Medizin ohne Ärzte
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Medizin ohne Ärzte

Ersetzt künstliche Intelligenz die menschliche Heilkunst?

Christian Maté

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Medizin ohne Ärzte

Ersetzt künstliche Intelligenz die menschliche Heilkunst?

Christian Maté

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Bessere Diagnosen und effizientere Therapien durch künstliche Intelligenz?Das große Thema: Wie sieht die Zukunft der Medizin aus und was bedeutet sie für die Patienten? Der Einsatz von Artificial Intelligence und Big Data in Diagnostik und Therapie hat das Potenzial, das Selbstverständnis der Mediziner in seinen Grundfesten zu erschüttern. Was über Jahrhunderte als ärztliche Kunst bezeichnet wurde, können Maschinen zum Teil schon jetzt besser: Krankheiten diagnostizieren, individuelle Behandlungen auswählen oder operative Eingriffe durchführen. Sind Ärzte aus Fleisch und Blut schon bald überflüssig? Was hat der Patient der Zukunft zu erwarten? Christian Maté, selbst Mediziner, geht dieser Frage auf den Grund und entwickelt spannende Thesen für die digitale Zukunft.

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Information

Kapitel 1:

Gut versorgte Patienten leben länger

Drei Wünsche an den AI-Doktor

Als Ende der 1990er-Jahre die ersten europäischen Gesundheitsportale, unbestreitbar inspiriert von ihren US-amerikanischen Vorbildern, gelauncht wurden, war die Aufregung in den medizinischen Communities groß. Vor allem innerhalb der Ärzteschaft wurde allen Ernstes die Frage diskutiert, ob eine derart weitgehende medizinische Information für Laien überhaupt zulässig sei oder ob sie nicht vielmehr eine systematische Sabotage des impliziten Behandlungsvertrages zwischen Arzt und Patient bedeute. Als Chefredakteur und späterer Co-Eigentümer der österreichischen Tochter des dänischen Start-ups netdoktor wurde ich in Interviews vor allem gefragt, ob der Besuch eines Gesundheitsportals den Arztbesuch ersetzen könne beziehungsweise solle. Ich war stets froh, dass ich diese Frage aus ganzem Herzen verneinen konnte und nicht in diplomatisches Geschwurbel ausweichen musste. netdoktor und die anderen medizinischen Internetangebote für Laien und Patienten wurden tatsächlich als komplementäre Services zum Arztbesuch gegründet. Vorab informierte Patienten – so die Hypothese – können den Arzt besser verstehen und trauen sich eher Fragen zu stellen. »Patienten, die viel fragen, sind äußerst lästig«, hat ein großer österreichischer Mediziner einmal in seiner Vorlesung gesagt und dann hinzugefügt: »Aber sie leben länger.« Das bringt es auf den Punkt: Durch fachlich korrekte und für Laien verständliche Informationen zu Krankheiten, Untersuchungen und Therapien werden die Patienten in der Beziehung zum Arzt gestärkt, sie werden fordernder, in vielen Fällen mühsamer, aber eben auch gleichberechtigter in ihrer Verantwortung für die eigene Gesundheit.
Natürlich beschränkt sich der Nutzen von leicht verfügbaren, allgemein verständlichen Gesundheitsinformationen nicht auf den Arztbesuch selbst. Studien zeigen, dass Patienten 40 bis 80 Prozent der Informationen des Arztes beim Verlassen der Praxis bereits wieder vergessen haben. Das liegt vor allem daran, dass sie sich auf die Diagnose konzentrieren und darauf, was diese für ihr weiteres Leben bedeutet. Die Informationen des Arztes betreffen hingegen meist die Therapie und die ist nicht so stark emotional besetzt. Jedenfalls bieten Gesundheitsportale den Patienten die Möglichkeit, wesentliche Informationen zu ihrer Erkrankung und zur vom Arzt verordneten Therapie nach dem Arztbesuch nachzulesen – ein Umstand, der nachweislich einen Beitrag zur sogenannten Adhärenz leistet, also zur Fähigkeit und Motivation, die Therapie in der vom Arzt beabsichtigten Form anzuwenden.
Damals, im Pleistozän des Internets, hieß Digital Healthcare noch »e-Health« und von einer Medizin ohne Ärzte war natürlich keine Rede. Zu weit weg waren die damals verfügbaren Angebote von den eigentlichen Prozessen des Gesundheitswesens, für die die bloße Bereitstellung von Informationen lediglich die Baseline zur eigentlichen Melodie darstellte: dem Erheben von Befunden in den Arztpraxen, Labors und Röntgeninstituten, der Zusammenarbeit zwischen Arzt und Apotheker beim Einsatz von Medikamenten, den manuellen und zum Teil invasiven Interventionen auf den Behandlungstischen und in den Operationssälen.
Das hat sich nun fundamental geändert. Die lernenden Programme, die unter dem vielversprechenden und sympathisch unpräzisen Label »Artificial Intelligence« (AI) in so gut wie alle Branchen hineindiffundieren, sind gerade dabei, sich als echte Gamechanger im Gesundheitswesen zu etablieren. Lassen wir einmal die AI-unterstützte Erfassung unstrukturierter Daten und die Kommunikation im Sinne von Assistenzsystemen außer Acht und konzentrieren wir uns auf die drei Schlüsselthemen im Gesundheitswesen: Diagnostik, Therapie und Versorgung.

