Das Violoncello
eBook - ePub

Das Violoncello

Anthologie

Jochen Bauschke

Share book
  1. 124 pages
  2. German
  3. ePUB (mobile friendly)
  4. Available on iOS & Android
eBook - ePub

Das Violoncello

Anthologie

Jochen Bauschke

Book details
Book preview
Table of contents
Citations

About This Book

In neun Kurzgeschichten spannt diese Anthologie einen Bogen von Kinder- über Jugend- bis zu Erwachsenengeschichten, die teils überraschen, teils betroffen machen.Das Violoncello (Veronika Schima)Lenas Violoncello beschließt, sich einen anderen Besitzer zu suchen, der es mehr zu würdigen weiß.Glückskeks (Craita TenO)Ein von zuhause ausgerissener Teenager fährt mit dem Zug ziellos durch Deutschland. Erst der Spruch aus einem Glückskeks weist ihm den richtigen Weg.Die Festung am Eismeer (Udo Pörschke)Bei der Besichtigung einer historischen Festungsanlage in Norwegen wird ein Deutscher, der hier im Zweiten Weltkrieg stationiert war, mit seiner Vergangenheit konfrontiert.Frühstück (Christoph Rollfinke)In den 1970ern: Gunther verachtet seinen Vater für dessen damalige Untätigkeit im Angesicht der NSDAP-Gräueltaten. Als er in seiner WG von der Planung eines RAF-Anschlags erfährt und nichts dagegen unternimmt, muss er erkennen, dass er seinem Vater mehr ähnelt, als ihm lieb ist.Ein radikaler Schnitt (Rolf Menz)Georg hat nach Jahren der Schriftstellerei den Bezug zur Realität verloren. Als ihm seine Entfremdung klar wird, entschließt er sich zu einem radikalen Schnitt.Die Standuhr (Bärbel Maiberger)Sie schwärmt für seine Uhrensammlung, wehrt sich aber gegen die Anschaffung einer Standuhr. Er ahnt nicht, dass dieser Weigerung ein traumatisches Erlebnis ihrer Kindheit zugrunde liegt.Nie vergessen, nicht vergeben (Heike Wegmann)Nach dreißig Jahren betritt Peter erstmals wieder seine Heimatstadt, in der sein Vater damals seine Mutter erschlagen und seine Schwester misshandelt hat. Seine Schwester ist auch der Grund für Peters Hiersein doch er ahnt nicht, dass sie etwas zu erzählen hat, das alles ändern wird.Johns Ende (Anke Voigt)Nach einem wechselvollen Leben strandet John als Obdachloser in einem deutschen Bahnhof. Er hat der Eiseskälte des Weihnachtsabends nur die Fetzen an seinem Leib und die trügerische Wärme einer gestohlenen Flasche Schnaps entgegenzusetzen. Bevor er einschläft, nimmt John sich vor, nachhause zu fahren.Das Führerprinzip (Thorsten Pehlmann)Fabrikarbeiters Patrick Heinrich kann sich von seinem Gehalt gerade einmal eine winzige Wohnung leisten, seine Eltern leben am Existenzminimum, seine Freunde von Hartz IV.Um sich zu wehren, sammelt Patrick Leidensgenossen zur Kampfgruppe Heinrich. Damit folgt er quasi einer Familientradition, denn schon sein Vater war gewalttätig und sein Großvater im Zweiten Weltkrieg an der Judenvernichtung beteiligt gewesen.Als Patricks Kampfgruppe in Aktion tritt und die Lage schrittweise eskaliert, rät ihm ausgerechnet besagter Großvater zur Vernunft. Er macht ihm klar, dass er einmal schuldig geworden sein Gewissen niemals wieder rein waschen könne.

Frequently asked questions

How do I cancel my subscription?
Simply head over to the account section in settings and click on “Cancel Subscription” - it’s as simple as that. After you cancel, your membership will stay active for the remainder of the time you’ve paid for. Learn more here.
Can/how do I download books?
At the moment all of our mobile-responsive ePub books are available to download via the app. Most of our PDFs are also available to download and we're working on making the final remaining ones downloadable now. Learn more here.
What is the difference between the pricing plans?
Both plans give you full access to the library and all of Perlego’s features. The only differences are the price and subscription period: With the annual plan you’ll save around 30% compared to 12 months on the monthly plan.
What is Perlego?
We are an online textbook subscription service, where you can get access to an entire online library for less than the price of a single book per month. With over 1 million books across 1000+ topics, we’ve got you covered! Learn more here.
Do you support text-to-speech?
Look out for the read-aloud symbol on your next book to see if you can listen to it. The read-aloud tool reads text aloud for you, highlighting the text as it is being read. You can pause it, speed it up and slow it down. Learn more here.
Is Das Violoncello an online PDF/ePUB?
Yes, you can access Das Violoncello by Jochen Bauschke in PDF and/or ePUB format, as well as other popular books in Literatur & Drama. We have over one million books available in our catalogue for you to explore.

