Familie Theodor Vogel 1920 - 1947
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Familie Theodor Vogel 1920 - 1947

Beruf, Familie, Politik Eine zeitgeschichtliche Recherche

Johanna Vogel

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Familie Theodor Vogel 1920 - 1947

Beruf, Familie, Politik Eine zeitgeschichtliche Recherche

Johanna Vogel

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Dr. Ing. Theodor Vogel (1901 - 1977) war in der jungen Bundesrepublik als Unternehmer und als Einiger der deutschen Freimaurerei sowie als Patriarch einer großen Familie eine weithin bekannte und respektierte Persönlichkeit. Als einer der wenigen deutschen Unternehmer, die die Nazizeit mit "lupenreiner weißer Weste" (Der Spiegel) ĂŒberstanden hatten, konnte er bald nach Kriegsende mit Einwilligung der MilitĂ€rregierung seinen Beruf wieder ausĂŒben. 1946 ĂŒbernahm er die Leitung des vĂ€terlichen Betriebes in Schweinfurt.In dieser Recherche geht Johanna Vogel, eine der Töchter, der weniger bekannten Vorgeschichte nach und fragt, wie es der Vater geschafft hat, trotz mancher privater, beruflicher und politischer Probleme seine wachsende Familie unbeschadet durch die krisenhaften Zeiten der Weimarer Republik und des Naziregimes zu bringen. Dabei weicht sie auch kritischen Fragen an den Vater nicht aus.Das Buch ist einerseits eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, andererseits eine an Wahrheit und Genauigkeit interessierte Recherche ĂŒber die Lebensbedingungen und die Überlebensstrategien der Familie in dieser kritischen Epoche deutscher Geschichte.Ein umfangreicher Dokumentenanhang ergĂ€nzt und unterstreicht die PlausibilitĂ€t dieser Recherche.

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Information

Year
2017
ISBN
9783743108028
Edition
2

Beruf und Familie wÀhrend des Dritten Reiches

Eine Vorbemerkung:

