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Eine Insel im roten Meer
Erinnerungen an das Theologische Seminar Leipzig
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Eine Insel im roten Meer
Erinnerungen an das Theologische Seminar Leipzig
About this book
Das Theologische Seminar Leipzig war eine von den "Inseln" im "roten Meer" des von der SED beherrschten DDR-Bildungssystems, weil es von den evangelischen Landeskirchen unterhalten wurde und Inhalt und Struktur des Theologiestudiums unabhĂ€ngig von staatlicher Beeinflussung gestalten konnte. Hier studierten viele, denen in der DDR Oberschule und Abitur â nicht zuletzt aus politischen GrĂŒnden â verweigert wurden.In diesem persönlich gehaltenen ErzĂ€hlbuch erinnern sich ehemalige Studierende und Dozenten wie beispielsweise Christoph Dieckmann, Wolfgang Hegewald, Hans-Jörg Dost, Wilfried Engemann und Christoph KĂ€hler an prĂ€gende Persönlichkeiten und an bemerkenswerte UmstĂ€nde eines freien Studiums in unfreien Zeiten.
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Information
JOHANNES BERTHOLD
Wie ein kleiner FrĂŒhling
Geistliche StudienergÀnzung in der Bruderschaft Liemehna
Meinen Eltern fiel es ĂŒberhaupt nicht leicht, meine Entscheidung fĂŒr ein Theologiestudium zu akzeptieren. »Am Ende hast Du womöglich von der Bibel nur noch die Buchdeckel in der Hand«, meinten sie. Denn die Bibel war fĂŒr sie das »Buch der BĂŒcher«, in dem sie tĂ€glich lasen. Wenn ich den sehr persönlichen Umgang meiner Eltern mit der Bibel theologisch ausdrĂŒcken sollte, dann wĂŒrde ich mit Karl Barth sagen: Sie rechneten mit der Möglichkeit, dass die Schrift fĂŒr sie immer wieder zur lebendigen Anrede Gottes wird. Oder mit Rudolf Bultmann: Sie lasen die Bibel mit der Bereitschaft, sich von ihr die eigene Existenz deuten zu lassen. Oder mit Paul Ricoer: Sie haben sich von den Texten »ein erweitertes Selbst« geben lassen. Wie auch immer: Die schlichte Bibelfrömmigkeit meiner Eltern hat auch meine Freundschaft mit der Bibel begrĂŒndet.
Nun, im Jahre 1971 begann ich mein Studium am Theologischen Seminar in Leipzig. Es war ein wahres Abenteuer des Geistes mit einer ungeahnten und bisweilen irritierenden Horizonterweiterung. Historisch-kritische Exegese habe ich durchaus mit Interesse, oft auch mit Verwunderung, bisweilen auch mit VerĂ€rgerung wahrgenommen, wenn man wieder einmal dem Text die eigene begrenzte FĂ€higkeit des Verstehens aufzwingen wollte. Oft hatte ich das GefĂŒhl, dass man den Texten Wesentliches schuldig blieb. Auch spĂŒrte ich das Dilemma, das Rudolf Bohren schon 1969 so beschrieb: »Nachdem er (der Prediger) den Text historisch-kritisch beerdigt hat, soll er ihn existential wieder aufwecken.«14
Meine Freundschaft mit der Bibel hat das nicht erschĂŒttert. Im Gegenteil kann ich sagen: Meine Eltern lehrten mich, die Bibel zu lieben, das Studium lehrte mich, sie zu verstehen. Manch einer meiner Kommilitonen erlebten hier ganz andere KĂ€mpfe. Ich entsinne mich, dass einer in vertrauter Runde klagte, er fĂŒhle sich in exegetischen FĂ€chern wie im StaatsbĂŒrgerkundeunterricht, den man nur mit innerlichem Protest ĂŒber sich ergehen lassen konnte. Ein anderer las in Vorlesungen weit aufgeblĂ€ttert die Zeitung, um demonstrativ anzuzeigen, wie fern ihm diese Art der Schriftauslegung war. Wieder andere fĂŒhrten heimlich Buch ĂŒber die vermeintlichen HĂ€resien, die vom Katheder erschallten. Manch einer versuchte einfach nur, im Studium zu ĂŒberwinternâŠ