Information

Year
2020
ISBN
9783968580203
Subtopic
Drama

Das Führerprinzip

Thorsten Pehlmann

„Hallo Patrick, Junge. Danke für deine Hilfe. Das ging ja richtig flott.“
„Kein Problem, Mama. Für euch bin ich doch immer da, weißt du doch. Äh, wie geht’s Papa?“, flüsterte Patrick leise in der Wohnungsdiele seiner Eltern, lugte vorsichtig durch den offenen Spalt der angelehnten Wohnzimmertür, konnte den Hinterkopf seines Vaters erkennen. Im Hintergrund des im Ikeastil eingerichteten Wohnzimmers flimmerte das Fernsehen. Die Nachrichten um neunzehn Uhr liefen gerade. Patricks Vater saß in seinem braunen Ledersessel, der einmal sehr schön und gepflegt aussah – vor mehr als zwanzig Jahren. Jetzt wies er viele Risse auf, an manchen Stellen kam das Futter heraus, das Marlies, seine Frau, notdürftig zu stopfen versucht hatte, mit mäßigem Erfolg. Laut rauschte der Feierabendverkehr auf der B55, der Hauptstraße, die mitten durch Borgheim führte, unter dem halboffenen Wohnzimmerfenster im zweiten Stock des Achtparteienhauses vorbei.
„Willst du die Einkaufstüten denn ewig in der Hand halten, Junge? Bist mit deinen dreißig Jahren bald genauso zerstreut wie dein Herr Vater.“ Leicht erschrocken zuckte Patrick zusammen, blickte in die dunklen Augen seiner Mutter, während sie ihrem Sohn die gefüllten Einkaufstüten aus der Hand nahm. Ein Lächeln huschte kurz über das von Sorgenfalten durchzogene Gesicht. „Komm.“ Schnell fasste sie Patrick bei der Hand, führte ihn in die Küche, wo sie leise die Tür hinter sich schloss. „Die Tabletten helfen im Augenblick sehr gut. Er hat weniger Schmerzen und sie stellen ihn ruhig, damit er sich nicht mehr so aufregt. Doktor Bernhards hat die Dosis erhöht. Aber an Rückkehr in seinen Beruf ist wahrscheinlich nicht mehr zu denken. Seit dem tödlichen Unfall seines Kollegen auf der Baustelle ist dein Vater nicht mehr der Alte. Seine Depressionen werden immer schlimmer. Der Arzt meint, er müsste ihn eigentlich in eine Spezialklinik überweisen, wo sie feststellen können, ob sein Knie eine Chance auf Heilung hat, aber das zahlt die Krankenkasse nicht, und da wir keine private Zusatzversicherung abgeschlossen haben ...“
„Die erste OP ...?“
„Ja, ich weiß, die erste OP ist nicht so gut verlaufen, wie es sich die Ärzte erhofft hatten.“
„Aber er kann das Knie doch wenigstens etwas besser bewegen nach der Therapie oder ...?“
Patricks Mutter schüttelte den Kopf mit den kurzen, mittlerweile stark ergrauten Haaren. „Eine Besserung, nein. Und die Firma behauptet immer noch, dass Papa am Unfall eine Mitschuld trägt. Gleichzeitig ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des toten Kollegen. Jetzt behauptet der Seniorchef auf einmal, dein Vater habe angeblich die Sicherheitsabsperrung nicht sachgemäß installiert. Hier, das Schreiben von seinen Anwälten.“
Wütend nahm Patrick den Brief entgegen, überflog die Zeilen. „Das darf ja nicht wahr sein. Dabei war Papa für die Absperrung an diesem Tag doch gar nicht zuständig, sondern der Juniorchef, wie Papa mir selbst erklärt hat. Außerdem wollte er den Kollegen noch retten, ist dabei selbst in die tiefe Ausschachtung gefallen. Das haben die anderen Kollegen doch bestätigt. Mann, Papa hätte draufgehen können.“ Patricks Kopf wurde hochrot, eine Hand ballte sich zur Faust. „Eigentlich müsste man dieses Pack abknallen. Ohne Gnade müsste man ...“
