MUT
âFĂŒr mich steht der Mut an erster Stelle. Damit meine ich den Mut, sich im Sinne des deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724 bis 1804) des eigenen Verstandes zu bedienen, Selbstbestimmung zu erlangen und eigene Entscheidungen zu treffen.â
Wolf Lotter lebt als Autor, Journalist und Speaker in der NĂ€he von Stuttgart. Er beschreibt als Publizist seit den 1980er-Jahren das Thema Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. 1999 war er GrĂŒndungsmitglied des Wirtschaftsmagazins brand eins, fĂŒr das er seither die Leitessays (Einleitungen) schreibt. Dabei beschĂ€ftigt er sich mit dem kulturellen, sozialen und persönlichen Wandel der Menschen in der Organisation des 21. Jahrhunderts. Nach seinem Bestseller âInnovation. Streitschrift fĂŒr barrierefreies Denkenâ (Edition Körber, 2018) legt Lotter im Herbst 2020 sein neues Buch âZusammenhĂ€nge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehenâ vor, ein Appell, sein Wissen zu teilen und sich aktiv der KomplexitĂ€t zu stellen â gerade in der Krise unserer Gesellschaften. Kontakt: wolflotter.de
Welche Werte haben fĂŒr Sie besondere Bedeutung und warum?
FĂŒr mich steht der Mut an erster Stelle. Damit meine ich den Mut, sich im Sinne des deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724 bis 1804) des eigenen Verstandes zu bedienen, Selbstbestimmung zu erlangen und eigene Entscheidungen zu treffen. Damit einher geht die Aufforderung: Lass dich nicht von anderen denken.
Das alles sind groĂe Aufgaben fĂŒr Menschen, die in einer Gesellschaft groĂ geworden sind, die dem Menschen vermittelt, dass er immer von anderen abhĂ€ngig sein muss. Der Mut zur SelbstĂ€ndigkeit, zum âNicht Mitmachenâ und Querdenken hat seinen Preis. Dieser Kraftakt ist aber elementar, weil er uns erst die Freiheit bringt, aus der heraus sich alles andere entwickeln kann. Ohne Freiheit bleiben alle Werte leere Begriffe und Lippenbekenntnisse.
FĂŒr mich ist Freiheit ein Fundament der AufklĂ€rung, des westlichen Denkens, das sich frei gemacht hat von Ideologien. Allerdings muss sie tĂ€glich neu errungen werden. Derzeit bleiben wir hinter unseren Möglichkeiten weit zurĂŒck. Es ist herausfordernd, selbstĂ€ndig zu denken, weil dies ein Prozess ist, der nie zu einem Ende kommt und uns immer wieder mit neuen Aufgaben konfrontiert.
Unsere Zeit ist von technischem Fortschritt, zunehmender Automatisierung und Wohlstand geprĂ€gt. Wir freuen uns ĂŒber eine lange Lebenserwartung und die Errungenschaften des Sozialstaates. Doch gerade vor diesem Hintergrund dĂŒrfen wir nicht âmĂŒdeâ werden und uns behaglich zurĂŒcklehnen. Unsere Gesellschaft sollte sich zudem dringend mit der Frage beschĂ€ftigen, wem sie dient. Sie dient nicht mehr der Masse, sie dient dem Einzelnen. Das bedeutet aber auch mehr Verantwortung. Wir können alle Annehmlichkeiten unseres Lebens nur dann sinnvoll nutzen, wenn wir uns der Individualisierung nicht verwehren â also keine Angst vor uns selbst haben.
Mit welchen Werten kann ein Unternehmen langfristig erfolgreich am Markt agieren? Bringt WertschÀtzung auch Wertschöpfung?
Mut und Selbstbestimmung sind auch hier an erster Stelle zu nennen, denn sie machen den langfristigen Erfolg eines Unternehmens ĂŒberhaupt erst möglich. Wer gelernt hat, eigene Entscheidungen zu treffen, schĂ€tzt auch die Entscheidungen anderer und kann zuhören. Man geht also in eine andere Form von Dialog und VerstĂ€ndnis. Die fĂŒr unsere Kultur so typische Trennung von Wir und Ich ist im Grunde falsch. Denn nur ein starkes Ich kann auch ein starkes Wir generieren. Und Markt ist ja nichts anderes als Gemeinschaft, also Gesellschaft, Austausch und Kommunikation. Es geht also um ein Sowohl-als-auch statt des bisherigen Entweder-oder.