Bessere Diagnostik – Krankes früher erkennen

In seinem 1910 uraufgeführten Theaterstück »Anatol« lässt Arthur Schnitzler, im Zweitberuf Arzt, seine Hauptfigur sagen: »Es gibt so viele Krankheiten und nur eine Gesundheit –! … Man muss immer genau so gesund wie die andern – man kann aber ganz anders krank sein wie jeder andere!« Der Gedanke hat zweifellos etwas, aber die meisten Patienten betrachten ihre Erkrankung weniger als Ausdruck ihrer Individualität denn als Zustand, den es so rasch wie möglich zu beenden gilt. Und dabei kann die Vielfalt durchaus hinderlich sein. Die moderne Krankheitslehre, systematisch erfasst und kategorisiert im sogenannten ICD, der International Classification of Diseases, kennt in seiner ab 2022 gültigen Version, dem ICD-11, mehr als 55 000 verschiedene Arten, nicht gesund zu sein. Dazu zählen sogenannte Volkskrankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck oder Asthma am einen Ende des Spektrums und sogenannte seltene Erkrankungen, also Krankheiten, von denen nur ein geringer Anteil der Bevölkerung betroffen ist, am anderen Ende. Knapp über zehn Prozent aller im ICD-10 erfassten Krankheitsbilder fallen in die Kategorie »selten«. Als selten gelten in Europa Erkrankungen, an denen nicht mehr als eine von 2000 Personen leidet. Zu den bekanntesten seltenen Erkrankungen zählen etwa die Hämophilie, eine angeborene Gerinnungsstörung des Blutes, die cystische Fibrose, bei der zäher Schleim Lunge und andere Organe verstopft, oder die auch als Glasknochenkrankheit bezeichnete Osteogenesis imperfecta.
Von der idiopathischen Lungenfibrose etwa, einer Krankheit, bei der es zur schrittweisen Vernarbung der Lunge und damit zu fortschreitender Atemnot kommt, sind 65 bis 90 von 100 000 Menschen betroffen. Eines der Probleme in der Diagnostik dieser seltenen Erkrankung ist der Umstand, dass sie ganz ähnliche Beschwerden hervorruft wie die wesentlich häufigere, zu den Volkskrankheiten zählende COPD, also Atemnot, chronischen Husten und Müdigkeit. In der Lunge spielen sich allerdings zwei ganz unterschiedliche Prozesse ab. Im Fall der COPD kommt es – meist als Folge chronischen Tabakkonsums – zu einer fortschreitenden Verengung der Bronchien, was zwar nicht umkehrbar, aber doch über weite Strecken symptomatisch einigermaßen gut behandelbar ist. Anders verhält es sich mit der idiopathischen Lungenfibrose, der IPF. Bei dieser erblichen Erkrankung kommt es zu einer bindegewebigen Vernarbung und Versteifung der gesamten Lunge, ein Prozess, der bis vor einigen Jahren therapeutisch überhaupt nicht positiv beeinflussbar war. Mittlerweile sind zwei Medikamente für die Behandlung der IPF zugelassen. Beide haben in Studien gezeigt, dass sie das Fortschreiten der Erkrankung zwar nicht stoppen, aber doch verlangsamen können. Es liegt auf der Hand, dass ein möglichst früher Einsatz den Patienten Lebensqualität und Lebensjahre schenken kann. Denn ist erst einmal ein großer Anteil des Lungengewebes durch Bindegewebe ersetzt, bleibt häufig nur die Transplantation einer Spenderlunge als letzter Ausweg.