„Stopp. Du weißt, ich mag keine Wutausbrüche. Dein Vater reicht mir. Außerdem sind solche bösartigen Sprüche sinnlos. Gewalt ist kein Lösung, Junge.“ Patricks Mutter stöhnte leise auf. „Warum bist du manchmal so blutrünstig, hm? Dein Vater war früher auch immer so.“ Ein sanftes Lächeln huschte über ihr Gesicht, während sie Patrick durch sein aschblondes Haar wuselte.
„Der Juniorchef soll gedeckt werden und dafür wollen sie Papa opfern, aber das lasse ich nicht zu!“ Patrick sprach in erregter Lautstärke. Ängstlich öffnete seine Mutter die Küchentür einen Spalt, lugte zur angelehnten Wohnzimmertür rüber, doch nichts regte sich dort. Behutsam schob sie die Küchentür wieder ins Schloss.
„Patrick, was sollen wir denn tun? Wir hatten nie Geld für eine gute Rechtsschutzversicherung, also kommt ein Rechtsstreit wegen der hohen Kosten für uns nicht in Frage und zur Bedürftigenberatung will dein Vater nicht, dafür ist er viel zu stolz. Ich bin froh, dass du uns mit den Einkäufen einmal pro Monat aushilfst, damit wir halbwegs über die Runden kommen, seitdem die Krankenkasse das Krankengeld zahlt.“
Patrick war immer noch wütend. Warum dachte seine Muter nur so ... so klein, ließ sich alles gefallen? Auf jeden Fall würde der Juniorchef von Ready-Bau, der größten Baufirma in Borgheim und die Nummer Drei im ganzen Ruhrgebiet, sich aus der Affäre ziehen, dafür würden die gut bezahlten Anwälte schon sorgen.
Gerade wollte Patrick zu einer harten Entgegnung ansetzen, da schlug seine Mutter plötzlich die Hände vors Gesicht, begann bitterlich zu weinen. Für einige Sekunden stand der in dieser Situation hilflos wirkende Sohn einfach nur vor ihr und, starrte sie fassungslos an. So hatte er seine immer starke, vernünftige und positiv denkende Mutter in den ganzen dreißig Jahren noch nicht erlebt, obwohl sie als Familie schon einiges durchgemacht hatten. Die offensichtliche Hoffnungslosigkeit machte ihn zutiefst betroffen. Als flüstere ihm eine unsichtbare Stimme vorwurfsvoll zu, seine Mutter endlich zu umarmen, kam Bewegung in den Dreißigjährigen. Sanft zog Patrick seine Mutter an die Brust, drückte sie liebevoll. Als er sich später von ihr verabschiedete, hielt sie ihn an den Händen fest, blickte ihm intensiv in seine blauen Augen. „Mach keine Dummheiten, Junge. Die Welt steckt voller Ungerechtigkeiten, aber irgendwie schaffen wir es. Das haben wir doch immer.“ Sie setzte ein positives Lächeln zur Schau. Patricks Stimme wirkte emotionslos, seine Mimik undurchsichtig. „Ja Mama, sicher. Irgendwie.“
„Ey Heinrich, beweg deinen Arsch mit dem Stapler hier rüber! Werner braucht Hilfe. Der Sattelzug muss bis vierzehn Uhr abgefertigt werden. Termingut! Gib Stoff, Alter, oder es rappelt!“
Ohne eine Erwiderung auf die niveaulose Art des Disponenten fuhr Patrick den gasbetriebenen Stapler zügig durch die großflächige Lagerhalle der Spedition und eilte dem Kollegen zu Hilfe. Gedanklich bei seinen Eltern, dachte er über seinen letzten Besuch bei ihnen vor zwei Tagen nach. Dann erschien Michaela, die attraktive Nachbarin, vor seinem geistigen Auge. Ein bisschen Spaß für den Sexhunger zwischendurch, so nannte er die Erotikbeziehung mit ihr, musste dabei breit grinsen. Alles andere kam für ihn sowieso nicht in Frage. Unrealistische Vorstellungen vom Leben mit Heirat und Familiengründung erschien Patrick in der heutigen Zeit, wo jeder sich selbst der Nächste war, nicht sinnvoll. Heute konnte sich ein normaler gewerblicher Arbeitnehmer mit vierwöchiger Kündigungsfrist und tausendeinhundert Euro netto so ein Lebensmodell einfach nicht leisten. Wie viele Jobs müsste er sich denn zulegen, um seine Familie ausreichend versorgen zu können? Zwei Arbeitsstellen oder drei? Schwachsinn, wo