Dabei verlief die Frontlinie gar nicht zu eindeutig. Es war geradezu herzerfrischend, wenn Gottfried Voigt den frĂŒhen Karl Barth zitierte: »Kritischer mĂŒssten mir die Historisch-Kritischen sein!«15 Der Theologe sei kein Gymnasial-Lehrer, der den biblischen Autoren »gĂŒtig oder verdrieĂlich ĂŒber die Schulter zu blicken, ihre Hefte zu korrigieren, ihnen gute, mittlere oder schlechte Noten zu erteilen befugt oder beauftragt wĂ€re«. Oder wenn Christoph-Michael Haufe verschmitzt bekannte, er habe seine exegetischen Kommentare schon mal in Kisten verstaut. Bei Wolfgang Trilling â ausgerechnet einem katholischen Bibelexegeten â lernte ich einen Umgang mit der Bibel kennen, der in ĂŒberzeugender Weise theologische PrĂ€zision mit einer Haltung der Demut verband, die sich nicht anmaĂte, die Lehrmeisterin der Schrift zu sein. Und ich spĂŒrte: Nicht die Instrumente der historisch-kritischen Methode sind gut oder schlecht, es kommt auf die Hand dessen an, der sie fĂŒhrt.
Insgesamt aber erlebte ich auf beiden Seiten auch viel Verbissenheit. Von Seiten mancher Kommilitonen hĂ€tte ich mir durchaus mehr Bereitschaft zur Irritation gewĂŒnscht, ohne die es keine neue Erkenntnis gibt. Von Seiten mancher Dozenten wiederum hĂ€tte ich mir mehr VerstĂ€ndnis fĂŒr die Fragen und Zweifel eines Theologiestudenten gewĂŒnscht, auch mehr Seelsorge im Bereich des Denkens. Doch schaue ich nach Jahrzehnten auf manche in den 1970er Jahren noch stolz einherschreitende Hypothese zurĂŒck, fĂŒhle ich mich in manchem damaligen Unbehagen bestĂ€tigt. Die schĂ€rfste Kritik an der historisch-kritischen Forschung kommt jedenfalls heute aus ihren eigenen Reihen, gerade auch angesichts ihrer disparaten Ergebnisse. Andererseits ist eine historische Lesart biblischer Texte unverzichtbar, hilft sie doch, deren ursprĂŒnglichen Sinn zu erfassen. Sie schĂŒtzt vor einer hermeneutischen Beliebigkeit, die den Autor nicht mehr das sagen lĂ€sst, was dieser in den Text hineingelegt hat. Deshalb heiĂt Exegese â wie Martin Buber sagte â zu allererst »hinhören« und in solchem Hinhören ĂŒber uns selbst hinausgefĂŒhrt zu werden.
Am prĂ€gendsten waren fĂŒr mich jene theologischen Lehrer, die auf existentielle Weise Theologie betrieben und auch im akademischen Betrieb Zeugen ihres eigenen Glaubens blieben. Eine Entdeckung dabei war Dietrich Bonhoeffer, der in einem sehr persönlichen Brief vom 27. Januar 1936 beschrieb, wie er selbst das »erste Mal zur Bibel« kam:
Ich hatte schon oft gepredigt, ich hatte schon viel von der Kirche gesehen, darĂŒber geredet und geschrieben â und ich war noch kein Christ geworden, sondern ganz wild und ungebĂ€ndigt mein eigener Herr. ⊠Ich hatte auch nie, oder doch sehr wenig gebetet. Ich war bei aller Verlassenheit ganz froh an mir selbst. Daraus hat mich die Bibel befreit und insbesondere die Bergpredigt. Seitdem ist alles anders geworden. Das habe ich deutlich gespĂŒrt und sogar andere Menschen um mich herum. Das war eine groĂe Befreiung. Da wurde mir klar, dass das Leben eines Dieners Jesu Christi der Kirche gehören muss.16
