Der Untertan
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Der Untertan

Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II.

Heinrich Mann

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  1. 628 pages
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Der Untertan

Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II.

Heinrich Mann

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Mit der Besprechung von Kurt TucholskyDiederich Hessling ist ein katzbuckelnder obrigkeitshöriger Opportunist, ganz so, wie es ihn zur wilhelminischen Zeit massenweise gab.Schon in der Jugend zeigt er sich feige und ohne jegliche Courage. Ob als Student, als Familienoberhaupt oder (schließlich sogar) als Fabrikbesitzer, immer zeigt er sich als kriecherischer Mann ohne Charakter. Er nutzt und verehrt die Macht aufgrund eigener Schwäche und ist damit jederzeit das passende Rädchen im Obrigkeitsstaat.Sein einziges Prinzip ist das der grenzenlosen Kaiserverehrung und der Huldigung eines deutschen Nationalismus. Er sieht das deutsche Kaiserreich unter Wilhelm Zwo als absolute Weltmacht. Auch dieses prophetische Buch landete bei den Nazis auf dem Scheiterhaufen.Kurt Tucholsky, dessen bekannte Rezension hier ebenfalls veröffentlich ist, lobte Manns Werk als ein "Herbarium des deutschen Mannes", in dem er (der Mann) sich zeigt, in seiner "Sucht, zu befehlen und zu gehorchen." Der typische Deutsche Mann seiner Zeit dachte nur in Gewaltstrukturen: Gewalt von oben oder Gewalt nach unten.Für Tucholsky war Hessling nur ein "Herrscherchen"Null Papier Verlag

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Information

Year
2021
ISBN
9783962818234
Edition
1

V.

Noch schwell­ten sol­che Hoch­ge­füh­le Die­de­richs Brust, da be­ka­men Emmi und Mag­da eine Ein­la­dung von Frau von Wulc­kow, nach­mit­tags zum Tee. Es konn­te nur we­gen des Stückes sein, das die Re­gie­rungs­prä­si­den­tin beim nächs­ten Fest der »Har­mo­nie« auf­füh­ren ließ. Emmi und Mag­da soll­ten Rol­len be­kom­men. Freu­de­gerötet kehr­ten sie heim: Frau von Wulc­kow war über­aus gnä­dig ge­we­sen; ei­gen­hän­dig hat­te sie ih­nen im­mer wie­der Ku­chen auf den Tel­ler ge­legt. Inge Tietz moch­te plat­zen. Of­fi­zie­re spiel­ten mit! Man brauch­te be­son­de­re Toi­let­ten; wenn Die­de­rich viel­leicht glaub­te, dass sie mit ih­ren fünf­zig Mark – Aber Die­de­rich er­öff­ne­te ih­nen einen un­be­grenz­ten Kre­dit. Nichts von dem, was sie kauf­ten, fand er schön ge­nug. Das Wohn­zim­mer lag voll von Bän­dern und künst­li­chen Blu­men, die Mäd­chen ver­lo­ren den Kopf, weil Die­de­rich ih­nen drein­re­de­te; da kam Be­such, Gus­te Daim­chen.
»Ich habe doch der glück­li­chen Braut noch gar nicht rich­tig gra­tu­liert«, sag­te sie und ver­such­te gön­ner­haft zu lä­cheln; aber ihre Au­gen gin­gen be­sorgt über die Bän­der und Blu­men. »Das ist wohl auch für das dum­me Stück?« frag­te sie. »Wolf­gang hat da­von ge­hört, er sagt, es ist un­er­hört dumm.« Mag­da er­wi­der­te: »Dir muss er es doch sa­gen, weil du nicht mit­spielst.« Und Die­de­rich er­klär­te: »Da­mit ent­schul­digt er sich da­für, dass Sie sei­net­we­gen bei Wulc­kows nicht ein­ge­la­den wer­den.« Gus­te lach­te ge­ring­schät­zig. »Auf Wulc­kows ver­zich­ten wir, aber zum Har­mo­nie­ball ge­hen wir ge­ra­de.« Die­de­rich frag­te: »Wol­len Sie den ers­ten Ein­druck des Pro­zes­ses nicht lie­ber vor­über­ge­hen las­sen?« Er sah sie teil­neh­mend an. »Lie­bes Fräu­lein Gus­te, wir sind so alte Be­kann­te, ich darf Sie wohl dar­auf hin­wei­sen, dass Ihre Ver­bin­dung mit den Bucks Ih­nen jetzt in der Ge­sell­schaft nicht ge­ra­de nützt.« – Gus­te zuck­te mit den Au­gen, man sah, sie hat­te sich das schon selbst ge­dacht. Mag­da be­merk­te: »Gott sei Dank, mit mei­nem Kien­ast ist es nicht so.« Worauf Emmi: »Aber Herr Buck ist in­ter­essan­ter. Neu­lich bei sei­ner Rede hab’ ich ge­weint, wie im Thea­ter.« – »Und über­haupt!« rief Gus­te er­mu­tigt. »Erst ges­tern hat er mir die­se Ta­sche ge­schenkt.« Sie hielt den ver­gol­de­ten Sack em­por, nach dem Emmi und Mag­da schon lan­ge schiel­ten. Mag­da sag­te spitz: »Er hat wohl viel ver­dient mit der Ver­tei­di­gung. Kien­ast und ich, wir sind für Spar­sam­keit.« Aber Gus­te hat­te ihre Ge­nug­tu­ung ge­habt. »Dann will ich auch nicht län­ger stö­ren«, sag­te sie.
