Gefährliche Illusionen
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Gefährliche Illusionen

Denkt! Für die Vernunft in unvernünftigen Zeiten

Vitaly Malkin

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Gefährliche Illusionen

Denkt! Für die Vernunft in unvernünftigen Zeiten

Vitaly Malkin

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Trotz wissenschaftlicher Erkenntnisse und technologischem Fortschritt riskiert die Weltgemeinschaft gerade eine völlige Umkehr, die unsere säkularen Werte und die Errungenschaften der Aufklärung ausmerzen und uns wieder zurückwerfen kann. Wer wird die Zukunft regieren? Vernunft oder Chimären? Wissen oder Glaube? Glück oder Leid? In aufklärerischer Tradition ruft Vitaly Malkin in diesem Buch dazu auf, die Fesseln zu sprengen, das Leben mit den scharfen Klingen der Vernunft freizuschneiden und nicht auf ferne Hoffnungen zu vertrauen. Der russische Autor und Philanthrop begibt sich dafür auf philosophische Spurensuche in die Katakomben der europäischen Kultur: als kühner Rationalist recherchiert er nach subtilen Einschränkungen, psychologischen Machtsystemen und täuschenden Chimären, die er in der abendländischen Geschichte und in den monotheistischen Religionen in Bildern und Texten ausfindig macht.In seinem kontroversen und polemischen Essay plädiert Vitaly Malkin für ein Leben als freier Geist. Er verteidigt die Vernunft und ruft seinen Lesern zu: "Denkt!"

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Information

Publisher
Wolff Verlag
Year
2018
ISBN
9783941461260

KAPITEL VI

Der ärgste
Feind Gottes

Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.
(Matthäusevangelium 5, 28)
Alle Lüste sind die Feinde Gottes; die größte und begehrteste ist wohl die sexuelle. Dennoch wurde lange Zeit dieses Thema nicht angesprochen.
Vielleicht deswegen, weil Fernsehen, Kino und Publizistik bereits so voll von ihr sind, dass jeder Autor, der Ernsthaftigkeit beansprucht, unbewusst versucht, die Diskussion über Sexualität irgendwohin weit weg zu schieben. Ich bin genauso. So habe ich „50 Shades of Grey“ sofort tief in eine Schublade mit alten Zeitungen gesteckt.
Durch des Schicksals Fügung hat uns das Thema in das Land Kambodscha geführt, in dem Anhänger der monotheistischen Religionen circa zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen, und die Zahl der Christen nur ein Fünftel davon beträgt.

