Annelies Liengitz, geboren 1963, ist Förderlehrerin für Kinder mit spezifischen Lernschwächen. Bereits als Vierzehnjährige kam sie zum Schreiben und hat an einem Jugendwettbewerb teilgenommen und gewonnen. 2003 erschein ihr Buch „Jane“ im Memoiren-Verlag.
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Himmel, wer braucht schon Mathematik?
von Annelies Liengitz
Als Förderlehrer für Kinder mit spezifischen Lernschwächen arbeite ich häufig mit Schülerinnen und Schülern, die erhebliche „Herausforderungen“ in Mathe haben und meist kommen wir gut klar. Nur einmal hatte ich ein Erlebnis der besonderen Art, von dem ich jetzt erzählen will.
Um dem Schüler einen Namen zu geben, nennen wir ihn Manuel. Schon im Vorfeld erfuhr ich so einiges über ihn. Er hatte die Diagnose Dyskalkulie – auf Deutsch: Rechenschwäche. Er besuchte schon die vierte Klasse der Volksschule. Normalerweise kamen solche Kinder im besten Fall in der ersten Klasse und nur im schlechtesten Fall, wie er, in der vierten Klasse der Volksschule zu mir; immerhin hatte bereits das zweite Semester begonnen. Außerdem sei er ein wenig „problematisch“, hieß es. Seine Lehrerin wäre schier am Verzweifeln, da er andauernd nur mit ihr diskutiere statt zu rechnen, das verweigere er einfach.
Das klang für mich spannend, da ich mich immer für „besondere“ Schüler interessiere. Mein Chef nutzte das und schickte alle „außergewöhnlichen“ Fälle zu mir.
Auch Manuels Mutter wusste nicht mehr weiter, zumindest kam das beim Telefonieren so rüber.
Endlich war es soweit. Er sollte zum Erstgespräch in mein Büro. Es raubte mir schier den Atem, als er mein Arbeitszimmer betrat. Ein unwahrscheinlich hübscher Junge mit fast schwarzen Augen und sehr dunklen Haaren stand mir gegenüber, grinste unverschämt selbstbewusst über das ganze Gesicht und streckte mir freundlich seine Hand entgegen. Er hatte eine Schirmkappe auf, natürlich verkehrt herum. Mal sehen, ob er die heruntergab. Seine Mutter stand etwas verzagt hinter ihm.
„Hallo Manuel, schön, dass du da bist. Zieh dir deine Jacke aus, gib deine Kappe herunter und nimm Platz.“
Freundlich begrüßte ich seine Mutter.
„Ich bin wirklich dankbar, dass wir so rasch einen Termin bekommen haben. Ich weiß mir keinen Rat mehr. Manuel ist derart schwierig …“ Ihr Gesicht sprach Bände. „Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich Sie lieber mit ihm allein lassen, ich halte das einfach nicht mehr aus. Ich rege mich auch immer furchtbar auf … Ich komme später wieder, dann können wir uns ja ausreden.“ Und weg war sie.
Was war jetzt das? Egal … ich machte hier weiter. Er hatte auch seine Kappe heruntergenommen. Fein, ich hasste nichts mehr, als dass sich Kids darunter versteckten … und die erste Hürde schien genommen, er akzeptierte vorgegebene Richtlinien.
„Ich hoffe, du kommst damit klar, dass deine Mama weg ist? – Darf ich dir ein paar Fragen stellen?“
„Ist schon okay – sie ist überfordert mit mir.“
Aha, kluges Kerlchen.
Themenwechsel. „Ich möchte dich ein wenig näher kennen lernen … Was ist dein Lieblingsessen?“
„Kärntner Käsnudel.“
„Super, die esse ich auch liebend gerne. Und was hast du für Hobbys?“
„Fußball – ich spiele im Verein als Stürmer.“
Das war außergewöhnlich. Normalerweise sind Jungs, die sich viel bewegen, gut in Mathe. Angeblich sollen sich die Synapsen im Gehirn bei sportlichen oder musischen Kindern viel besser verknüpfen. Anscheinend war er da eine Ausnahme.
„Anfangs hatte ich bei gewissen Trainingsübungen große Schwierigkeiten, aber mittlerweile ist es etwas besser“, erklärte er.
Aha, also doch, wahrscheinlich lag es an der Raum-Lage-Wahrnehmung. Da ergaben sich Herausforderungen mit Links-Rechts und mit dem Körperschema. Egal, das klärten wir später.
„Hast du eigentlich ein Lieblingstier?“
„Ja, Hunde, aber meine Eltern haben mir nur eine Katze erlaubt, weil keiner so viel Zeit hat, und mit unserer Katze muss keiner spazieren gehen.“
Das war doch schon ein Anhaltspunkt.
„Mein Kater ist total süß, er schläft sogar bei mir.“
Das verstand ich, bin ja selbst Katzenbesitzerin. So, schön langsam wollte ich mich zum eigentlichen Thema vortasten. „Weißt du eigentlich, warum du heute bei mir bist?“
„Na klar, weil ich kein Mathe brauche! Himmel, wer braucht schon Mathematik?“
Erstaunt schaute ich ihn an. Das war es: Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir! Ich brauchte also nur zu erklären wozu, und schon würde es funktionieren …
„Warum glaubst du, ohne Mathe durchs Leben zu kommen? Überall im Leben rechnet man, das fällt dir wahrscheinlich nur nicht auf.“
„Rechnen ja, aber Rechen ist nicht Mathematik, und rechnen kann ich.“
Wie er das wohl meinte? Gab es da einen Unterschied? Im Moment ließ ich das so im Raum stehen.