Die­de­rich be­glei­te­te sie hin­un­ter. »Ich brin­ge Sie nach Haus, wenn Sie ar­tig sind«, sag­te er, »aber vor­her muss ich noch einen Blick in die Fa­brik tun. Gleich wird Schicht ge­macht.« – »Ich kann ja mit­ge­hen«, mein­te Gus­te. Um ihr zu im­po­nie­ren, führ­te er sie ge­ra­de­wegs zu der großen Pa­pier­ma­schi­ne. »So was ha­ben Sie wohl noch nicht ge­se­hen?« Und mit Wich­tig­keit er­läu­ter­te er ihr das Sys­tem von Bass­ins, Wal­zen und Zy­lin­dern, wor­über hin, durch die gan­ze Län­ge des Saa­l­es, die Mas­se floss: zu­erst wäs­se­rig, dann im­mer tro­ckener – und am Ende der Ma­schi­ne lief auf großen Rol­len das fer­ti­ge Pa­pier. Gus­te schüt­tel­te den Kopf. »Nein so was! Und der Krach, den sie macht! Und die Hit­ze hier!« Die­de­rich, mit sei­ner Wir­kung noch nicht zu­frie­den, fand einen Grund, um die Ar­bei­ter an­zu­don­nern; und wie Na­po­le­on Fi­scher da­zu­kam, war nur er schuld! Bei­de schri­en ge­gen den Lärm der Ma­schi­ne an, Gus­te ver­stand nichts; aber Die­de­richs ge­hei­me Angst sah in dem dün­nen Bart des Ma­schi­nen­meis­ters im­mer das ge­wis­se Grin­sen, das an sei­ne Mit­wis­ser­schaft in der An­ge­le­gen­heit des Hol­län­ders er­in­ner­te und die of­fe­ne Ver­leug­nung je­der Au­to­ri­tät war. Je hef­ti­ger Die­de­rich sich ge­bär­de­te, de­sto ru­hi­ger ward der an­de­re. Die­se Ruhe war Aufruhr! Schnau­fend und be­bend öff­ne­te Die­de­rich die Tür zum Pack­raum und ließ Gus­te ein­tre­ten. »Der Mann ist So­zi­al­de­mo­krat!« er­klär­te er. »So ein Kerl wäre im­stan­de, hier Feu­er zu le­gen. Aber ich ent­lass’ ihn nicht: nun ge­ra­de nicht! Wol­len se­hen, wer der Stär­ke­re ist. Die So­zi­al­de­mo­kra­tie neh­me ich auf mich!« Und da Gus­te ihn be­wun­dernd an­sah: »Das hät­ten Sie wohl nicht ge­dacht, auf was für ei­nem ge­fahr­vol­len Pos­ten un­serei­ner steht. Furcht­los und treu, ist mein Wahl­spruch. Se­hen Sie, ich ver­tei­di­ge hier un­se­re hei­ligs­ten na­tio­na­len Gü­ter ge­ra­de­so gut wie un­ser Kai­ser. Dazu ge­hört mehr Mut, als wenn ei­ner vor Ge­richt schö­ne Re­den hält!«