Eine unerwartete Begegnung
mit einem christlichen Missionar

Diese Begegnung fand während des Besuchs von Angkor statt – das eine Fläche von zweihundert Quadratkilometern und etwa fünfzig Tempel hat, mit dem größten sakralen Bauwerk in der Geschichte der religiösen Menschheit. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie viel dies alles gekostet hat. Für das Geld könnte man wohl für jeden Kambodschaner ein goldenes Haus bauen!
Die Auswahl der Reiseführer war nicht groß; am Ende entschieden wir uns für eine sehr ungewöhnliche Person. Es stellte sich heraus, dass Alexander Koreaner war, der in der ehemaligen Sowjetunion geboren wurde und nach deren Zusammenbruch eine Zeitlang in China, Südkorea und Thailand wohnte und als Kleinhändler arbeitete. Wegen eines Ereignisses, über das ich etwas später erzählen werde, gab er seine Stellung auf und zog vor fünf Jahren nach Kambodscha um.
Eine Führung durch den Tempel dauerte mehr als sechs Stunden, im Laufe deren uns Alexander pausenlos nicht nur die Geschichte der Erbauung Angkors, sondern auch eine Menge Details über das Leben und Gewohnheiten seiner alten Einwohner erzählte.
Wir begannen mit der riesigen Tempelanlage Angkor Wat, bewunderten Shiva gewidmete Basreliefs des Tempels Banteay Srei und staunten über die übernatürliche Schönheit des antiken Heiligtums Ta Prohm.
Alle waren sehr müde und wollten schnell ins Hotel rückkehren, jedoch erregte bei der Ausfahrt aus Angkor ein halbzerstörter Tempel unsere Aufmerksamkeit. Zum wunderschönen, halbruinierten Tempel führte ein langer und breiter Weg aus mehreren Reihen großer flacher Steinen, die von dunkelgrünem Moos überwuchert waren.
Zu unserer Überraschung meinte unser Reiseführer, dass es nicht nötig sei, einen weiteren „Haufen Steine“ zu besichtigen. So untersuchten wird den Tempel auf eigene Faust. Erst als wir zurückkamen, verriet uns Alexander, dass ihm all diese unreinen heidnischen Idole tief zuwider seien.
Er erklärte, dass er ein tief religiöses Mitglied der Pfingstgemeinde sei und in Kambodscha als Missionar lebe. Es sei nicht seine Schuld, dass die Khmer tote Steine ​​anbeteten und keinen wahren Gott kennen würden. Zuerst wollte er nicht wirklich mit uns darüber sprechen, aber nach ein paar Minuten Gespräch fühlte er unser echtes Interesse an ihm und taute auf. Kambodscha mit all seinen Problemen, den Khmer und Angkor waren völlig vergessen; wir führten stundenlange Gespräche über die spirituelle Transformation durch die Taufe, seine eigenen Reisen in die Hölle und ins Paradies und Heilung der Kranken.
Ich war sehr interessiert daran, wie Alexander zu seinem Glauben fand. Mit vierzig Jahren überlebte er einen klinischen Tod. Sein Atem stoppte völlig, er begriff, dass er tot war, seine Seele verließ den Körper und stürzte in einen Tunnel, an dessen Ende ein gespenstisches Licht zu sehen war. Während seines Aufenthalts im Tunnel sah seine Seele klar alle wichtigen Episoden seines Lebens. Dann flog sie aus ihm heraus, stürmte zu den Sternen und spürte die Anwesenheit eines mächtigen Wesens. Trotz der Tatsache, dass Alexander zu diesem Zeitpunkt noch kein frommer Mensch war, begann seine Seele, Gott für seine Rettung anzuflehen.