sind deine Grenzen? Und wen traf die Schuld? Die beschissene Regierung, das gesamte Wirtschaftssystem, die Gleichgültigkeit der Verantwortlichen der Gesellschaft aller Schichten und Bereiche mit ihrer sozialen Inkompetenz und gewollten Ungerechtigkeit um des eigenen Vorteils willen. Aber damit würde bald Schluss sein, denn er, Patrick Heinrich, würde ein Zeichen setzen in Borgheim, ein Leuchtfeuer der Erweckung und Rückbesinnung auf die wahren Werte des Menschen im ganzen Ruhrgebiet, Werte, die sein Vater ihm in der Jugendzeit vor Augen geführt hatte. Die Zeit war endlich reif für die Ernte, die Vorbereitungen konnten als abgeschlossen gelten.
„Sag mal, hast du Müll in den Ohren, oder was? Du sollst Werner beim Abladen des Sattelzugs helfen, nicht deinen Hintern breitsitzen!“ Im ersten Augenblick beim Gebrüll des Disponenten aus drei Metern Entfernung zusammengezuckt, fuhr Patrick mit Vollgas an, umklammerte voller Wut das Lenkrad des Gabelstaplers. Er hatte überhaupt nicht bemerkt, dass er völlig in Gedanken versunken den Stapler in eine Seitengasse des Hochregallagers gefahren und gestoppt hatte. Dem Disponenten jedoch entging nichts, spürte er noch jeden Mitarbeiter auf, der sich vor der Arbeit drücken wollte. Die Vollgummireifen von Patricks Gabelstapler drehten durch, hinterließen einen breiten Gummirückstand auf dem Boden der Lagerhalle. Das Gebrüll des Disponenten verfolgte Patrick bis an die Laderampe, als er an dem Vorgesetzten vorbeirauschte, doch er sagte wieder nichts. Nur jetzt nicht die Beherrschung verlieren, gar dem Drecksack nach Feierabend die Fresse polieren. Keinesfalls durfte Patrick irgendetwas aufs Spiel setzen. Sollten sie nur rumpöbeln, ihn für einen dummen, feigen, stillen Duckmäuser halten, denn irgendwann bekam jeder seine Strafe. So wie damals. Damals vor sechzig Jahren.
Russland 1942
Mit süffisantem Blick wandte sich SS-Obergruppenführer Walter Zimmer dem gemischten Pulk von Männern, Frauen und Kindern zu, bedeutete seinen Untergebenen, die Menschen zum Treffpunkt außerhalb des Dorfes zu bringen. Zwölf Männer der Einsatzgruppe C, in feldgrauen Uniformen gekleidet, drängten die Gruppe zum Dorfausgang. Ihr Ziel war ein nahe gelegenes Wäldchen. In der Ferne grollte dumpfes Geschützfeuer, es wurde vom Wind mal stärker, mal schwächer herangetragen. Der Feind hatte das Dorf schnell geräumt, keinen großen Widerstand geleistet, und nachdem die Einheiten der Heeresgruppe Süd vor drei Tagen nur so durchrauschten, trafen auch schon die Männer der Einsatzgruppe C ein, um ihre besondere Aufgabe für das Deutsche Reich zu erfüllen. Lediglich die ersten Häuser hatten einige Beschädigungen durch Panzergranaten abbekommen, ansonsten war das Dorf intakt. „Die ahnen überhaupt nicht, was ihnen blüht.“ Neben den SS-Obergruppenführer trat der zweiundzwanzigjährige Unterführer Herbert Heinrich und fiel in Zimmers sarkastisches Lachen mit ein. Grüne Augen, blondes Haar, nur ein kleiner Fehler im idealen Bild des von der Reichsführung glorifizierten Herrenmenschen. „So ist es. Komm, darauf trinken wir einen.