Gus­te sah es ein, sie hat­te eine an­däch­ti­ge Mie­ne. »Hier ist es küh­ler«, be­merk­te sie, »wenn man aus der Höl­le ne­ben­an kommt. Die Frau­en hier kön­nen froh sein.« – »Die?« er­wi­der­te Die­de­rich. »Die ha­ben es wie im Pa­ra­dies!« Er führ­te Gus­te zu dem Tisch: eine der Frau­en sor­tier­te die Bo­gen, eine zwei­te prüf­te nach, und die drit­te zähl­te im­mer­fort bis fünf­hun­dert. Al­les ging mit un­er­klär­li­cher Schnel­lig­keit; die Bo­gen flo­gen un­un­ter­bro­chen ein­an­der nach, wie von selbst und ohne Wi­der­stand ge­gen die ar­bei­ten­den Hän­de, die im end­los über sie hin­ge­hen­den Pa­pier sich auf­zu­lö­sen schie­nen: Hän­de und Arme, die Frau selbst, ihre Au­gen, ihr Ge­hirn, ihr Herz. Das al­les war da und leb­te, da­mit die Bo­gen flo­gen … Gus­te gähn­te – in­des Die­de­rich er­klär­te, dass die­se Wei­ber, die im Ak­kord ar­bei­te­ten, sich schänd­li­che Nach­läs­sig­kei­ten zu­schul­den kom­men lie­ßen. Er woll­te schon da­zwi­schen­fah­ren, weil ein Bo­gen mit­flog, wor­an eine Ecke fehl­te. Aber Gus­te sag­te plötz­lich mit ei­ner Art von Trotz: »Sie brau­chen sich üb­ri­gens nicht ein­zu­bil­den, dass Käth­chen Zil­lich sich für Sie be­son­ders in­ter­es­siert … We­nigs­tens nicht mehr als für ge­wis­se an­de­re Leu­te«, setz­te sie hin­zu; und auf sei­ne ver­wirr­te Fra­ge, was sie denn mei­ne, lä­chel­te sie bloß an­züg­lich. »Ich muss Sie doch bit­ten«, wie­der­hol­te er. Da­rauf nahm Gus­te ihre gön­ner­haf­te Mie­ne an. »Ich sage es nur zu Ihrem Bes­ten. Denn Sie schei­nen nichts zu mer­ken? Mit As­ses­sor Ja­das­sohn zum Bei­spiel? Aber Käth­chen ist über­haupt so eine.« Jetzt lach­te Gus­te laut, so be­gos­sen sah Die­de­rich aus. Sie ging wei­ter, und er folg­te. »Mit Ja­das­sohn?« forsch­te er angst­voll. Da hör­te der Lärm der Ma­schi­ne auf, die Glo­cke ging, die den Schluss der Ar­beit an­zeig­te, und über den Hof ent­fern­ten sich schon Ar­bei­ter. Die­de­rich zuck­te die Ach­seln. »Was Fräu­lein Zil­lich macht, lässt mich kalt«, er­klär­te er. »Höchs­tens um den al­ten Pas­tor tut es mir leid, wenn sie wirk­lich so eine ist. Wis­sen Sie das denn ge­nau­er?« Gus­te sah weg. »Über­zeu­gen Sie sich doch selbst!« Worauf Die­de­rich ge­schmei­chelt lach­te.