Was das alles mit den Cyberdocs der Zukunft zu tun hat? Nun, Studien zeigen, dass die Diagnose einer idiopathischen Lungenfibrose im Schnitt mit einer Verzögerung von 2,1 Jahren gestellt wird. Zum Teil liegt das Problem dabei auf der Seite der Patienten, die erst verspätet zum Arzt gehen, ein wesentlicher Teil fällt jedoch in die Sphäre des Arztes, der die Symptome und die Untersuchungsergebnisse nicht richtig interpretiert. Weder dem Hausarzt, der so einen Patienten jahrelang immer wieder aus verschiedenen Gründen in der Praxis hat, noch dem Lungenfacharzt, der ihn ebenso lange als COPD-Patient behandelt, ist dabei ein Vorwurf zu machen. Kein Gehirn der Welt kann sich die Symptome samt Häufigkeiten von Tausenden Erkrankungen merken. Im Medizinstudium und auch später in der praktisch-klinischen Ausbildung lernen Ärzte eine wenig originelle, aber logisch unantastbare Regel: Häufiges ist häufig und Seltenes ist selten. Mögen exotische Erkrankungen auch noch so drollige und leicht merkbare Namen oder anspruchsvolle Krankheitsmechanismen haben – die diagnostische Wahrheit ist eben in den meisten Fällen recht banal und hat mit dem Flipchart von Dr. House wenig zu tun. Wenn man Hufgetrampel hört, lautet der zweite Merksatz für den aufstrebenden Diagnostiker, so handelt es sich zumindest in unseren Breiten sehr wahrscheinlich um Pferde und nicht um Zebras, ganz gleich, wie schick und aufregend es wäre, Letzteren einmal zu begegnen.
Dennoch: Zählt man die Betroffenen aller seltenen Erkrankungen zusammen, so erhält man eine wahrlich gewaltige Herde von Zebras, und das bedeutet verzögerte Diagnosen in vielen Millionen von Fällen. Und hier kommen die Maschinen ins Spiel: Tatsächlich gibt es schon seit Längerem medizinische Expertensysteme. Das sind mehr oder weniger komplexe Softwareprogramme, die, vollgestopft mit diagnostischen Algorithmen, dem kognitiv überforderten Arzt zur Seite stehen – theoretisch. In der Praxis konnten diese Programme nie so richtig durchstarten. Bereits 1972 wurde an der Harford University zum Beispiel ein sehr treffsicheres Programm namens MYCIN für die Diagnostik und Therapie von Infektionskrankheiten entwickelt. In der Praxis zündeten MYCIN und andere klassische Expertensysteme aber nicht wirklich und das lag unter anderem an mangelnder Breite. Für die Früherkennung von seltenen Krankheiten quer über die Organgrenzen hinweg waren diese Tools ähnlich sinnvoll wie ein Suchscheinwerfer, der nur in eine Richtung leuchtet.
Jetzt, im Zeitalter der lernenden Maschinen, sieht das schon ganz anders aus. Stellen Sie sich einen Computer vor, der mit allen Algorithmen der gesamten Medizin von Asthma bis Zöliakie gefüttert wurde. Experten aus den verschiedenen Fachdisziplinen haben ihn in einem Frage-Antwort-Spiel über Monate trainiert wie ein kleines Kind. Irgendwann hat er den Dreh raus und ist ein absoluter Superdiagnostiker, der kaum eine Krankheit übersieht. Würden Sie als Patient freiwillig auf Cyberdoc’s Fähigkeiten verzichten, nur weil er Strom statt Müsli frühstückt? Eben.