Es kam keine Antwort, aber es geschah ein Wunder: bald stürmte die Seele mit der Geschwindigkeit des Lichts von den Sternen zurück zur Erde. Seine Seele sah nun den zu ihr gehörenden, leblosen Körper und die daneben sitzende Krankenschwester, die verzweifelt versuchte, diesen Körper ins Leben zurückzubringen. Dann gab es eine lange Operation und vollständige Genesung.
Kurze Zeit später hatte Alexander einen seltsamen Traum:
Er sah ein goldenes römisches Tor, durch das er eintrat, und vor ihm erschienen schöne Mädchen, die ihn umringten. Plötzlich warf ihm sein Schwiegersohn, Jäger von Beruf, ein Gewehr zu und die Mädchen verschwanden sofort. Als Nächstes sah er einen riesigen Adler mit goldenen Federn und einem Medaillon auf der Brust, er flog von rechts nach links in Richtung des Tores.
Als der Adler sich in die Mitte des Tores setzte und seine mächtigen Flügel faltete, rief der Schwiegersohn zu Alexander: ,Schieß!‘ Alexander betätigte den Abzug und traf genau ins Gelbe des Medaillons. Der Adler flog vom Tor zu ihm, landete auf einen riesigen Felsblock und fragte ihn mit menschlicher Stimme: ,Möchtest du in Ehre und in hohem Ansehen leben?‘
Alexander verneinte und wachte auf. Von Furcht lief Alexander in die Küche, wo er auf die Knie fiel und anfing, zu beten:
,Herr, vergib mir, ich habe Angst.‘ Dann hörte er erneut die Stimme des Adlers: ,Willst du das Gesicht Gottes sehen?‘ Er antwortete wieder: ,Nein, nein, ich habe Angst!‘ Denn er erinnerte sich gut daran, dass der Anfang der Weisheit die Furcht Gottes ist.
Erst nach etwa einem Jahr war Alexander in der Lage, diesen Traum zu deuten. Der Adler ist ein Engel, das Medaillon auf der Brust des Adlers ist die Sünde des Ehebruchs, die Mädchen sind seine sündigen Beziehungen zu Frauen. Und das Wunder geschah: Der Glaube an Jesus und Gebete befreiten ihn vom Joch seiner Sünde, retteten ihn vor dem Grauen des Ehebruchs.
Dieser Traum half Alexander zu verstehen, dass der klinische Tod das Ergebnis seines unmoralischen Lebensstils war. Besonders zu schaffen machte ihm das Leben mit seiner dritten Frau, die er sehr liebte, und der es nicht gelang, ihn zu lieben. Schlimmer noch, nach seiner Erzählung über die Reise zu den Sternen verlangte sie, dass er in eine andere Wohnung umziehe. Sie wollte nicht auf den Zuspruch aus dem Jakobusbrief hören: „[...] Sondern ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und gelockt wird. Darnach, wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod.“ (Jakobus 1,14-15).
Im Folgenden überschütteten wir Alexander mit Fragen, die er längere Zeit nicht beantwortete, auf die er fast nie direkte Antworten gab – oft ärgerte er sich offensichtlich. „Alexander, haben Sie eine Frau in Kambodscha?“
– „Nein.“
– „Dann lebt wahrscheinlich ihre Freundin mit Ihnen? Wir haben viel Gutes über Kambodschanerinnen gehört, zum Beispiel dass sie treu, fürsorglich und glatthäutig seien.“
– „Es gibt keine Freundin.“
– „Alle fünf Jahren?“
– „Ja.“