»Las­sen Sie das Gas bren­nen!« rief er dem Ma­schi­nen­meis­ter zu, der vor­bei­ging. »Ich dre­he selbst ab.« Gera­de ward der Lum­pen­saal weit ge­öff­net für die Fort­ge­hen­den. »Oh!« rief Gus­te, »dort drin­nen ist es aber ro­man­tisch!« Denn sie er­blick­te da­hin­ten in der Däm­me­rung lau­ter bun­te Fle­cken aus grau­en Hü­geln und dar­über einen Wald von Äs­ten. »Ach«, sag­te sie im Nä­her­tre­ten. »Ich dach­te, weil es hier schon so dun­kel ist … Das sind ja bloß Lum­pen­sä­cke und Hei­zungs­roh­re.« Und sie ver­zog das Ge­sicht. Die­de­rich jag­te die Ar­bei­te­rin­nen em­por, die trotz der Be­triebs­ord­nung sich auf den Sä­cken aus­ruh­ten. Meh­re­re, kaum, dass die Ar­beit fort­ge­legt war, strick­ten schon, an­de­re aßen. »Das könn­te euch pas­sen«, schnaub­te er. »Wär­me schin­den auf mei­ne Kos­ten! Raus!« Sie stan­den lang­sam auf, ohne ein Wort, ohne Wi­der­stand in der Mie­ne; und vor­bei an der frem­den Dame, nach der alle dumpf neu­gie­rig den Kopf wand­ten, trab­ten sie in ih­ren Män­ner­schu­hen hin­aus, schwer­fäl­lig wie eine Her­de und um­ge­ben von dem Dunst, worin sie leb­ten. Die­de­rich be­hielt jede scharf im Auge, bis sie drau­ßen war. »Fi­scher!« schrie er plötz­lich. »Was hat die Di­cke da un­term Tuch?« Der Ma­schi­nen­meis­ter er­klär­te mit sei­nem zwei­deu­ti­gen Grin­sen: »Das ist nur, weil sie was er­war­tet« – wor­auf Die­de­rich un­zu­frie­den den Rücken wand­te. Er be­lehr­te Gus­te. »Ich glaub­te, ich hät­te eine er­wi­scht. Sie steh­len näm­lich Lum­pen. Ja­wohl. Sie ma­chen Kin­der­klei­der draus.« Und da Gus­te die Nase rümpf­te: »Das ist doch zu gut für die Pro­le­ten­kin­der!«
Mit den Spit­zen ih­rer Hand­schu­he hob Gus­te einen der Fet­zen vom Bo­den. Plötz­lich hat­te Die­de­rich ihr Hand­ge­lenk ge­fan­gen und küss­te es gie­rig, im Spalt des Hand­schuhs. Er­schreckt sah sie sich um. »Ach so, alle Leu­te sind schon fort.« Sie lach­te selbst­si­cher. »Ich hab’ mir doch gleich ge­dacht, was Sie jetzt noch in der Fa­brik zu tun ha­ben.« Die­de­rich mach­te ein her­aus­for­dern­des Ge­sicht. »Na und Sie? Wa­rum sind Sie über­haupt ge­kom­men heu­te? Sie ha­ben wohl ge­merkt, dass ich doch nicht so ohne bin? Frei­lich, Ihr Wolf­gang – Je­der kann sich nicht so bla­mie­ren wie er, neu­lich vor Ge­richt.« Da­rauf sag­te Gus­te ent­rüs­tet: »Sei­en Sie nur ganz still, Sie wer­den doch nie so ein fei­ner Mann wie er.« Aber ihre Au­gen sag­ten et­was an­de­res. Die­de­rich sah es; er­regt lach­te er auf. »Wie der es ei­lig hat mit Ih­nen! Wis­sen Sie auch, wo­für er Sie an­sieht? Für einen Koch­topf mit Wurst und Kohl, und ich soll ihn um­rüh­ren!« – »Jetzt lü­gen Sie«, sag­te Gus­te ver­nich­tend; aber Die­de­rich war im Zuge. »Ihm ist näm­lich nicht ge­nug Wurst und Kohl dar­in. – An­fangs hat er na­tür­lich auch ge­dacht, Sie hät­ten eine Mil­li­on ge­erbt. Aber für fünf­zig­tau­send Mark ist solch ein fei­ner Mann nicht zu ha­ben.« Da koch­te Gus­te auf. Die­de­rich fuhr zu­rück, so ge­fähr­lich sah es aus. »Fünf­zig­tau­send! Ih­nen ist ge­wiss nicht wohl? Wie kom­me ich dazu, dass ich mir das muss sa­gen las­sen! Wo ich bare drei­hun­dert­fünf­zig­tau­send auf der Bank zu lie­gen hab’, in rich­tig­ge­hen­den Pa­pie­ren! Fünf­zig­tau­send! Wer so et­was Ehren­rüh­ri­ges von mir her­u­mer­zählt, den kann ich über­haupt be­lan­gen!« Sie hat­te Trä­nen in den Au­gen; Die­de­rich stam­mel­te Ent­schul­di­gun­gen: »Las­sen Sie nur« – und Gus­te be­nutz­te ihr Ta­schen­tuch. »Wolf­gang weiß ge­nau, wor­an er bei mir ist. Aber Sie selbst, Sie ha­ben den Schwin­del ge­glaubt. Da­rum wa­ren Sie auch so frech!« rief sie. Ihre ro­si­gen Fett­pols­ter zit­ter­ten vor Zorn, und die klei­ne ein­ge­drück­te Nase war ganz weiß ge­wor­den. Er sam­mel­te sich. »Da­ran se­hen Sie doch, dass Sie mir auch ohne Geld ge­fal­len«, gab er zu be­den­ken. Sie biss sich auf die Lip­pen. »Wer weiß«, sag­te sie mit ei­nem Blick von un­ten, schmol­lend und un­si­cher. »Für Leu­te wie Sie sind fünf­zig­tau­send auch schon Geld.«