Präzisere Therapie – individuell und immer auf dem letzten Stand

Die Medizin ist zwar selbst keine Wissenschaft, aber als Ärzte ab Ende des 18. Jahrhunderts begannen, einen systematisierten Blick in das Innere von Leichen zu werfen, hat sie den Anspruch, auf einer wissenschaftlichen Grundlage zu stehen. Forscher entwickeln moderne Therapien anhand von biochemischen, mechanischen oder physikalischen Modellen und testen diese zunächst an Zellen, dann bei Tieren und letztlich im Rahmen von klinischen Studien beim Menschen. An diesem Punkt verlagert die Medizin ihre Perspektive von jener einer klassischen naturwissenschaftlichen Disziplin in den Bereich der Mathematik, genauer der Statistik. Nehmen wir einmal an, Medikament X hat in einer Studie mit 300 Teilnehmern gezeigt, dass es die Symptome von Asthmapatienten wirksamer bekämpft als eine Scheinmedikation. Ein ganz bestimmter Patient – nennen wir ihn Paul – bekommt nun von seinem Arzt Medikament X anstelle seines bisherigen Asthmamittels Y verschrieben, weil aufgrund der Studien zu Y und X eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht, dass Paul von X mehr profitiert als von Y. Das setzt aber voraus, dass Paul den Teilnehmern der Studien ähnlich ist, und zwar nicht nur auf der ganz oberflächlichen Ebene, was seine Diagnose (Asthma), sein Geschlecht (Mann) und sein Alter (sagen wir 25) betrifft, sondern auch in seinem Geno- und Phänotyp, seinen spezifischen Lebensgewohnheiten, seiner psychischen Verfassung und seinem sozialen und familiären Umfeld. Noch komplizierter wird es, weil die Medizin mittlerweile viele verschiedene Arten von Asthma kennt, je nachdem, welcher molekularbiologische Mechanismus hinter der chronischen Entzündung der Bronchialschleimhaut liegt. Das alles zu berücksichtigen und die immer größere Palette an therapeutischen Möglichkeiten möglichst präzise, also individuell, auf einen ganz bestimmten Menschen abgestimmt einzusetzen, ist keine kleine kognitive Leistung und möglicherweise ebenfalls ein Fall für die digitalen Superdocs der Zukunft.
Diese können jetzt schon gigantische Datenmengen in kürzester Zeit durchsuchen. Sie sind dabei in gewisser Hinsicht immer auf dem letzten Stand des Wissens, ja mehr noch, indem sie selbst Daten produzieren, tragen sie laufend zur Erweiterung und Adaptierung dieses Wissens bei. Dieser sich selbst fütternde Kreislauf von der Forschung zur Praxis und von der Praxis wieder in die Forschung bedeutet eine Änderung der bisher gültigen Spielregeln, was die Produktion und Verteilung des medizinischen Wissens innerhalb der Ärzteschaft betrifft.
Bisher hat das in etwa so ausgesehen: Die in der klinischen Forschung, das heißt, bei Patienten gewonnenen Erkenntnisse werden von den Experten in den jeweiligen Fachgebieten, also von Rheumatologen, Lungenfachärzten, Diabetologen und so weiter, analysiert, bewertet, diskutiert und schließlich in Leitlinien oder als Empfehlungen für die Praxis veröffentlicht. Den praktisch tätigen Ärzten werden die Forschungsergebnisse und die daraus resultierenden Empfehlungen im Rahmen ihrer Fortbildungsaktivitäten in Form von Vorträgen, Artikeln oder digitalen Lernprogrammen vermittelt. Für die Ärzte bedeutet das einen ziemlichen zeitlichen Aufwand, der natürlich zusätzlich zu ihrer eigentlichen Arbeit anfällt. Fortbildung in einem definierten Umfang und mit klar regulierten Rahmenbedingungen ist mittlerweile in den meisten Ländern, so auch in Österreich, verpflichtend für die Ausübung des Arztberufes. Seit ein paar Jahren reicht es auch nicht mehr, wenn