„Okay, darf ich dir noch ein paar Fragen stellen?“
„Klar.“
Bis jetzt zeigte er sich äußert umgänglich, kein bisschen schwierig.
„Wie heißt die Zahl, die um zwölf kleiner ist als zweihundert?“
„Kleiner, was heißt kleiner? Minus vielleicht? Das schreibe ich mir auf.“
„Versuche es bitte ohne aufschreiben.“
„Nur mit Denken kann ich das nicht.“
Aha, er rechnete also nicht wirklich, sondern er zählte ziemlich sicher rauf oder runter oder für ihn noch einfacher: Er addierte und subtrahierte nur schriftlich. Diese Techniken konnte er sicher.
„Dann etwas leichter: 78 oder 87 – welche Zahl ist größer?
„87 – das weiß jedes Baby.“
„Und warum? Beide Zahlen bestehen aus einem Siebener und einem Achter?“, fragte ich provokant.
„Na, weil der Achter vorne steht, dann ist er mehr wert.“
„Wer sagt das?“
„Meine Lehrerin, meine Eltern, alle …“
„Richtig – und wie viel ist er vorne wert?“
„Keine Ahnung – acht halt.“
Aha, nächster Punkt: Der Stellenwert einer Zahl wurde nicht eindeutig erkannt, schauen wir da mal weiter. „Wenn die Zahl 333 lautet, besteht sie aus lauter Dreiern – richtig?“
Er nickte.
„Wenn das Euros wären und ich erlaubte dir einen auszusuchen, welchen Dreier würdest du nehmen?“
Erstaunt blickte er mir ins Gesicht, begann unverschämt zu grinsen. „Ich nehme einfach alles, was ich kriegen kann.“
Wieder eine kluge Antwort.
„Nein, nein, du musst schon selbst entscheiden.“
„Blödes Was-Wäre-Wenn-Spiel, du gibst mir ja doch nichts!“
Ich musste ihm Recht geben, also blieb ich ihm die Antwort schuldig.
Er kannte den Stellenwert einer Ziffer nicht, das heißt, er wusste nicht, dass der erste Dreier von 333 dreihundert wert war. So nebenbei machte ich mir ein paar Notizen. Wo machte ich jetzt am Geschicktesten weiter?
„Kannst du rückwärts zählen?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Versuch es einfach mal und zähl mir von 96 herunter.“
„96, 95, 94, 93, 92, 91, 90, 80, 70, 60, 50 ...“
Wieder ein typisches Merkmal.
„Schau, du hast doch eine Katze. Wenn sich jetzt jemand auch eine Katze zulegen möchte und derjenige will gerne vorher wissen, was ihn das Futter im Monat kostet, weil er noch Lehrling ist und nicht so viel verdient, wie könnte man das ausrechnen?“
Blitzschnell folgte die Antwort: „Eine Katze kann sich jeder leisten, die frisst nicht wirklich viel, und wenn du es geschickt anstellst, begnügt sie sich mit Trockenfutter und das bekommst du spotbillig.“
„Ja, aber wenn ich es genau wissen möchte?“
„Du vielleicht, aber sonst berechnet sicher niemand so genau, was ihn sein Tier kostet! Entweder man liebt ein Tier und legt es sich zu oder man lässt es bleiben – so einfach ist das!“
Puuhh, das war ziemlich energisch.
Jetzt was anderes, ich versuchte es mit den Malreihen. Anstandslos konnte er jede wie aus der Pistole geschossen. Sogar die „schwierigen“ wie sechs mal acht oder sieben mal neun beantwortete er blitzschnell.
Mal sehen, ob das nur auswendig gelernt war.
„Das kannst du ja perfekt!“
„Hat ja auch mein Opa Tag und Nacht mit mir trainiert.“
Aha.
„Wenn das so einfach für dich ist, leg mir mal eine mit den Bausteinen … sagen wir zwei mal acht.“
Wie erwartet, legte er mir zwei und acht Bausteine auf den Tisch und fragte: „Was nehme ich als Malzeichen … noch einen Baustein?“
Also fehlte auch der Operationsgedanke des Malnehmens.
Provokant erklärte ich ihm, dass da ja nur zehn Bausteine am Tisch lägen und zwei Mal acht doch sechzehn ergeben würde, also irgendetwas passe da nicht ganz!
Er überlegte hin und her, hatte aber keine Idee. „Das ist ja interessant.“ Mehr fiel ihm dazu nicht ein.
Wie kam ich bloß an ihn ran? Mir war klar, worin unsere „Herausforderung“ lag. Er hatte mit Mengen so seine Probleme. Zwar konnte er alle Rechentechniken, die hatte er wahrscheinlich eingetrichtert bekommen, aber ansonsten hatte er nicht wirklich viel verstanden. Mathematik war für ihn ein hin- und herhüpfen auf einem Zahlenstrahl. Sachrechnungen waren „spanisch“ für ihn. Da er aber ein sehr kluges Kerlchen war, konnte er nicht akzeptieren, dass er das nicht schaffte, also stellte er das Ganze als überflüssig hin. Soweit – so gut, aber wie kam ich an ihn ran?
Lernen funktioniert im Gehirn über Amygdala – die Mandelkerne, „Wächter des Überlebens“ genannt. Wenn die eine Information, die hereinkommt für negativ befinden, filtern sie diese aus und machen ein weiteres Denken unmöglich, sie schützen so auch unser „emotionales Überleben“, also müssen wir diese Teile überwinden, um ein mathematisches Lernen überhaupt erst zu ermöglichen.
Zurück zu den Bausteinen. „Hier auf dem Tisch liegen zehn Bausteine, das wäre als Rechnung acht plus zwei oder zwei plus acht, dann stimmt das Ergebnis.“
Interessiert nickt...