– „Aber wenn Sie keinen Sex haben, wie befriedigen Sie Ihr sexuelles Verlangen?“
– „Ich habe gar keine sexuelle Lust! In seinem Brief an die Kolosser sagt der Apostel Paulus deutlich, dass es notwendig sei, die irdischen Glieder abzutöten: Unzucht, Unreinheit, Leidenschaft, böse Begierde und die Habsucht... In Übereinstimmung mit dem Willen Gottes sollte man sein Gefäß in Frömmigkeit und Ehren behalten, und nicht in Leidenschaften der Begierde, wie die Gott nicht kennenden Heiden!“
– „Aber das kann doch nicht sein! Sie sind ein gesunder Mann, Sie haben Zeugungsorgane – Hoden, die kontinuierlich Sperma erzeugen und Hormone im Blut –, die erfordern, dass dieses Sperma irgendwohin ausgegossen wird! Sind Sie nicht krank?“
– „Ich bin gesund! Und mit den Geschlechtsorganen und Sperma ist bei mir alles in Ordnung, aber ich habe kein sexuelles Verlangen. Gott hilft mir, es nicht zu haben. Der Apostel Paulus, in seinem Brief an die Korinther, sagt deutlich, dass der Sünder an seinem eigenen Leib sündige, und der, der einer Hure anhänge, mit ihr ein Leib sei.“
– „Und wohin verschwindet Sperma in diesem Fall?“ – „Ich weiß nicht, wohin. Ich habe keine sexuelle Lust im Körper, und damit hat sich’s, weil es keine christliche Liebe zur Frau gibt. Ich fand noch nicht die Richtige. Aber ich habe den Wunsch und die Freude des Gebets. Auch hier werde ich Paulus zitieren: ,Der Leib aber ist nicht für die Unzucht, sondern für den Herrn, und der Herr für den Leib.‘“ (1. Kor. 6,13)
– „Aber Sie wollen doch noch Kinder haben?“
– „Ich will! Sobald ich eine gute Frau finde, sie in der kirchlichen Tradition heirate, wird Gott mir sexuelles Verlangen wiedergeben. Denn vor der Ehe stammt es vom Teufel, und in der Ehe – von Gott.“
Das Interessanteste, was mir in der Erzählung unseres Reiseführers auffiel, war die Trennung der Sexualität vom Menschen: Es stellte sich heraus, dass man mit Hilfe Gottes Sexualität einfach „ausschalten“ und genauso einfach „einschalten“ kann. Wie Licht im Raum mit Hilfe eines Schalters. Wie haben die monotheistischen Religionen es geschafft, das Unmögliche zu tun: Den Menschen von einer seiner grundlegenden physiologischen Funktionen zu trennen?
Nach Alexanders Erzählung und dem anschließenden Dialog verstanden wir, aus welchem Grund seine dritte Frau ihn aus der Wohnung verbannte. Jeder würde in einer solchen Situation denken, dass nicht Alexander, sondern die Religion verrückt geworden sei. Obwohl Alexander ein guter Kerl ist, wird seine vierte Frau, wenn es sie geben wird, kein leichtes Spiel mit ihm haben. Nach diesem Gespräch begriff ich auch, dass ich noch ein paar Monate meines Lebens für das Schreiben dieses Kapitels brauchen würde. Ich beginne mit den alten Zeiten, als Gott unter den Menschen noch nicht zu finden war und die Sexualität ihre sündhafte Natur noch nicht kannte.
Warum ist diese Trennung der Sexualität vom Menschen überhaupt passiert? Oder besser gesagt, warum ist sie in den dem Monotheismus vorangehenden Zivilisationen, in denen Sexualität als ein wichtiger und unentbehrlicher Bestandteil des Menschen gesehen wurde, nicht passiert?