Etwas sĂŒffisant referierte 1963 der Autor des Spiegel-Artikels ĂŒber die „Freimaurer“, dass Dr. Theodor Vogel, der Großmeister der Vereinigten Großloge von Deutschland, die Nazizeit mit „blĂŒtenweißem politischem Schurz“ ĂŒberstanden habe26. Diese Anspielung auf ein zentrales KleidungsstĂŒck des freimaurerischen Rituals belegt deutlich, wie wenig glaubwĂŒrdig dem „Spiegel“ die Tatsache gewesen sein muss, dass Theodor Vogel aus der Nazizeit unbelastet herausgekommen war, obwohl damals sogar „SchnellzĂŒge auf offener Strecke extra fĂŒr ihn angehalten“ hĂ€tten. Woher wusste der Spiegel das? GerĂŒchte? Eigene Recherchen? Und wenn es so gewesen war, wie reimt sich das mit der Tatsache zusammen, dass Theodor Vogel in der frĂŒhen Nachkriegszeit als Freimaurer eine so herausragende Rolle spielen konnte?
Bekannt ist, dass die Freimaurerei im Dritten Reich ab 1935 nicht nur verboten worden war, sondern dass zahlreiche Freimaurer auch offen verfolgt worden sind. Da Theodor Vogel schon 1926 der Loge beigetreten war und bereits 1930 sogar zum „Meister“! aufgestiegen war, hĂ€tte er also eigentlich im Dritten Reich nicht reĂŒssieren können sollen. Es ist nicht meine Aufgabe, diesem ungeklĂ€rten Aspekt freimaurerischer Geschichte nachzuforschen und zur AufklĂ€rung eines offenkundigen Widerspruchs in der Biografie meines Vaters beizutragen, umso weniger, als ich der Freimaurerei ohnedies eher skeptischdistanziert gegenĂŒber stehe. Ich lasse diese Diskrepanz also auf sich beruhen. Es genĂŒgt mir, zu wissen, Dass mein Vater, abgesehen vom VorlĂ€uferclub des ADAC und von der NSV, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, keiner nationalsozialistischen Organisation angehört hat.27 Aber wenn man bedenkt, dass er nicht nur unsere große Familie wohlbehalten durch das Dritte Reich gebracht hatte, sondern nachweislich auch mit kriegswichtigen AuftrĂ€gen ordentliches Geld verdient hatte, war dann diese weiße Weste wirklich glaubhaft? Fragen, die sich nicht einfach beiseite schieben lassen. Also mache ich mich an die Arbeit.
Die Aktenlage zu diesen und anderen Fragen im Zusammenhang mit seiner Rolle im Dritten Reich ist dĂŒnn. Vieles fiel dem Bombenkrieg anheim, sein Schweinfurter BĂŒro z. B. wurde bei einem Fliegerangriff 1944 völlig zerstört. Anderes wurde bei Kriegsende auch wohl absichtlich vernichtet. Dies jedenfalls behauptet meine Schwester Barbara. Ihn selbst kann man nicht mehr befragen. Die Nachkommen können wenig Zweckdienliches dazu beitragen. Was bei seinen Kindern in Erinnerung geblieben ist, sind die Namen seiner verschiedenen Reiseziele und wenige im GedĂ€chtnis haftende Informationen ĂŒber den Zweck seiner Reisen. In SaarbrĂŒcken und anderswo war er zum Beispiel hĂ€ufig unterwegs, um „Stollen“ zu bauen, Bauwerke, unter denen ein Kind wie ich sich eher ein abgerundetes, einem Brotlaib Ă€hnliches GebĂ€ude vorstellte als Bergwerksstollen. Dass es wichtig war, was er tat, dass Er wichtig war, ließ sich an vielen Indizien ablesen: ein eigenes Telefon mit der Nummer eins, ein eigenes Auto, im Krieg eine absolute Seltenheit, Besprechungen mit fremden GesprĂ€chspartnern in seinem Arbeitszimmer, dem „Herrenzimmer“, wie dieser große, mit BĂŒchern und Akten voll gestellte Raum immer genannt wurde. Und jeden Tag Post, viel, viel Post. GerĂŒchte ĂŒber ihn, die im Dorf in Umlauf waren, und eine gewisse Distanz der Dörfler unserer Familie gegenĂŒber, untermauerten diese Ahnung seiner Bedeutung.
Man muss sich seine Ausgangslage nach der Entlassung aus der Firma des Vaters einmal vor Augen stellen. Seine ersten Berufsjahre im freien Ingenieurberuf, also sein Einstieg ins eigentliche Berufsleben, fielen zeitlich zusammen mit dem Beginn des NS-Regimes, mit der Machtergreifung. Auch wenn mein Vater sicher kein RevolutionĂ€r gewesen ist und sich fĂŒr Politik vermutlich nur am Rande interessiert hat, so hat er doch ebenso sicher den Aufstieg dieser Partei, die ja nicht unbekannt gewesen war, nur mit Unbehagen verfolgt. Was damals nach deren Triumph in Kopf und Herzen von Menschen vorgegangen sein mag, die diese Partei und ihren FĂŒhrer aus tiefsten Herzen verabscheuten, ist ebenso Spekulation wie die Frage nach den Alternativen. Fakt war, der Nationalsozialismus hatte obsiegt. Man musste sich bis auf weiteres mit den neuen Gegebenheiten arrangieren. Noch lag das kommende Desaster im Dunkel, war es vorstellbar, dass diese „Bewegung“ bald wieder Vergangenheit sein wĂŒrde. Was meine Eltern dazu damals gedacht haben, ist nicht ĂŒberliefert. Sie hatten, so darf man vermuten, in jener Zeit vor allem mit sich selbst zu tun und mit der Versorgung und Sicherung ihrer wachsenden Kinderschar unter den vorlĂ€ufig eher widrigen UmstĂ€nden einer faktischen Arbeitslosigkeit und einer ungesicherten beruflichen Zukunftsperspektive des ErnĂ€hrers.