“ Einem aufmerksamen Beobachter wäre der gezwungene Ausdruck aufgefallen, den Heinrich mit seinem Gelächter überspielte. Der Unterführer trug eine volle Flasche Wodka in der Armbeuge. Dass die Mittagsstunde noch nicht angebrochen war, hielt die beiden Angehörigen der Einsatzgruppe nicht davon ab, sich einen kräftigen Schluck zu genehmigen. Direkt nachdem die Wehrmacht aus dem Dorf abgerückt war, hatte der um fünfzehn Jahre ältere Zimmer unter der jüdischen Bevölkerung die Nachricht verbreiten lassen, sie sollten sich bis zum nächsten Mittag auf dem Dorfplatz zwecks Umsiedelung nach Oberschlesien einfinden, da die Region noch viele fleißige Hände in der Landwirtschaft benötigen würde. Die meisten folgten dem Aufruf. Welche Tragik. Zimmer rülpste laut nach dem ersten Schluck, wischte sich kurz über sein feistes Gesicht mit den wasserblauen Augen. „Wie viele von dem Pack haben wir bis jetzt unter die Erde gebracht, Heinrich?“ Der Angesprochene drückte seinem Vorgesetzten die Flasche in die Hand, zückte ein kleines Notizbuch, blätterte kurz in den Seiten. „Wir sind mittlerweile vier Monate in diesem Abschnitt unterwegs ...“ Heinrich überflog die fein säuberlich aufgeschriebenen Zahlen, addierte die Ziffern, bis er mit gespielt stolzem Blick zum einen Kopf größeren Zimmer aufblickte. „Mein Lieber, wir waren richtig fleißig. Bis jetzt kommen wir auf 27.385 ,unerwünschte Elemente’.“ Als Antwort klopfte ihm Zimmer wohlwollend auf die Schulter, nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche, bevor er sie an Heinrich zurückgab. Immer öfter tranken sowohl er als auch Heinrich zu jeder Tageszeit. „Um Herr über den Arbeitsstress zu werden“, wie sie es nannten. Jämmerliche Ausreden, denn in Wirklichkeit suchten sie des nachts Alpträume heim, Alpträume von den vielen getöteten Juden, ihre Gesichter, die Schreie, als sie in den von ihnen selbst ausgehobenen Gräbern von Maschinengewehrsalven durchsiebt wurden, sich einige Minuten später ihre Leichen übereinander stapelten. Der Reichsführer SS Heinrich Himmler predigte die Ansicht, dass ein gestählter deutscher Geist über solche Belastungen erhaben sein müsse. Selbstverständlich vertraten die Männer der Einsatzgruppe C unter ihrem Obergruppenführer Zimmer diesen Standpunkt mit großem Enthusiasmus, doch irgendetwas machte den Herrenmenschen einen Strich durch die Rechnung. Welche Geißel bereitete dieser heroischen Gruppe so große Schwierigkeiten bei ihrer wichtigen Arbeit, dass immer mehr Angehörige zum Alkohol als Allheilmittel griffen oder sogar Selbstmord begingen wie Hans Mertin, der sich erst vor drei Wochen eine Kugel durch den Kopf jagte? Mertins Suizid wurde natürlich totgeschwiegen, denn niemand wollte den Grund für Mertins feigen Abgang in Erfahrung bringen. Wahre Herrenmenschen trotzten eben jeder Herausforderung. Trotz des starken, sinnumnebelnden Wodkas breitete sich in Unterführer Herbert Heinrichs Mund ein bitterer Beigeschmack aus.
Seit längerer Zeit beobachtete er die besorgniserregende Tendenz des erhöhten Alkoholkonsums an sich und an anderen Gruppenagehörigen. Als er Obergruppenführer Zimmer vor einigen Wochen darauf ansprach, schrie der ihn nur an: „Mann, Heinrich, halt gefälligst dein blödes Maul! Wir sind Deutsche! Ein deutscher Mann wird gestählt im Feuer des Kampfes. Piss dir nicht in die Hosen. Unsere Aufgabe hier ist wichtig, verstehst du? Oder machst du dir etwa Gedanken über dieses Dreckspack von Juden, häh?“
„Nein, nein, wo denkst du hin, natürlich nicht. Aber ich mache mir Sorgen, äh Sorgen über die Zielsicherheit unserer Männer bei den Erschießungen.“ So hatte er geantwortet. Und Zimmer hatte ihm daraufhin anerkennend auf die Schulter geklopft, wie er es so oft tat, nannte Herbert Heinrich eine „gute rechte Hand“. Heinrich wusste es besser. Er kannte die Geißel, die sie alle, die gesamte Gruppe einschließlich Zimmer, in ihren Klauen hielt. Eine unbarmherzige, brutale Geißel, so boshaft und tückisch wie sie selbst, wenn sie auf die Jagd nach Untermenschen und anderen „unerwünschten Elementen“ gingen. Ja, die Geißel besaß einen Namen: Gewissen.