Und so beschreibt er eine ganz unvermutete Gefahr der Theologie:
Die gröĂte Not kommt fĂŒr den Pfarrer aus seiner Theologie. Er weiĂ alles, was der Mensch ĂŒber SĂŒnde und Vergebung wissen kann. Er weiĂ, was rechter Glaube ist, und sagt es sich so lange, bis er nicht mehr im Glauben, sondern im Denken ĂŒber den Glauben existiert⊠Das Wissen enthĂŒllt seine DĂ€monie. Es treibt immer mehr in den faktischen Unglauben hinein. Wir haben dann keine Erfahrung des Glaubens. Unsere einzige Erfahrung ist die Reflexion ĂŒber den Glauben.17
Die Konsequenzen, die er selbst daraus in der Vikarsausbildung der Bekennenden Kirche zog, waren fĂŒr uns eine Anregung, eine studentische KommunitĂ€t zu grĂŒnden â nicht als Ersatz, sondern als ErgĂ€nzung zum akademischen Studium. Im Jahre 1973 zogen wir â eine Handvoll Studenten, inspiriert durch den damaligen Rektor Christoph-Michael Haufe â in das baupolizeilich gesperrte alte Pfarrhaus zu Liemehna. Was damals teilweise kritisch beĂ€ugt oder spöttisch belĂ€chelt wurde, findet heute durchaus WertschĂ€tzung, wenn von allen Seiten betont wird, Theologie mit SpiritualitĂ€t zu verbinden. So heiĂt es in den »Villigster AnstöĂen fĂŒr eine Kirche im Umbruch« aus dem Jahre 1999: [âŠ] die Förderung einer gewinnenden SpiritualitĂ€t (muss) in allen Ausbildungsphasen PrioritĂ€t haben.
Ăhnliches meint Manfred Josuttis, wenn er den Kopf schĂŒttelt ĂŒber die NaivitĂ€t, mit der [âŠ] die gegenwĂ€rtige theologische Ausbildung (damit rechnet), dass man (schon) mit der Aneignung von hermeneutischen und historischen, philosophischen und psychologischen Verfahren eine tragfĂ€hige Grundlage fĂŒr den religiösen Beruf erhĂ€lt.18
Die »Bruderschaft Liemehna« hat seit ihrer GrĂŒndung die verschiedensten Jahreszeiten erlebt. Auch fĂŒr sie gilt in gewisser Weise, dass nicht aufhören sollte »Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.« (Gen 8,22). Ich selbst aber erlebe sie jedes Mal, wenn ich nach Liemehna komme, wie einen kleinen FrĂŒhling.
Nach der SchlieĂung des Theologischen Seminars im Jahre 1992 hat sich die Bruderschaft als eigener Verein konstituiert, um ihre Arbeit unter Theologiestudenten auch an der Theologischen FakultĂ€t fortsetzen zu können. DafĂŒr haben wir uns eine Satzung gegeben â

Die Bruderschaft bei einer RĂŒstzeit in Liemehna, darunter die Dozenten Dr. Haufe (hinten, links) und Steyer (hinten, Mitte).
getragen von dem Wunsch, das kommunitÀre Leben von Theologiestudierenden im Pfarrhaus zu Liemehna zu fördern und deren spÀteren Dienst als Pfarrer geistlich zu begleiten; verbunden in dem Anliegen, im engen Kontakt mit anderen geistlichen Bewegungen der Erneuerung unserer Kirche zu dienen und bewegt von dem Wissen, dass die Erneuerung unserer Kirche nur bei uns selbst beginnen kann.
2013 feierten wir dankbar unser 40-jĂ€hriges Bestehen â erstaunlich fĂŒr eine Gemeinschaft, die bis heute mit einem Minimum an gemeinsamen Regeln, GrundsĂ€tzen und Strukturen auskommt. Inzwischen konnten wir sogar ein GĂ€stehaus seiner Bestimmung ĂŒbergeben, erbaut ĂŒber StĂ€llen, in denen frĂŒher die Schafe blökten.