Das Krisenjahr 1933, auch in Familie und Beruf

An dieser Stelle muss ich nĂ€her auf die familiĂ€re Situation im Jahre 1933 eingehen. Am 28. September 1933 wurde das vierte Kind meiner Eltern geboren, ich, Johanna Gudrun Vogel. WĂ€hrend meine Mutter alle anderen Kinder zuhause entbunden hat, ging sie fĂŒr meine Geburt in eine Privatklinik und verwehrte meinem Vater, sie bei der Entbindung zu begleiten. Es gab eine veritable, offenbar schon lĂ€nger andauernde Ehekrise, deren genaue GrĂŒnde im Dunkeln liegen. In einem sehr persönlichen seitenlangen Brief an Else28 vom 30. September 1933 setzte sich Petrus mit den entstandenen Eheproblemen auseinander und bemĂŒhte sich, sein eigenes Fehlverhalten, das er nicht leugnen wollte, zu erklĂ€ren. Die Situation war bedrohlich ernst, die Ehe in Gefahr. „Ich habe Angst, Dich zu verlieren“, so sein ResĂŒmee an einer Stelle. Er deutet sogar Suicidgedanken an. Die Krise muss tatsĂ€chlich Ă€ußerst ernst gewesen sein; denn der Konflikt anlĂ€sslich meiner Geburt hat sich nachhaltig auch auf meine Stellung in der Familie ausgewirkt.
Um welche Klinik es sich dabei gehandelt haben könnte, ist nicht ĂŒberliefert. Jener Brief meines Vaters, in dem er mehrfach recht ominös von „diesem Haus“ spricht, das zu betreten er sich scheut, lĂ€sst mich aus dem Kontext heraus eher an so etwas wie ein „Frauenhaus“ denken, also eine Einrichtung, zu der in BedrĂ€ngnis geratene Frauen gehen können z. B. zu einer Entbindung o. Ă€. Durch reinen Zufall kam ich dahinter, dass es in Schweinfurt zu Beginn des 20. Jhdts. etwas dergleichen gegeben haben muss. Eine Hebamme namens Anna Rauscher betrieb nahe dem Zentrum der Stadt am Schillerplatz 5 im oberen Stockwerk eines großen Hauses eine Wöchnerinnenstation fĂŒr in Not geratene Frauen29. Auch wenn jene Hebamme 1933 nicht mehr praktizierte, ist es doch durchaus denkbar, dass diese Entbindungsstation weiter gefĂŒhrt wurde, da es Bedarf dafĂŒr ja auch spĂ€ter immer gegeben haben wird. Dieses Haus lag unweit der damaligen Wohnung der Eltern. Es ist also nahe liegend anzunehmen, dass meine Mutter dort entbunden hat. Andeutungen in dem langen Brief von Petrus legen die Vermutung nahe, dass sie auch ihre beiden kleinen Töchter BĂ€rbel und Ursel in dieses Haus mitgenommen hat, so Dass sich Petrus jetzt allein um „Wölfle“, den Ältesten kĂŒmmern musste, der weint und unruhig ist, also die Mutter vermisst..
Ich habe diesen mir ĂŒberlieferten Aspekt unserer Familiengeschichte schon vor lĂ€ngerer Zeit einmal als Einstieg in unsere Familienbiografie formuliert, Beispiel einer wirkmĂ€chtigen Legendenbildung, die ich im Folgenden als Exkurs dokumentiere.

Exkurs: „Schon wieder ein MĂ€dchen!

