Auffallende Quantitäten und Qualitäten der spätmittelalterlichen Frömmigkeit
Zu den Selbstverständlichkeiten der gegenwärtigen kirchengeschichtlichen Forschung gehört es, dass das ausgehende Mittelalter des fünfzehnten und beginnenden sechzehnten Jahrhunderts im Abendland nördlich der Alpen die Ära einer ungewöhnlich forcierten Kirchenfrömmigkeit und eines gesteigerten religiösen Eifers war. 1 Die Quantitäten dieser Devotion übertreffen alles, was wir aus anderen Epochen der Christenheit kennen. Erinnert sei nur an die seit dem späten vierzehnten Jahrhundert sprunghaft nach oben gehende Zahl der Schutzheiligen, Reliquien, Gnadenstätten, Gnadenbilder, Wunderberichte, Prozessionen, Wallfahrten, Ablässe, Gebete, Stiftungen, Messfeiern, Priester, Bruderschaften, Kirchen- und Kapellenbauten, Altäre, schützenden Bildchen und Abzeichen und vieler anderer Devotionalien. In großen Reichsstädten wie Ulm erreicht eine derartige Massenhaftigkeit Höchstgrade der Kumulierung und Verdichtung – man denke nur an die 52 Altäre des Münsters 2 –, aber auch das Ulmer Landgebiet ist sehr typisch, weil es zeigt, wie stark der spätmittelalterliche Frömmigkeitsboom auf Kleinstädte und Dörfer ausstrahlte und von ihnen angereichert wurde. 3
Hinter den außerordentlichen Quantitäten einer zählbaren Frömmigkeitsvermehrung standen zweifellos auch entsprechende Qualitäten einer sich verändernden Seelenlage: auffallende Intensitäten der Devotion 4 und religiöse Erregungszustände bis zur Hysterie. Zwar hat es nicht an zeitgenössischer Kirchen- und Frömmigkeitskritik gefehlt, die in vielen populären Frömmigkeitspraktiken Aberglaube, Unvernunft und Leichtgläubigkeit diagnostizierte. 5 Aber diese Kritiker, meist reformbewusste Vertreter der Amtskirche, waren in der Regel selbst Multiplikatoren einer intensivierten und forcierten Kirchenfrömmigkeit, indem sie die spirituelle Kraft der sakralen Institutionen und die Ernsthaftigkeit des Frömmigkeitsstrebens steigern wollten. 6 Das vielseitige Drängen nach Reform (reformatio) erwies sich daher als integrativer Faktor und Motor der Frömmigkeitssteigerung und -multiplizierung. So gesehen war die dann folgende Reformation des sechzehnten Jahrhunderts nicht nur Gegensatz zur Kirchlichkeit des Spätmittelalters, sondern auch das Produkt der vorausgegangenen Frömmigkeitsblüte, vor allem des in ihr virulenten Strebens nach sicheren Gnaden- und Heilsgarantien. 7
Vielfalt und polare Spannungsverhältnisse in der spätmittelalterlichen Frömmigkeit
Charakteristisch für diese Kirchenfrömmigkeit des ausgehenden Mittelalters war sowohl die Tendenz zur massenhaften Vervielfältigung als auch die zu einer ungemein differenzierten und spezialisierten Vielfalt. Einem Einwohner des spätmittelalterlichen Ulm, ob Mann oder Frau, ob reich oder arm, ob Laie oder Kleriker, standen viele Möglichkeiten offen, um durch religiöse Vorsorge sein irdisches Wohl zu sichern und vor allem seine Jenseitsaussichten zu verbessern. Man konnte zwischen einer Vielzahl von heiligen Schutzpatronen, Kirchen, Ordensgemeinschaften, Bruderschaften, Gnadenbildern, Heiltümern, Ablässen, Gebeten, Wallfahrten, Almosenspenden, Stiftungen und anderen Arten der Frömmigkeitsgestaltung und der guten Werke wählen – je nach persönlichem Bedürfnis, sozialem und ökonomischem Status und Geschlecht. Es gab viele Wege zum Himmel im spätmittelalterlichen Ulm. 8