ein Arzt die Bestätigungen über die besuchten Veranstaltungen und absolvierten e-Learnings in seiner Schreibtischlade aufbewahrt, er muss aktiv nachweisen, dass er die vorgeschriebene Mindestanzahl an Fortbildungspunkten erworben hat. Insgesamt sind das 250 Punkte, die ein österreichischer Arzt in einem Zeitraum von fünf Jahren erwerben muss. Wenn man bedenkt, dass es für einen Vortrag in der Länge von 45 Minuten einen Fortbildungspunkt gibt, wird klar, dass sich ein typisches Wochenende im Leben eines Arztes eher nicht am Golfplatz, sondern in diversen Vortragssälen oder vor dem Computer abspielt.
Die potenziellen Cyberdocs der Zukunft können im Prinzip über das gesamte Wissen der Medizin verfügen, und zwar in dem Moment, in dem dieses Wissen entsteht. Quasi eine hundertprozentige Frischegarantie für die eingesetzten Methoden, die kein auch noch so fortbildungswilliger Arzt aus Fleisch und Blut jemals bieten kann. Die Sache hat allerdings einen gar nicht so kleinen Haken: Was die intelligenten Arztmaschinen empfangen, ist zunächst kein Wissen, sondern es handelt sich dabei um reine Daten. Bevor wir ihnen also den virtuellen Arztkittel anziehen, müssen wir zwei Fragen klären:
1. Können Softwareprogramme aus Daten Empfehlungen in Form von Wissen ableiten?
2. Müssen wir für die erfolgreiche Ableitung von therapeutischen Maßnahmen aus den nackten Daten überhaupt den Umweg über Wissen im eigentlichen Sinn nehmen?
Wir werden uns diesen beiden Fragen etwas später noch ausführlich widmen.
Im Status quo ist Fortbildung jedenfalls die unverzichtbare Brücke von der Wissenschaft zur Praxis. Der umgekehrte Weg, also die Produktion von Wissen aus der Praxis, läuft derzeit ebenfalls indirekt über eine Zwischenstation, und zwar über klinisch-experimentelle Studien. In diesen werden die wirklichen Lebensumstände der Patienten in einem standardisierten Umfeld, sozusagen »im Labor«, nachgestellt. Das Problem liegt auf der Hand: Die Ergebnisse dieser Studien sind zwar weitgehend frei von statistischen Verfälschungen, sogenannten Bias, aber sie bilden eben nur zum Teil die »wirkliche Welt« ab. Wenn wir Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes einmal beiseitelegen, dann stehen den intelligenten Maschinendocs potenziell gigantische Datenmengen aus der Cloud zur Verfügung. Diese Daten kommen von den elektronischen Gesundheits- beziehungsweise Krankenakten der Patienten, die wiederum von den diversen Biosensoren, Wearables, Labor- und Röntgenbefunden sowie ärztlichen Dokumentationen gespeist werden. All das kann schließlich auf der Basis von bestimmten Fragestellungen analysiert werden, wie zum Beispiel: »Wie tief sollen wir den Blutdruck bei einem 45-jährigen, übergewichtigen männlichen Diabetiker, der täglich 20 Zigaretten raucht und Meerschweinchen züchtet, senken, damit wir sein Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle reduzieren?« In einem geschlossenen, vollautomatisierten Kreislauf würde unser AI-Doktor die Antwort auf diese Frage direkt umsetzen, indem er seinem Patienten eine adaptierte Dosis seines Blutdruckmittels verschreibt oder im digitalen Messgerät einen neuen Schwellenwert für den Hochdruck-Alarm einstellt. Willkommen in der schönen neuen Gesundheitswelt des IoT, des Internet of Things, das in unserem Fall als »Internet of Medical Things« bezeichnet wird.