Am 28. September 1933 wurde ich, Johanna Gudrun Vogel, als viertes von neun Kindern des Dr. Ing. Theodor Vogel und seiner Ehefrau Else Anna, geb. Raasch, in Schweinfurt geboren. Gleichzeitig wurde ich damit das dritte von sechs Töchtern in Folge, was damals allerdings noch keiner wissen konnte. Trotzdem tobte mein Vater „schon wieder ein MĂ€dchen!“, als er von meiner so nicht geplanten Ankunft – und das am helllichten Tag bei strahlendem Sonnenschein – erfuhr, stampfte mit den FĂŒĂŸen auf und verweigerte meiner Mutter, die mich im Schweinfurter Krankenhaus entbunden hatte, den Gratulationsbesuch am Wochenbett.
Tante Philine, eine Freundin meiner Eltern, erzĂ€hlte mir diese Geschichte, als ich so etwa 14 Jahre alt war. Sie meinte, ich mĂŒsse das wissen. Fortan wusste ich es also.
Es hat die Beziehung zu meinem Vater, den wir alle liebten und bewunderten, nicht weiter getrĂŒbt. Eher schon erklĂ€rt es mir eine gewisse Distanz, die ich als Kind fĂŒr meine Mutter manchmal empfand, obwohl sie es mir gegenĂŒber an nichts fehlen ließ. Im Gegenteil. Ist sie wirklich meine Mutter? so fragte ich mich manchmal insgeheim, wobei ich es nicht fĂŒr ausgeschlossen hielt, dass mich mein Vater ihr heimlich untergeschoben hatte. Es erklĂ€rt vielleicht auch dieses GefĂŒhl der Unzugehörigkeit, das mich im Kreise meiner Geschwister als Kind oft beschlich. Manche Fotos aus frĂŒherer Zeit verraten diese Distanz.
Aber Distanz ist vielleicht nicht der schlechteste Ratgeber, wenn es darum geht, die Geschichte einer Familie zu rekonstruieren, in der aufgewachsen zu sein, ich bis heute als ein Privileg betrachte. Dass diese Geschichte keine simple Familiensoap werden kann, wollte ich aber schon einmal vorausschauend verraten. Schließlich geht es ja auch, wie mein Titel verrĂ€t, um das Patriarchat, das ich immer gehasst habe und das ich bis heute mit meinen Mitteln bekĂ€mpfe. Es geht also auch um Kampf, um den Kampf zwischen VĂ€tern und Töchtern, zwischen MĂ€nnern und Frauen, zwischen denen da oben und uns da unten.
Es geht aber auch um meinen Versuch, am Beispiel unserer Familie und meines Vaters zum besseren VerstĂ€ndnis der widersprĂŒchlichen deutschen VerhĂ€ltnisse des vergangenen Jahrhunderts beizutragen. Zwischen „Pater familias“, Naziherrschaft und der Freimaurerei, zwischen schöngeistigen Interessen und einem aufgezwungenen Unternehmerberuf balancierend, wird mein Vater als eine wahrscheinlich nicht untypische historische Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts erkennbar. Der autobiographische Ansatz in meiner Darstellung, auf den ich nicht verzichten will und kann, soll dabei deutlich machen, dass Geschichte, Zeitgeschichte zumal, nie nur objektiv betrachtet werden kann, weil sie stets von den konkreten Menschen mit ihren Hoffnungen und Idealen, aber auch ihren IrrtĂŒmern, Grenzen und Fehlern, gestaltet und erlitten wird.
Aber bleiben wir noch ein wenig bei meinem Eintritt in dieses Leben. Warum der ausgerechnet in einem Krankenhaus stattfand, lĂ€sst sich nachtrĂ€glich nur noch schwer erklĂ€ren. Gesundheitliche Probleme meiner Mutter schließe ich aus. Schließlich hat sie alle anderen meiner Geschwister, wie das damals ĂŒblich war, zuhause entbunden, und immer ohne irgendwelche Komplikationen. Und krank, wirklich krank, habe ich sie nie erlebt. War der Grund also vielleicht eine erste sich anbahnende Ehekrise, was die eingangs geschilderte Explosion meines Vaters verstĂ€ndlicher machen wĂŒrde? Oder waren es rein praktische ErwĂ€gungen, den schwierigen hĂ€uslichen VerhĂ€ltnissen geschuldet? Auch dafĂŒr spricht Einiges. Denn nach allem, was ĂŒberliefert ist, wohnte die junge, aber nicht mehr ganz kleine Familie damals noch immer in einer recht bescheidenen Wohnung im Hause des Großvaters Vogel in Schweinfurt. Eine Hausgeburt unter diesen eingeengten Wohnbedingungen wĂ€re also sicher problematisch gewesen. Außerdem stand der Plan eines Umzuges nach NĂŒrnberg schon im Raum. Dort wollte mein Vater sich mit einem ersten kleinen IngenieurbĂŒro selbstĂ€ndig machen, und seine bis dahin nur notdĂŒrftig mit Schriftstellerei ĂŒber Wasser gehaltene wachsende Familie auf eine solidere Basis stellen. Auch Abstand zu finden zum eigenen Vater war sicher ein Motiv dabei.
Ich habe unsere Familie also unter recht turbulenten Rahmenbedingungen betreten, soviel steht fest. Schon neun Monate spĂ€ter gab mich meine Mutter fĂŒr mehrere Monate bei Tante Grete, ihrer Ă€lteren Schwester, in Pension, wohl um den Umzug nach NĂŒrnberg, vom Geschrei eines Babys erlöst, leichter bewerkstelligen zu können. Auch in spĂ€teren Jahren fand ich mich immer wieder fĂŒr lĂ€ngere oder kĂŒrzere Zeit bei Tante Grete ein, die deshalb so etwas wie meine zweite Mutter geworden ist. Auch von ihr wird spĂ€ter noch öfters die Rede sein.
An das Leben der jungen Vogelsfamilie in Schweinfurt habe ich verstĂ€ndlicherweise keine eigenen Erinnerungen. Das gilt auch fĂŒr die wenigen Jahre, die die Familie in NĂŒrnberg zubrachte. Ich bin fĂŒr diese Zeit also auf die mir zugĂ€nglichen schriftlichen Zeugnisse und die löchrigen Erinnerungen meiner Ă€lteren Geschwister angewiesen. Wenn Dichtung und Wahrheit also hie und da ein wenig ineinander verschwimmen, so möge man mir das verzeihen.
Das Gleiche gilt fĂŒr die Vorgeschichte unserer Familie, die Jahre der AnnĂ€herung meiner Eltern. Trotzdem weiß ich darĂŒber mehr, wahrscheinlich weil meine Eltern ebenso wie Verwandte und Freunde uns öfters davon erzĂ€hlten. Es ist eine durchaus spannende Liebesgeschichte der ersten Nachkriegszeit, die allen Schwierigkeiten und WiderstĂ€nden zum Trotz zu einem Happyend gefĂŒhrt hat.

