu bieten? Hätte, hätte! Doch war ich zu jung, zu schwach. Stark war ich in der Selbstkontrolle meiner zerstörerischen Macht über mich. Eines Tages kam mir dabei ein nicht unerwünschter Zufall entgegen. Ich nutzte sie, die Klinge, und sah, nein, nicht zu Haus, am Ufer eines kleinen Sees war es, dass sich der schmale rote Streifen auf der unsichtbaren Unterseite meines Arms abwärts bewegte. Deshalb weiß keiner von euch davon, was ich bis heute nicht in Worte fassen kann. Die Klinge verletzte mich nicht mehr als eure Streitigkeiten. Mein Glück waren Lebensretter, die sich dort im Sommer für still Ertrinkende aufhielten. War nicht auch ich eine? Seit dem gottlob überstandenen Nachmittag trug ich für Monate nur noch lange, schönfarbige Handschuhe. Meistens in Grün, dem Symbol der Hoffnung wegen. Zwar war das ungewöhnlich für einen Sommer, ihr gabt euch jedoch mit der Erklärung zufrieden, das sei die neue Mode unter uns Schülerinnen. Nie hat jemand meine Narben entdeckt. Nicht die äußeren, nicht die stärker schmerzenden inneren. Natürlich änderte sich auch nach diesem Vorfall unser gespaltenes Miteinander nicht und so war ich froh über den Tag des Abschieds. Heute halte ich mich für eine, die durch eine schwere Jugend gegangen ist. Doch beweist mir mein Beruf als Kindergärtnerin, dass vielen ein noch härteres Schicksal beschieden ist. Da wir alle, auch ich, nicht von Fehlern frei sind, hatte ich beschlossen keine Kinder zu bekommen. Vielleicht sollte man generell keine Kinder haben, ohne vorher eine Schule durchlaufen zu haben. Das Einmaleins wird schon den Kleinsten gelehrt, Erwachsene können so viele Kinder wie sie wollen ohne jede Vorbildung in die Welt setzen. Keiner stellt fest, ob sie überhaupt in der Lage sein könnten, ihnen gute Eltern zu sein.“
Zum Ende ihrer Erinnerung war Charlot leicht ins Stocken geraten, der Bericht aus ihrer Kindheit hatte sie atemlos werden lassen.
„Das Verhältnis zwischen dir und Mutter war eine echte Katastrophe. Wart ihr doch eine Verbindung eingegangen von der die Leute behaupteten, sie könne unmöglich für Jahre bestehen. Und wie es dir gelingen konnte, deine angebliche Liebe zu überzeugen, dass du, ein armer Rollstuhlfahrer, immer noch mehr Kriegstreiber als Mensch, der Richtige wärst, sie glücklich zu machen, habe ich schon als kleines Mädchen nicht begriffen. Du sicher auch nie. Heute erst recht nicht. Ich tat alles, um mich nicht in eure Kämpfe verwickeln zu lassen, die so zwangsläufig kamen wie die abendliche Dämmerung nach einem Sonnenaufgang. Was Mutter in dir wirklich gesucht hat, konnte sie mir nie verraten. War es einfach ein Kampf gegen ihr unbestimmtes Gefühl, sonst das Leben zu versäumen? Ich kann nur hoffen, dass sie heute, mehr als dreißig Jahre nach der Trennung, wenigstens ein kleines Stückchen Glück gefunden hat. Und du? Wie ein Wilder hattest du dich nach ihrer Flucht in die Arbeitssuche gestürzt, aber wer gibt schon dem Behinderten eine verantwortungsvolle Aufgabe? Mit weniger bist du nicht zufrieden gewesen. Also hast du gar nichts getan und das, wie ich sehe, bis heute. Morgan, du musst jetzt nichts sagen. Allein, dass du mich ohne Unterbrechung hast reden lassen, befreit mich von einer jahrelangen Last. Ob ich früher hätte kommen sollen, kann ich nicht sagen. Jetzt bin ich da und könnte mich zufrieden auf den Weg nach Haus machen. Schön wäre noch, vorher ein bisschen von dir über mich zu hören.“
Um ruhig zu bleiben, hatte Morgan nicht so große Kraft wie von Charlot vermutet aufbringen müssen. Den Atem hatte es ihn jedoch gekostet, von dem Suizidversuch seiner immer geliebten Tochter zu hören. Nicht einmal geahnt hatte er davon. Seine ohnehin als groß eingestufte Schuld wuchs noch beträchtlicher an, bis sie sich erhob und wie ein Donnerschlag auf ihn herabstürzte. Kann das sein? Durch seine Schuld wäre das Leben der Tochter beinah ausgelöscht worden? Ein zweites für das er in noch viel größerem Maß verantwortlich gewesen wäre? Morgan stutzte unmerklich und öffnete seinen Mund: „Hast du nichts von meiner Liebe gespürt?“ Bis die Worte endlich ausgesprochen waren, hatte die fest verschlossene Kehle das schon lang fragen wollen, doch kam zunächst keines der Worte heraus. Mehr als krank zu sein war das Gefühl im ausgedörrten Hals.
Allein durch seine Frage glaubte Charlot, beide hätten ihren eigenen Weg zueinander gefunden, sie stellte sich deshalb neben ihn, und nahm ihn in den Arm. Beide klammerten sich aneinander, schienen sich nie wieder verlassen zu wollen.
Doch Morgan war nicht zufrieden. Verstanden hatte er, schuldig zu sein an Charlots zerrütteter Kindheit. Doch gleich nachdem sie ihr Herz ausgeschüttet hatte, entstand ein unerfreuliches Bild vor seinen Augen, das des Sonntags mit Josephine und dem weißen Laken. Schämte er sich schon wegen seines Versagens bei der Erziehung Charlots, bereiteten ihm die Stun...

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