Er hielt es für an­ge­zeigt, eine Pau­se zu ma­chen. Sie zog aus ih­rem gol­de­nen Beu­tel den Pu­der­quast, und sie setz­te sich. »Ich bin wirk­lich ganz echauf­fiert von Ihrem Be­tra­gen!« Aber sie lach­te wie­der. »Ha­ben Sie mir viel­leicht sonst noch et­was zu zei­gen in Ih­rer so­ge­nann­ten Fa­brik?« Er nick­te be­deut­sam. »Wis­sen Sie wohl, wo Sie jetzt sit­zen?« – »Na, auf ei­nem Lum­pen­sack.« – »Aber auf was für ei­nem! In die­ser Ecke, hin­ter den Sä­cken hier hab’ ich mal einen Ar­bei­ter und ein Mäd­chen er­tappt, wie sie ge­ra­de: Sie ver­ste­hen. Na­tür­lich sind bei­de ge­flo­gen; und am Abend, ja­wohl, am sel­ben Abend …« – er hob den Zei­ge­fin­ger, in sei­nen Au­gen ent­stand ein Schau­der hö­he­rer Din­ge – »ha­ben sie den Kerl tot­ge­schos­sen, und das Mäd­chen ist ver­rückt ge­wor­den.« Gus­te sprang auf. »War das –? Ach Gott, das war der Ar­bei­ter, der den Wacht­pos­ten ge­reizt hat …? Also hin­ter den Sä­cken ha­ben sie –?« Ihre Au­gen gin­gen über die Sä­cke, als such­te sie Blut dar­auf. Sie hat­te sich nahe zu Die­de­rich ge­flüch­tet. Plötz­lich sa­hen sie ein­an­der in die Au­gen: dar­in be­weg­ten sich die glei­chen ab­grün­di­gen Schau­der, des Las­ters oder des Über­sinn­li­chen. Sie at­me­ten hör­bar ein­an­der an. Gus­te schloss, eine Se­kun­de lang, die Li­der: da plumps­ten sie auch schon bei­de auf die Sä­cke, roll­ten, in­ein­an­der ver­wi­ckelt, hin­ab und durch den dunklen Raum da­hin­ter, schlu­gen um sich, keuch­ten und prus­te­ten, als sei­en sie dort un­ten am Er­trin­ken.
Gus­te zu­erst er­reich­te wie­der das Licht. Den Fuß, an dem er sie fest­hal­ten woll­te, stieß sie ihm ins Ge­sicht und sprang her­aus, dass es krach­te. Als Die­de­rich sich glück­lich ihr nach­ge­ar­bei­tet hat­te, stan­den sie da und schnauf­ten. Gus­tes Bu­sen, Die­de­richs Bauch gin­gen bei­de im Sturm. Sie er­lang­te vor ihm die Spra­che zu­rück. »Das müs­sen Sie mit ’ner an­de­ren ver­su­chen! Wie kom­m’ ich über­haupt dazu!« Im­mer er­bit­ter­ter: »Ich hab’ Ih­nen doch ge­sagt, dass es drei­hun­dert­fünf­zig­tau­send sind!« Die­de­rich be­weg­te die Hand, um aus­zu­drücken, dass er sei­nen Miss­griff zu­ge­be. Aber Gus­te schrie auf: »Und wie ich aus­se­he! Soll ich so viel­leicht durch die Stadt ge­hen?« Er er­schrak aufs neue und lach­te rat­los. Sie stampf­te auf. »Ha­ben Sie denn kei­ne Bürs­te?« Ge­hor­sam mach­te er sich auf den Weg; Gus­te rief ihm nach: »Dass ge­fäl­ligst Ihre Schwes­tern nichts mer­ken! Sonst re­den mor­gen die Leu­te von mir!« Er ging nur bis an das Kon­tor. Wie er zu­rück­kehr­te, saß Gus­te wie­der auf dem Sack, das Ge­sicht in den Hän­den, und durch ihre lie­ben, di­cken Fin­ger ran­nen Trä­nen. Die­de­rich blieb ste­hen, hör­te ih­rem Wim­mern zu, und auf ein­mal be­gann auch er zu wei­nen. Mit trös­ten­der Hand bürs­te­te er sie ab. »Es ist doch nichts ge­sche­hen«, wie­der­hol­te er. Gus­te stand auf. »Das wäre auch noch schö­ner« – und sie mus­ter­te ihn mit Iro­nie. Da fass­te auch Die­de­rich Mut. »Ihr Herr Bräu­ti­gam braucht es ja nicht zu wis­sen«, be­merk­te er. Und Gus­te: »Wenn schon!« – wo­bei sie sich auf die Lip­pen biss.