Soweit also mein damaliger Versuch, meinen Platz in der Familie zu beschreiben. Aber der lange Brief meines Vaters, den ich kĂŒrzlich erst in die HĂ€nde bekam, zeigt mir, dass jene mir von wohlmeinenden Freunden der Familie vermittelte Sicht auf die damalige Ehekrise anlĂ€sslich meiner Geburt vermutlich eine Legende ist. Denn dieser Aspekt, schon wieder ein MĂ€dchen, taucht jedenfalls in diesem Brief ĂŒberhaupt nicht auf. Er passt auch nicht zu meinem Vater, der selbst mit 5 Schwestern aufgewachsen ist, und der sich seinen Töchtern gegenĂŒber immer fair, aufgeschlossen und – ja – charmant – verhalten hat. Jemand, dem ich von diesem MissverstĂ€ndnis erzĂ€hlte, meinte dazu, vielleicht sei die EnttĂ€uschung ĂŒber „schon wieder ein MĂ€dchen“ ja eher die EnttĂ€uschung meiner Mutter gewesen. Wer weiß?
Also zurĂŒck zu dem Brief meines Vaters vom 30. September 1933. Darin blitzt noch ein ganz anderes Problem auf, das – von ihm nicht nĂ€her kommentiert - vielleicht ein Hinweis auf den eigentlichen Konflikt hinter dieser Ehekrise ist: Petrus hat erfahren, dass Frau Perret sich zu Besuch am Wochenbett seiner Frau angemeldet hat, „die Frau des Mannes“, der ihn „verriet“ und schuld daran ist, dass Petrus im „neuen Deutschland“ seinen „verdienten Platz“ nicht einnehmen kann30. Der Besuch dieser Dame ist der eigentliche Grund, weshalb sich Petrus trotz grĂ¶ĂŸter Sorgen um den Gesundheitszus...

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