Ein SS-Mann salutierte zackig vor Zimmer und unterbrach Heinrichs Gedankengänge. „Das müssten alle sein, Herr Obergruppenführer.“
„Schön.“ Und an Heinrich gewandt sagte Zimmer: „Na dann wollen wir mal ein paar Bleigeschenke verteilen, oder Heinrich, was meinst du?“
Ohne Antwort marschierte Herbert neben seinem Vorgesetzten ins nahe gelegene Wäldchen, nahm immer größere Schlucke aus der Wodkaflasche. Trotz der langsam einsetzenden Betäubung des Alkohols wurde ihm schlecht. Am Sammelpunkt angekommen, befand sich eine große Menschenansammlung aller Altersgruppen dicht gedrängt in einem Graben. Die Abmessung des Grabens belief sich auf zwei Meter Breite und Tiefe und fünfzig Meter Länge. Einige männliche Personen der großen Menschentraube hielten noch die Spaten in den Händen, die ihnen jetzt aber auf Anweisung des Obergruppenführers abgenommen wurden. Am Rande rings um den Graben nahmen fünfzig Männer des Kommandos mit Maschinenpistolen im Anschlag ihre Positionen ein. Viele Menschen aus dem Pulk waren verängstigt, Kinder weinten laut, Mütter drückten ihre Säuglinge an die Brust, als könnten sie ihre Schützlinge mit dieser Geste vor dem aufkommenden Unheil schützen. Die meisten wussten, was ihnen bevorstand, aber ein älterer Herr, bekleidet mit einem feinen schwarzen Mantel und schwarzem Hut näherte sich dem Rand des Grabens, wo Walter Zimmer Aufstellung genommen hatte. Beide Hände beschwörend erhoben, sah er den Obergruppenführer bittend an. Herbert Heinrich neben ihm bekam vor Scham einen roten Kopf, setzte die Wodkaflasche an die Lippen und trank den verbliebenen Rest in einem Zug leer. Seine Übelkeit stieg ins Unermessliche, er glaubte, sich augenblicklich übergeben zu müssen.
„Herr Obergruppenführer, ich bitte Sie flehentlich, lassen Sie wenigstens die Frauen und Kinder am Leben. Bitte!“ Obwohl Russe, sprach der Mann einwandfreies Deutsch. Doch Zimmer ignorierte den Auftritt des Mannes geflissentlich, hatte nur Augen für die zwei goldenen Ringe an den Händen des älteren Herrn. Der bemerkte Zimmers gierige Mine, zog sich den Handschmuck augenblicklich von den Fingern, streckte sie dem Obergruppenführer auf der flachen Hand entgegen. Herrisch sah Zimmer über den alten Mann hinweg, beugte sich plötzlich hinab, grabschte nach dem Schmuck. Ein diebisches Grinsen huschte über sein Gesicht, als er Heinrich die Ringe zeigte und ihm einen in die Hand drückte. „Bei mir wird brüderlich geteilt, Herr Unterführer. Dafür bist du heute mit dem Fangschuss dran.“ Heinrich stockte der Atem.
„Aber ich war doch erst vor fünf Tagen ...“
„Nichts da, mein Lieber.“ Zimmers linker Fuß schoss vor, stieß den kultivierten älteren Mann rücklings in die dicht gedrängte Menschentraube im Graben zurück. Er lachte. Ohne weitere Einwände von Heinrich abzuwarten, hob Oberführer Walter Zimmer den rechten Arm zum deutschen Gruß, dass allseits verabredete Zeichen für seine Männer zu feuern. Intuitiv erkannten die Menschen im Graben, was ihnen bevorstand. Die Masse wogte hin und her. Vor Angst schrien die Kinder mit ihren Müttern und jungen Frauen noch lauter, während ältere sich stumm ihrem Schicksal ergaben. Ungeachtet der eisigen Kälte rissen sich einige Frauen die Blusen auf, stürzten an den Grabenrand, boten sich ihren Henkern an. Auf den Gesichtern der arbeitsfähigen Männer trat ein verbissener Ausdruck im Angesicht des Todes, mancher wollte schon voll mutiger Entschl...

Table of contents