Wer gelernt hat, eigene Entscheidungen zu treffen, schÀtzt auch die Entscheidungen anderer und kann zuhören.
Saturierte MĂ€rkte brauchen keine NullachtfĂŒnfzehn Lösungen. Die Akteure merken schnell, wer ihnen wirklich WertschĂ€tzung entgegenbringt und wer eigene, unverwechselbare Konzepte anbietet. Ich glaube nicht, dass es darum geht, opportunistisch zu sein und immer allen nach dem Mund zu reden. Im Gegenteil. Wenn ich deutlich machen kann, wer ich bin und wofĂŒr ich stehe, können sich andere viel besser fĂŒr mich entscheiden, oder eben auch nein zu meinem Angebot sagen.
Innerhalb eines Unternehmens ist es wichtig, auf die Vielfalt der Mitarbeiter und ihre ganz persönlichen Talente einzugehen. Wir brauchen OriginalitĂ€t, um uns abzuheben. WertschĂ€tzung fĂŒr das Unverwechselbare schafft in unseren von Ăberfluss geprĂ€gten MĂ€rkten einen klaren Wettbewerbsvorteil. Das ist in der Praxis ein schwieriger Prozess, weil Interessen abgewogen werden mĂŒssen. Aber wenn Entscheidungen nachvollziehbar sind, man also erkennen lĂ€sst, warum man sich fĂŒr die eine oder die andere Vorgehensweise entscheidet, hilft das allen Beteiligten. Auf die jeweilige Situation angemessen zu reagieren und die entsprechenden Talente zum Einsatz zu bringen, das ist die Kunst. DafĂŒr mĂŒssen sich die Beteiligten aber auch zurĂŒcknehmen können und sich nicht immer als Mittelpunkt des Geschehens betrachten. Das fĂ€llt nicht immer leicht.
Die Digitalisierung schreitet voran. Brauchen wir neue Werte in unserer neuen digitalen Welt, die gerade mit einer unglaublichen Schnelligkeit unser aller Leben verÀndert?
Ich denke, dass es nicht um neue Werte geht, sondern dass wir unsere traditionellen Werte nur ĂŒbertragen mĂŒssen. Wir brauchen aber ein neues VerhĂ€ltnis dazu. Wir moralisieren sehr stark, wo es um nĂŒchterne Ethik gehen sollte. Es gibt eine Politik der GefĂŒhle, wo eine zurĂŒckgenommene Betrachtungsweise richtig wĂ€re, gerade in Zeiten massiver VerĂ€nderungen. Alte Muster gibt es, ja, und die sind gefĂ€hrlich.
Das heiĂt aber gleichsam nicht, dass man das Kind mit dem Bade ausschĂŒtten sollte. Die âDigitalisierungâ selbst wird wenig nĂŒchtern und vorwiegend als Schlagwort betrieben. Dabei ist sie nur ein weiterer Abschnitt der Automatisierung. Wir bringen, wie es der Schweizer Historiker David Gugerli so wunderbar formuliert hat, die âWelt in den Computerâ. Damit sind die aber die Regel âder Weltâ, also die der Menschen, nicht auĂer Kraft gesetzt. Man darf keinen Popanz aufbauen: Eine Maschine ist eine Maschine.
Ich glaube eher an Entwicklungen als an Revolutionen. Revolutionen vernichten etwas und versprechen dafĂŒr was Neues, nur passiert das recht selten. Die Digitalisierung verĂ€ndert etwas, aber in einem normativen Rahmen, den wir bereits kennen. Menschen haben bestimmte BedĂŒrfnisse, und die werden auch im Zuge der Digitalisierung weiter nachgefragt.
Was sich merklich verĂ€ndert, ist der Wohlstand. Wenn wir ĂŒber Digitalisierung sprechen, meinen wir ja letztlich Automatisierung, und die hat in den vergangenen Jahrzehnten zu mehr Wohlstand und Freizeit gefĂŒhrt. Gleichzeitig hat die Automatisierung uns aber auch der Verantwortung fĂŒr uns selbst beraubt. Das ist nun der schwierige Balanceakt. Wir haben so viele Möglichkeiten wie noch nie, etwas aus uns und unserer Welt zu machen, haben aber zugleich verlernt, neugierig zu sein und uns zu engagieren. Die Frage ist also, wie bleibt man in Zeiten, in denen man satt und zufrieden ist, hungrig?