Sex, bevor es Gott gab

Es ist sehr schwierig für einen vernünftigen Menschen, die Tatsache zu akzeptieren, dass die abrahamitischen Religionen die Sexualität, eine so natürliche Offenbarung der menschlichen Natur, aus allen anderen Bedürfnissen des menschlichen Körpers abgesondert hervorheben. Es scheint uns, dass genau dieses Gefühl der große Montaigne spürte, als er in der Mitte des religiösen Obskurantismus seinen berühmten Sinnspruch zu diesem Thema schrieb:
„Wodurch hat sich der Geschlechtsakt vor den Menschen schuldig gemacht – ein so natürlicher, so wesentlicher und so gerechtfertigter Akt –, dass sich nicht einer traut, ohne Schamesröte auf dem Gesicht darüber zu sprechen oder dieses Thema in einem ernsthaften und anständigen Gespräch anzuschneiden? Töten, Bestehlen, Verraten bringen wir leichtfertig über die Lippen, dieses verbotene Wort jedoch bleibt uns im Halse stecken. Könnte man daraus vielleicht schließen, dass dieses Wort uns umso mehr im Kopf herumgeistert, je seltener wir es aussprechen?“
Und tatsächlich, obwohl die Rolle der Instinkte im menschlichen Verhalten immer noch Anlass zu hitzigen Debatten gibt, wagt sich niemand heutzutage, die große Kraft der sexuellen Lust und den riesigen Spaß, den ihre Befriedigung bringt, zu verleugnen. In dieser Hinsicht ist es unsinnig, den Menschen mit Tieren zu vergleichen: Der Mensch hat im Durchschnitt viel mehr Sex als Tiere, und meistens nur zur Erhaltung des Vergnügens. Der Wunsch zur Fortpflanzung stellt nur einen winzigen Teil des Verlangens nach Sex dar.
Sex kam zu den Menschen lange vor allen Göttern, geschweige vor dem einen Gott. Dabei waren die altertümlichen Gesellschaften durch absolute sexuelle Freiheit geprägt. Die Geschlechtsorgane als die mystischen Werkzeuge der Fortsetzung des Menschengeschlechts wurden als sakrale Gegenstände der Verehrung betrachtet. Der Phallus wurde überall dargestellt: auf den Häusern, in der Öffentlichkeit, auf den alltäglichen Dingen. Das weibliche Geschlechtsorgan war auch präsent: Es wurde bereits auf den ersten Artefakten der menschlichen Geschichte dargestellt. Die polytheistischen religiösen Kulte waren, ihrem Wesen nach, Kulte der Sexualität: Daher verboten die polytheistischen religiösen Kulte die sexuellen Kontakte nicht und riefen sogar zum Geschlechtsverkehr und Orgien auf, in denen sie die sakrale Lebensenergie sahen. Wie konnte man die Welt- und Menschenschöpfung ohne sexuelle Begierde denken?
Die Götter des Polytheismus sind auf den Basreliefen der Tempel in höchst erotischen Positionen zu sehen. Die Figuren zeigen ihre männlichen Glieder und übergroße schwellende Schamlippen: Im Morgengrauen der Zivilisation galt die Vagina als sakrales Objekt. Und ob man sie zeigen darf, wem und wann genau, ist ja eine umstrittene Frage: Von der Natur aus gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Geschlechtsorganen und Armen oder Beinen.
Manche Historiker glauben sogar, dass der Gott am Anfang Frau war: In den sumerischen, assyrischen, phönizischen und armenischen Zivilisationen existierte der Kult der Göttin Astarte oder Ištar, der mit der weiblichen Sexualität, Fortpflanzung und kosmischer Weisheit assoziiert wurde. Sumerische Hymnen vergleichen die Vulva der Göttin mit dem „Boot des Himmels“ und beschreiben enthusiastisch die „edlen Gaben“, die aus ihrem Schoß ausfluteten. Die Priesterinnen des Kults hatten an bestimmten Tagen sexuelle Beziehungen mit Männern und ermunterten zu Orgien, weil sie glaubten, dass sie dadurch den Männern erlaubten, „das Sakrale zu berühren“. In Babylon konnte ein Vater stolz seine unverheiratete Tochter zum Gottesdienst ins Gotteshaus geben, wo sie „Gottes Frau“ oder anders gesagt „Hure“ wurde. Es gab nichts Beschämendes und Peinliches darin, und die Tochter hat alle Rechte auf das Erbe vom Vater behalten. Herodotus schreibt:
„Nun aber kommt der hässlichste Brauch bei den Babyloniern. Jedes Weib des Landes muss sich einmal in ihrem Leben beim Tempel der Aphrodite niedersetzen und mit einem Fremden schlafen. […] Das Geld mag nun so viel sein, als es will: Sie darf es nicht verschmähen; das ist verboten, denn das ist geweihtes Geld, und mit dem Erstbesten, der ihr Geld hinwirft, mit dem muss sie gehen, und darf keinen abweisen. Wenn sie sich nun hat beschlafen lassen, und sich dadurch der Göttin geweiht, so geht sie wieder nach Hause, und fortan kann man ihr noch so viel bieten, sie tut’s nicht wieder. Die nun hübsch aussehen und wohl gewachsen sind, die kommen bald wieder nach Hause; die hässlichen aber müssen lange Zeit dableiben und können das Gesetz nicht erfüllen, ja manche bleiben wohl drei bis vier Jahre.“ (Herodotus, „Die Geschichten“)
Das ist eine, für die heutige Art der Religiosität, höchst ungewöhnliche Art der Gottesanbetung, und dennoch denke ich, dass der Großteil der männlichen Bevölkerung diesem Kult liebend gerne beitreten würde – das wäre doch weitaus vornehmer, als heimlich Geliebte und Prostituierte aufzusuchen. Übrigens, nahm das Wort „Orgie“, allein durch die Bemühungen monotheistischer Religionen, eine stark negative Konnotation an. In der Antike jedoch bezeichnete es eine durchaus ehrenwerte Tätigkeit (und auch jetzt teilen viele Menschen diese Ansicht, vor allem Jugendliche). In den Orgien sah man die sakrale Lebensenergie.
Hier ein paar Worte des Philosophen, Ethnografen und anerkannten Spezialisten für antike Zivilisationen, Mircea Eliade, zum Thema Orgien:
„Gerade eine Orgie gibt der sakralen Energie des Lebens eine...

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