Be­trof­fen durch dies Wort bürs­te­te er schwei­gend wei­ter, zu­erst sie, dann sich, in­des Gus­te ihre Klei­der glät­te­te. »Nun los!« sag­te sie. »Eine Pa­pier­fa­brik sehe ich mir so bald nicht wie­der an.« Er späh­te ihr un­ter den Hut. »Wer weiß«, sag­te er. »Denn dass Sie Ihren Buck lie­ben, das glaub’ ich Ih­nen seit fünf Mi­nu­ten nicht mehr.« Schnell rief Gus­te: »O doch!« Und ohne Pau­se frag­te sie: »Was be­deu­tet denn das Zeug hier?«
Er er­klär­te: »Das ist der Sand­fang, durch die Rin­ne schwem­men wir die Lum­pen; Knöp­fe und so wei­ter blei­ben zu­rück, wie Sie se­hen. Die Leu­te ha­ben na­tür­lich wie­der nicht auf­ge­räumt.« Mit der Schirm­spit­ze sto­cher­te sie in dem Hau­fen; er setz­te hin­zu: »Im Jahr be­hal­ten wir meh­re­re Sä­cke Über­bleib­sel!« – »Und was ist das da?« frag­te Gus­te und griff rasch hin, nach et­was, das glänz­te. Die­de­rich riss die Au­gen auf. »Ein Bril­lant­knopf!« Sie ließ ihn fun­keln. »Echt so­gar! Wenn Sie öf­ter so was fin­den, ist Ihr Ge­schäft nicht so übel!« Die­de­rich sag­te zwei­felnd: »Den muss ich na­tür­lich ab­lie­fern!« Sie lach­te. »An wen denn? Die Ab­fäl­le ge­hö­ren doch Ih­nen!« Er lach­te auch. »Na, nicht ge­ra­de die Bril­lan­ten. Wir wer­den schon noch aus­fin­dig ma­chen, wer uns das ge­lie­fert hat.« Gus­te sah ihn von un­ten an. »Sie sind schön dumm«, sag­te sie. Er er­wi­der­te mit Über­zeu­gung: »Nein! Son­dern ich bin ein Ehren­mann!« Da­rauf hob sie nur die Schul­tern. Lang­sam zog sie den lin­ken Hand­schuh aus und leg­te sich den Bril­lan­ten auf den klei­nen Fin­ger. »Er muss als Ring ge­fasst wer­den!« rief sie aus, wie er­leuch­tet, be­trach­te­te ver­sun­ken ihre Hand und seufz­te. »Na, sol­len ihn an­de­re Leu­te fin­den!« – und un­ver­mu­tet warf sie den Knopf zu­rück in die Lum­pen. »Sind Sie ver­rückt?« Die­de­rich bück­te sich, sah ihn nicht gleich und ließ sich schnau­fend auf die Knie. In der Hast warf er al­les durch­ein­an­der. »Gott sei Dank!« Er hielt ihr den Bril­lan­ten hin; aber Gus­te nahm ihn nicht. »Ich gön­ne ihn dem Ar­bei­ter, der ihn mor­gen zu­erst sieht. Der steckt ihn ein, dar­auf kön­nen Sie sich ver­las­sen, der ist nicht so dumm.« – »Ich auch nicht«, er­klär­te Die­de­rich. »Denn wahr­schein­lich wäre der Stein doch weg­ge­wor­fen wor­den. Un­ter sol­chen Um­stän­den brau­che ich es nicht für in­kor­rekt zu hal­ten –« Er leg­te den Bril­lan­ten wie­der auf ih­ren Fin­ger. »Und wenn es auch in­kor­rekt wäre, er steht Ih­nen so gut.« Gus­te sag­te über­rascht: »Wie­so? Wol­len Sie ihn mir denn schen­ken?« Er stam­mel­te: »Sie ha­ben ihn ja ge­fun­den, da muss ich wohl.« Da ju­bel­te Gus­te. »Das wird mein schöns­ter Ring!« – »Wa­rum?« frag­te Die­de­rich, voll ban­ger Hoff­nung. Gus­te sag­te aus­wei­chend: »Über­haupt …« Und mit ei­nem plötz­li­chen Blick: »Weil er nichts kos­tet, wis­sen Sie.« Hier­über er­rö­te­te Die­de­rich, und sie sa­hen ein­an­der blin­zelnd in die Au­gen.