Zudem ist es wichtig, dass wir noch einmal ĂŒber den Begriff der Gleichheit reden. Bei uns bedeutet Gleichheit oft Gleichmacherei. Aber das ist damit nicht gemeint. Wir mĂŒssen dem Menschen an sich gerecht werden und dabei können uns Automationsprozesse helfen. Sie helfen uns, unser Leben nicht mehr mir Routinearbeiten zu verplempern. Der Preis dafĂŒr ist, dass wir uns selbst erkennen, uns also mit uns beschĂ€ftigen mĂŒssen. Geschieht das nicht, lĂ€uft man Gefahr, den totalen âNehmens-Staatâ zu erreichten, was nur im Totalitarismus vorstellbar ist. Schon jetzt gibt es solche AnsĂ€tze, bei denen Staaten mit ArbeitsbeschaffungsmaĂnahmen und durch das Ausbeuten von Ressourcen eine âgemĂŒtlicheâ Versorgungssituation schaffen. Totalitarismus kommt also heute in einem anderen Gewand daher als im 20. Jahrhundert. Aber, und das sollten wir uns immer vor Augen halten, es bleibt Totalitarismus mit allen Gefahren, die damit einhergehen.
Ein weiterer Aspekt, der im Zusammenhang mit der Digitalisierung oft genannt wird, ist die vermeintlich zunehmende Schnelligkeit. Aus meiner Sicht wird Schnelligkeit oft mit KomplexitÀt verwechselt. Was uns als schnell erscheint, ist oft nur der Blick auf eine Vielfalt. Diese ist nun in einer Form sichtbar und erfahrbar, wie es sie in der Vergangenheit nicht gab. Wir sehen auf einmal mehr. Ich vergleiche das gerne mit dem Blick aus einem Schnellzug. Wenn wir versuchen, bei hoher Geschwindigkeit etwas zu erkennen, das in kurzer Distanz zu uns liegt, rauscht es an uns vorbei, und wir können es nicht im Detail wahrnehmen. Besser ist es, wenn ich vorne oder am besten hinten hinausschaue. Dann kann ich alles im Detail erkennen. Anders gesagt: Zukunft braucht Herkunft.
Wir kommen aus einer Welt der Knappheit und haben nun die Aufgabe, uns eine Welt der Vielfalt zu erschlieĂen. Die Versuchung liegt nahe, es sich leicht zu machen, den bereits ausgetretenen Weg zu gehen, obwohl sich so viele neue Möglichkeiten eröffnen. Doch es bedeutet Arbeit, aus der Vielfalt heraus den eigenen Weg zu finden. Das ist eine intellektuelle Aufgabe, die man nicht bewĂ€ltigen kann, wenn man nur gelernt hat, möglichst viel Wissen in sich hineinzustopfen und zu funktionieren.
Werteerziehung gehört zu den groĂen Herausforderungen unserer Zeit. Mit welchen Wertvorstellungen gehen junge Menschen heute ins Leben, und sind diese Wertvorstellungen zukunftsfĂ€hig?
Bildung ist eine zentrale Zukunftsaufgabe. Die Verantwortlichen haben sehr fahrlĂ€ssig ein Bildungssystem aufgegeben, das man als humanistische Bildung bezeichnet. Die Schule ist nicht dazu da, Fachwissen zur VerfĂŒgung zu stellen. Gute Schulbildung basierte im humboldtschen Sinne darauf, die Grundwerkzeuge zur VerfĂŒgung zu stellen, um sich die Welt selbst zu erschlieĂen und auf die einzelnen Talente einzugehen. Das ist aufwĂ€ndig, weil es eben kein Routineprozess ist. Doch wenn wir die Jugend nicht entsprechend fördern, sehen wir die dramatischen Folgen bereits jetzt an allen Ecken und Enden.
Selbst bei jungen Menschen, die an der UniversitĂ€t waren, kann man heute nicht mehr davon ausgehen, dass sie ĂŒber eine grundlegende Allgemeinbildung verfĂŒgen, so dass es an einer gemeinsamen Basis fehlt und Gemeinsamkeiten nur schwer zu finden sind. Jeder sieht etwas anderes, aber nicht mehr das Gemeinsame.