Am wichtigsten aber ist, dass noch heute dort Studierende der Theologie leben, die wie wir in den AnfĂ€ngen miteinander »arbeiten und beten«, das Leben teilen, einander annehmen und respektieren lernen â und vor allem miteinander im GesprĂ€ch sind. Vielleicht ist gerade das intensive gemeinsame GesprĂ€ch das besondere Kennzeichen unserer Bruderschaft. Auch hier mag wieder ein Wort von Martin Buber gelten: Wir haben keine Lehre, wir fĂŒhren ein GesprĂ€ch. In unserem GesprĂ€ch â sei es am Abendbrottisch oder bei den gemeinsamen ArbeitseinsĂ€tzen am sanierungsbedĂŒrftigen Pfarrhaus â setzten sich die Themen der Seminare und Vorlesungen fort, nicht nur im Geist objektiver Untersuchung oder feierlichen Ernstes, sondern ganz ungezwungen und ohne den Anspruch, alles in logische oder historische Stimmigkeit zu zwingen. Oft war das GesprĂ€ch mit Witz und Leichtigkeit gewĂŒrzt, oft auch mit groĂer Ernsthaftigkeit und von Widerspruch geprĂ€gt. Eins aber verband uns in aller Unterschiedlichkeit: Dass wir den biblischen Autoren zu FĂŒĂen sitzen wollten, auch nicht nur die Sicherheit des Beherrschens suchten, sondern uns von dem Wort »treffen« und verwandeln lassen wollten.

Doz. Dr. Christoph-Michael Haufe bei einem BibelgesprÀch in Liemehna.
Die Freiheit solchen GesprÀchs erhielt ihre innere Kraft aus der geformten SpiritualitÀt, die dem Tag und der Woche eine gemeinsame liturgische Struktur gab: Die Andachten am Morgen und am Abend, die Hausabende mit Dr. Haufe mit BibelgesprÀch und Heiligem Abendmahl, die gemeinsamen Gottesdienste am Sonntag.
Hier lag die Bibel nicht wie irgendein anderes Buch auf dem Tisch, sondern als »Buch der BĂŒcher«. Hier konnten wir sie auch nicht einfach lesen wie jedes andere Buch, sondern hier betraten wir ein Heiligtum. Hier formte sich Bruderschaft, die weder planbar noch machbar war und die tiefer reichte als Freundschaft oder Sympathie. Und manchmal strahlte wie ein helles Licht jene Erfahrung auf, die der Kirchenvater Augustin einmal so beschrieb:
Miteinander reden und lachen,
sich gegenseitig GefÀlligkeiten erweisen,
zusammen schöne BĂŒcher lesen,
sich necken, dabei aber auch einander Achtung erweisen,
mitunter sich auch streiten ohne Hass,
so wie man es wohl einmal mit sich selber tut,
manchmal auch in den Meinungen auseinandergehen
und damit die Eintracht wĂŒrzen,
einander belehren und voneinander lernen,
die Abwesenden schmerzlich vermissen,
die Ankommenden freudig begrĂŒĂen,
lauter Zeichen der Liebe und Gegenliebe, die aus dem Herzen kommen,
sich Ă€uĂern in Miene, Wort und tausend freundlichen Gesten
und wie ZĂŒndstoff den Geist in Gemeinsamkeit entflammen,
so dass aus den Vielen eine Einheit wird.19
CHRISTOPH DIECKMANN
»Hörnse druff!«
Weltliche Erinnerungen an das Theologische Seminar Leipzig
Mein Studium am Theologischen Seminar Leipzig begann am 8. September 1975. Am Nachmittag wurden die Neuimmatrikulierten zum Rektor geladen. Der Alttestamentler Hans Seidel bewillkommnete uns, erklÀrte Regularien und GebrÀuche des Seminars und sprach eine Warnung aus. Diese Hochschule existiere nicht jenseits der DDR. Der Staat habe sie im Blick. Im vergangenen Jahr hÀtten sich ihm drei Kommilitonen aus Gewissensnot als Stasi-Informanten offenbart. Gewiss gÀbe es etliche mehr, wohl in jeder Seminargruppe einen.
In den folgenden Wochen rÀtselten wir, wer der ZutrÀger sei. Ein Anfangsverdacht fiel auf einen tÀppischen Kommilitonen,...
Table of contents
- Cover
- Titel
- Impressum
- Vorwort
- Inhalt
- Vom Missionsseminar zum Theologischen Seminar
- Ereignisse, Personen, Erfahrungen am Theologischen Seminar
- In Zeiten gesellschaftlicher Revolution und Transformation
- Anhang
- Personenregister
- Bildnachweis
- Weitere BĂŒcher
- FuĂnoten