Auffallend und besonders typisch für diese Epoche aber ist vor allem die spannungsvolle Polarität und Gegenläufigkeit der religiösen Gestaltungsformen: So tendierten Frömmigkeitsstile z. B. gleichzeitig verstärkt zum Gemeinschaftlich-Kollektiven oder zum Privaten und Persönlich-Individuellen, zur Außendimension kirchlicher Liturgien, Rituale und Formeln oder zur Innendimension einer intimen Herzensandacht, zu einer Vermaterialisierung des Heiligen in sinnlich berührbaren und kraftgeladenen Objekten oder zu einer Vergeistigung des Heiligen im Bereich mystisch gestimmter Meditation und Kontemplation. Man könnte noch wichtige weitere Polaritäten nennen, betonen aber möchte ich vor allem zweierlei: erstens, wie selbstverständlich für das ausgehende Mittelalter diese polaren Spannungsverhältnisse waren – eine Grundsignatur der Ära 9 –; zweitens aber sei hervorgehoben, dass man in diesen Spannungsverhältnissen nicht nur Konkurrenz und Konflikt erkennt – z. B. den Gegensatz zwischen inbrünstiger Ablassfrömmigkeit und gleichzeitiger Geringschätzung der Ablässe –, sondern häufig auch eine kompatible, komplementäre Zweiseitigkeit oder Divergenz, die es ein und derselben Person möglich machte, gegenläufige Frömmigkeitsformen miteinander zu kombinieren. Vieles erscheint aus heutiger, vor allem protestantischer Sicht als widersprüchlich, was für einen spätmittelalterlichen Menschen problemlos miteinander zu verbinden war: z. B. einerseits die private, zurückgezogene und verinnerlichende Meditation über einem Andachtstext oder vor einem religiösen Bildnis und andererseits Formen einer sehr körperbezogenen, ‚äußerlichen‘ Devotion, 10 die den Andachtsgegenstand mit Küssen, Kniebeugen oder Sich-Bekreuzigen ehrt oder Gebete an einem Rosenkranz abzählt und mit all dem Ablassberechnungen verbindet.
Wie sich beide Dimensionen der Frömmigkeit miteinander kombinieren lassen, zeigt in Ulm etwa der bekannte Dominikaner Felix Fabri 11: Einerseits ist er ein Verehrer der Mystik des im Ulmer Dominikanerkonvent 1366 gestorbenen Heinrich Seuse 12 und ein Meister der meditativen und kontemplativen Verinnerlichung, die er vor allem in seinem 1492 verfassten Buch über die „Geistliche Pilgerfahrt oder die Sionpilger“ propagierte. 13 Fabri bietet hier für geistliche Personen, insbesondere für klausurierte Nonnen, die „von gantzem hertzen das hailig land ze sehen“ begehren, 14 aber diese Pilgerfahrt nicht leiblich realisieren können, 15 eine Anleitung, wie sie gleichwohl im Geiste zu den heiligen Stätten wallfahren und so durch vergegenwärtigende Imagination reiche Gnadenerfahrungen machen können. Derselbe Fabri neigte aber andererseits auch zu einer Frömmigkeit, der es auf äußerlich registrierbare Quantitäten, auf Zählen und Berechnen ankam. So berichtet er voller Lokalstolz, dass es in der ganzen Christenheit keine größere Pfarrkirche als das Ulmer Münster gebe, keine mit mehr Altären und keine, in der so oft die heiligen Sakramente gefeiert werden und in die so viele Menschen hineinströmen; mehr als 15.000 gehen dort während der Osterzeit zu Kommunion. 16 Ein besonderes Anliegen war es ihm stets, seinem Lesepublikum mitzuteilen, wo Ablässe in welcher Höhe zu erlangen sind; 17 und er war es auch, der 1483 in Ulm nach Kölner Vorbild die Rosenkranzbruderschaft gründete, die in kurzer Zeit über 4.000 Mitglieder gewinnen konnte. 18 Die gezählte Quantität der Rosenkranzgebete und die innerseelische Qualität der kontemplativen Andacht sind zwei Seiten oder Pole der Frömmigkeit, die aber für Felix Fabri ebenso wie für viele Zeitgenossen unlösbar zusammengehören und für sie eine spannungsvolle Einheit in der Vorbereitung auf das Jenseits bilden. 19