»Ach Herr Gott!« rief Gus­te plötz­lich. »Es muss schreck­lich spät sein. Schon sie­ben? Was sag’ ich nur mei­ner Mut­ter? … Ich weiß, ich sag’ ihr, ich hab’ bei ei­nem Tröd­ler den Bril­lan­ten ent­deckt, und er hat ge­dacht, er ist un­echt, und hat bloß fünf­zig Pfen­nig ver­langt!« Sie öff­ne­te ih­ren gol­de­nen Sack und ließ den Knopf hin­ein­fal­len. »Also adieu … Aber Sie se­hen aus! We­nigs­tens müs­sen Sie sich die Kra­wat­te bin­den.« Im Spre­chen tat sie es schon selbst. Er fühl­te ihre war­men Hän­de un­ter sei­nem Kinn; ihre feuch­ten, di­cken Lip­pen be­weg­ten sich ganz nahe. Ihm ward heiß, er hielt den Atem zu­rück. »So«, mach­te Gus­te und brach ernst­lich auf. »Ich dre­he nur das Gas ab«, rief er ihr nach. »War­ten Sie doch!« – »Ich war­te schon«, ant­wor­te­te sie von drau­ßen; – aber als er auf den Hof trat, war sie fort. Ver­dutzt sperr­te er die Fa­brik zu und re­de­te laut da­bei vor sich hin: »Nun sag’ mir ei­ner, ist das In­stinkt oder Be­rech­nung?« Er schüt­tel­te sor­gen­voll den Kopf über das ewi­ge Rät­sel der Weib­lich­keit, das in Gus­te ver­kör­pert war.
*
Vi­el­leicht, so sag­te sich Die­de­rich, ging es vor­wärts mit Gus­te, frei­lich ging es lang­sam. Die Er­eig­nis­se, die sich um den Pro­zess grup­pier­ten, hat­ten ihr Ein­druck ge­macht, aber noch nicht ge­nug. Auch hör­te er nichts mehr von Wulc­kow. Nach dem so viel­ver­spre­chen­den Schritt des Re­gie­rungs­prä­si­den­ten beim Krie­ger­ver­ein war­te­te Die­de­rich un­be­dingt auf wei­te­res: eine Her­an­zie­hung, eine ver­trau­li­che Ver­wen­dung, er wuss­te nicht wie und was. Der Har­mo­nie­ball konn­te es brin­gen; warum hat­ten sonst die Schwes­tern Rol­len be­kom­men im Stück der Prä­si­den­tin. Nur dau­er­te al­les zu lan­ge für Die­de­richs Ta­ten­lust. Es war eine Zeit voll Un­ru­he und Drang. Man quoll über von Hoff­nun­gen, Aus­sich­ten, Plä­nen; in je­den Tag, der an­fing, hät­te man das al­les auf ein­mal er­gie­ßen wol­len, und wenn er aus war, war er leer ge­blie­ben. Ein Trieb nach Be­we­gung er­fass­te Die­de­rich. Mehr­mals ver­säum­te er den Stamm­tisch und ging spa­zie­ren, ohne Ziel und ins Freie, was sonst nicht vor­kam. Er kehr­te dem Mit­tel­punkt der Stadt den Rücken, stapf­te mit dem Schritt ei­nes von Tat­kraft schwe­ren Man­nes die abend­lich lee­re Mei­se­stra­ße zu Ende, durch­...

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