Die Anhänger der kompletten Durchdigitalisierung der Medizin erhoffen sich eine Verbesserung der Behandlungsqualität, zum einen durch eine präzisere Anpassung der gewählten Therapie an die individuellen Krankheitsvarianten der jeweiligen Patienten, zum anderen durch laufende Aktualisierung der gewählten Maßnahmen anhand von Echtzeitdaten der Patienten, die in sogenannten Real World Studies gewonnen werden. Ich sehe aber noch einen weiteren potenziellen Vorteil von Artificial Intelligence für die Behandlungsqualität, und der betrifft die Zusammenarbeit von Fachärzten verschiedener Disziplinen.
In der Behandlung von Krebserkrankungen hat sich seit vielen Jahren ein verbindlicher Standard solch einer interdisziplinären Zusammenarbeit etabliert. Es sieht vor, dass jedem Krebspatient ein sogenannter Tumorboard vorgestellt wird, das sich aus Vertretern der verschiedenen in der Krebstherapie relevanten Facharztgruppen zusammensetzt: einem auf die medikamentöse Krebstherapie spezialisierten Onkologen, einem Strahlentherapeuten, einem Chirurgen, einem Radiologen für die Interpretation der Bildbefunde, einem Pathologen für die Beurteilung des entnommenen Gewebes sowie einem für das betroffene Organsystem zuständigen Facharzt. Gegenüber der Zeit vor den Tumorboards bedeutet dies einen gewaltigen Fortschritt. Früher hing die Entscheidung, welche Therapie ein Patient bekommt, nicht selten davon ab, bei welchem Arzt die Krebserkrankung zunächst diagnostiziert wurde. Es war ein bisschen so wie in dem Sketch des großen Kabarettisten Helmut Qualtinger aus den 1970er-Jahren, bei dem Vertreter verschiedener Berufsgruppen – alle von Qualtinger dargestellt – von einem Journalisten zur Zukunft Österreichs befragt wurden. Der Mittelschullehrer sieht die Zukunft natürlich in der österreichischen Mittelschule, der deutsche Großunternehmer sieht sie eng mit der Bundesrepublik verknüpft, und für den Hüttenwirt aus Tirol liegt sie natürlich in den Bergen. Analog dazu hat mir ein Strahlentherapeut einmal versichert, dass weder Operation noch Chemotherapie den Patienten heile, sondern ausschließlich die Bestrahlung. Solch eine Konkurrenz zwischen den verschiedenen Disziplinen ist natürlich im Kampf auf Leben und Tod, dem sich jeder Krebspatient ausgesetzt sieht, ein mehr als unnötiges Störgeräusch. Mittlerweile hat sich bei den onkologisch tätigen Ärzten ein patientenorientierter Zugang durchgesetzt und in Form der Tumorboards auch im klinischen Alltag etabliert. Nicht die Präferenz des Behandlers, sondern die Evidenz der Daten in Abwägung mit dem persönlichen Interesse des Patienten soll den Ausschlag für die Wahl der eingesetzten Behandlung geben.
Ein Patient nimmt es eigentlich als selbstverständlich an, dass die in seine Versorgung involvierten Ärzte, Therapeuten und Pfleger sich untereinander absprechen und ihre Aktionen koordinieren, dass einmal erhobene Befunde ausgetauscht werden und die optimale Behandlung diskutiert wird. Leider geschieht das bis dato aber alles andere als standardmäßig – schließlich gibt es weder ein Stoffwechselboard noch ein Psychoboard noch ein Schmerzboard. Der Hausarzt als Gesundheitsmanager ist von dieser Rolle überfordert und hat auch keine wirklichen Anreize in Form entsprechender Honorarmodelle. Hier könnten die intelligenten Maschinen in die Bresche springen und die therapeutische Zusammenarbeit koordinieren, die Akteure mit den jeweils entscheidungsrelevanten Informationen versorgen und gleichzeitig als leidenschaftslose Instanzen dafür sorgen, dass nicht das Angebot die Versorgung steuert, sondern der nach dem letzten Stand des Wissens zu befriedigende, objektive Bedarf des Patienten.

Effizientere Versorgung – weniger Pyjam...

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