Zudem gilt auch hier wieder: Lehrt die Kinder SelbststĂ€ndigkeit. Werteerziehung heiĂt letztlich, die eigene Position und die der anderen klar zu machen und aus der Unterschiedlichkeit positive Impulse zu ziehen. Dabei sollte die Frage im Mittelpunkt stehen, wo der Unterscheid zu dem ist, was ich kann, und zu dem, was andere können und wie wir das sinnvoll zusammenbringen können.
Dem liegt eine andere Vorstellung von Werten zugrunde, die nicht mehr normiert ist, wie die abendlÀndisch-christlichen oder auch islamischen Werte. Was wir brauchen, ist die Position eines freien Menschen im Sinne der AufklÀrung, der selbst in der Lage ist, sein Leben sinnvoll und sozialvertrÀglich auszurichten.
Ich habe in Ăsterreich die Ministerialdirektorin Katharina Kiss kennengelernt, die sich bemĂŒht, das Prinzip âSelbststĂ€ndigkeitâ an Schulen zu verankern. Nicht als âSchulfachâ, sondern als permanente Aufforderung, Aufgaben selbststĂ€ndig zu lösen. Das ist nicht bei allen Lehrern und Eltern beliebt, weil SelbststĂ€ndigkeit auch Differenz erzeugen kann, und die macht Arbeit und erzeugt WidersprĂŒche, denn oft gibt es ganz individuelle LösungsansĂ€tze. Aber genaue diese Selbstentwicklungs-Erziehung brauchen wir. Man kann nicht Menschen zum Mitlaufen und Mitmachen erziehen und sie dafĂŒr belohnen â und sich dann wundern, wenn sie keine Lösungen fĂŒr neue Probleme finden.
Wir haben heute ĂŒber alle Schichten hinweg einen ungehemmten Zugang zu Wissen und Bildung, aber dieser wird nicht genutzt, weil die Metaebene der Kultur das nicht zulĂ€sst. Wir sagen: Konsumiere, aber entwickle dich nicht. So kann es nicht funktionieren.
Auch die Vermittlung eines rigiden Wertekanons, wie dies in der Vergangenheit geschehen ist, halte ich nicht fĂŒr sinnvoll. Hier halten sich die Menschen oft nur an Klischees und machen im Geheimen doch so weiter wie bisher. Das fĂŒhrt zu einer neuen Form der Heuchelei, denn zum Guten bekennt man sich schnell. Das Gute auch zu tun, ist etwas anders. Werte bedeuten einen Zusammenhang zwischen dem, was man ethisch fĂŒr richtig hĂ€lt und dem eigenen Leben. Wortspenden bringen uns nicht weiter.
Ein Beispiel hierfĂŒr ist der Begriff âInnovationâ. Ich habe mich damit in meinem Buch (Innovation. Streitschrift fĂŒr barrierefreies Denken) befasst. Was mir aufgefallen ist, war erst mal, wie die inflationĂ€re Verwendung des Begriffs zu seiner Entwertung gefĂŒhrt hat. Im Grunde bedeutet der Begriff âInnovationâ heute gar nichts mehr, weil sich alle dazu bekennen, Ă€hnlich wie bei den Begriffen âNachhaltigkeitâ und âDigitalisierungâ.
Im Grunde bedeutet der Begriff âInnovationâ heute gar nichts mehr.
Was wir sagen, mĂŒssen wir auch sichtbar werden lassen, konkret machen. Sonst hat es keine Wirkung. Das ist eine wichtige Lektion. Und das geht nur, wenn man es an sich selbst misst und damit arbeitet und experimentiert.
Korruption, RÀnkeschmiede, Vetternwirtschaft: ein Blick auf die globalisierte Welt stÀrkt nicht gerade das Vertrauen in funktionierende Wertesysteme. Wie können wir in unserer alles andere als perfekten Welt Werte erfolgreich leben?
Wir können nur unser eigenes Umfeld so gestalten, dass Taten nachvollziehbar werden. Korruption und Vetternwirtschaft sind letztlich auch das Produkt einer unzureichenden Gesetzgebung, nicht nur in regulativer, sondern vor allem auch in moralisch-ethischer Hinsicht. Die G...