I Der Zwergenkönig in der germanischen Überlieferung
Der Zwergenkönig ist eine der vielfältigeren Gestalten aus der germanischen Mythologie. Ein Zwerg ist ein Toter – das germanische Substantiv „dwergaz“ bedeutet wörtlich „Totengeist“. Der König der Totengeister ist der Sonnengott-Göttervater Tyr in der Unterwelt.
Diese Funktion des ehemaligen Göttervaters Tyr ist nach seiner Absetzung durch Thor und Odin um 500 n.Chr. in den Hintergrund getreten und in viele einzelne Facetten und Gestalten zerfallen.
Dadurch, daß man alle diese Zwergenkönige in einem Bild zusammenfassen kann, läßt sich das ursprüngliche Bild des „Totenkönigs“ jedoch weitestgehend wieder rekonstruieren.
Derselbe Zerfalls- und Umdeutungsprozeß wie bei dem Zwergenkönig läßt sich auch bei „Tyr in der Unterwelt“ als Riese beobachten – wobei es bei dem Zwergenkönig im Vergleich zu dem Tyr-Riesen nur sehr wenige Umdeutung gibt.
Ein weiteres verwandtes Motiv ist der „Friedenskaiser im Berg“, der einst aus dem Berg zurückkehren soll. Der bekannteste „schlafenden Kaiser“ ist Kaiser Friedrich Barbarossa im Kyffhäuser. Der zyklische Wechsel von Tod und Wiedergeburt des ehemaligen Sonnengott-Göttervaters Tyr ist in der Barbarossa-Sage noch deutlich zu erkennen.
I 1. Alberich in der germanischen Überlieferung
Alberich ist den Mythen und Sagen der Germanen meistens, aber nicht immer ein Zwerg, der einige magische Gegenstände besitzt.
I 1. a) Der Name „Alberich“
Dieser Name ist eigentlich ein Titel und bedeutet „König der Alfen“. Die „Alfen“ sind die Totengeister in Muspelheim im Süden, das ursprünglich vermutlich „Alfheim“ genannt worden ist. Nachdem der ehemalige Sonnengott-Göttervater Tyr um 500 n.Chr. von Thor, Odin und Freyr gestürzt worden war, erhielt Freyr dieses „Alfen-Jenseits“ als seinen Anteil an der Beute. Ab dem Zeitpunkt wurde „Alfheim“ als die Halle des Gottes Freyr aufgefaßt.
Die Bezeichnung „Alfen“ für die Totengeister bedeutet „Weiße, Leuchtende“ und bezieht sich vermutlich zum einen auf die hellsichtige Wahrnehmung von Totengeistern als leuchtende, milchigweiße Schemen und zum anderen auf das „helle Jenseits“ des Tyr am südlichen Himmel (siehe „Asgard“ in Band 52).
„Alberich“ ist somit der „König der Totengeister im hellen, südlichen Himmelsjenseits“ oder, etwas kürzer formuliert, der „Totengott Tyr im Jenseits“. „Alberich“ ist daher auch ein Name des „Tyr-Riesen“ – auch wenn Tyr unter dem Namen „Alberich“ nicht als Riese, sondern nur als Mensch oder als Zwerg erscheint.
I 1. b) Wieland-Lied
Wieland der Schmied ist der ehemalige Göttervater Tyr, der in der Unterwelt (Toteninsel) von dem Jenseitsgott Loki (König Nidud) und seiner Frau Sigyn-Hel (König Niduds Frau) während des Winters, in dem Loki über die Welt herrscht, gefangen ist. Die Königin ist die Göttin, um die sich Tyr und Loki in den früheren Mythen endlos gestritten haben, da sie nur nach der Vereinigung mit ihr von ihr wiedergeboren und in das Diesseits zurückkehren konnten. Das Zerschneiden der Sehnen bei Wielands Gefangenschaft ist auch von dem griechischen Göttervater Zeus bei dessen Gefangenschaft in der Unterwelt durch die Riesenschlange Python bekannt.
Loki-Nidud, der hier als der Fürst („Drost“) der Niaren bezeichnet wird, nennt Tyr-Wieland „Weiser der Alfen“.
Da rief Nidud, der Niaren Drost:
„Wo erwarbst Du, Wölund, Weiser der Alfen,
Unsere Schätze in Ulfdalir?“
Die Schätze des Wieland sind vor allem sein Ring und sein Schwert. Der Ring ist nach Tyrs Absetzung in Odins Besitz übergegangen – er heißt „Draupnir“. Das Sonnen-Schwert des Tyr-Wieland ist u.a. auch von dem Tyr-Riesen Surtur bekannt.
Wölund:
„Hier war kein Gold wie auf Granis Wegen,
Fern ist dies Land den Felsen des Rheins.
Mehr der Kleinode mochten wir haben,
Da wir heil daheim in der Heimat saßen.“
Mit die „Felsen des Rheins“ ist die Loreley gemeint, von der aus der Nibelungenhort in den Rhein geworfen wurde.
König Nidud gab seiner Tochter Bödwild den Goldring, den er vom Baste gezogen in Wölunds Haus; aber er selber trug das Schwert, das Wölund hatte.
Der Ring als Symbol der Jenseitsreise wechselte bei dem Streit zwischen dem Göttervater Tyr und dem Jenseitsgott Loki je nach dem Kampfglück den Besitzer.
Der Ring gehörte eigentlich der Jenseitsgöttin, mit der sich der Göttervater und der Jenseitsgott vereinten (nachdem sie die Göttin dem jeweils anderen geraubt hatten), da sie nur durch diese Göttin anschließend an die Wiederzeugung wiedergeboren werden konnten.
Der Wechsel des Ringes zwischen Diesseits und Jenseits wird auch in der Mythe über Baldurs Tod beschrieben, in der Odin seinem Sohn Baldur den Ring Draupnir auf seinem Weg zur Hel mitgibt und der dann später von dem Schamanen-Priester und Odins-Sohn Hermodr als Gruß des Baldur an Odin wieder ins Diesseits gebracht wird.
Eine Variante dieses Themas ist die Mythe über den Streit zwischen Heimdall und Loki um Freyas goldenen Halsreif Brisingamen.
Ursprünglich ist dieser Ring ein Symbol der Sonne gewesen (siehe „Ring“ in Band 57).
Da sprach die Königin:
„Er wird die Zähne blecken vor Zorn, erkennt er das Schwert
Und unseres Kindes Ring.
Wild glühen die Augen dem gleißenden Wurm.
So zerschneidet ihm der Seh...