Veronika Hoffmann | Siegen
geb. 1974, Dr. habil. theol., Professorin fĂŒr Systematische
Theologie an der UniversitÀt Siegen
Anders glauben
Ăber verĂ€nderte Bedingungen des Glaubens1
âGlauben Sie an Gott?â Wenn Meinungsforscher diese Frage stellen, scheint das Ergebnis zumindest fĂŒr Westeuropa vorhersehbar: Immer weniger Menschen glauben heute an Gott â die angebliche âWiederkehr der Religionâ hat daran bislang nichts geĂ€ndert. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte scheint eine klare Sprache zu sprechen: Es gibt Menschen, die noch sind, wie die Menschen frĂŒher, sie glauben an Gott. Und es gibt mehr und mehr Menschen, die nicht mehr so sind, sie glauben nicht an Gott. In kirchlichen Kreisen fĂŒhrt das nicht selten zu dem enttĂ€uschten GefĂŒhl: FrĂŒher waren die groĂen Mehrheiten bei uns, jetzt werden wir zur Minderheit. Daraus kann man depressiv folgern: Wir machen etwas falsch, weil die Menschen nicht mehr zu uns kommen. Alternativ findet sich auch die aggressive Folgerung: Die heutige Gesellschaft ist schlecht, weil sie den Wert des Glaubens nicht mehr erkennt.
Meine Behauptung ist, dass dieser FrĂŒher-Heute-Vergleich nur bedingt funktioniert, weil âglaubenâ âheuteâ und âfrĂŒherâ nicht dasselbe bedeutet. Wer heute glaubt, glaubt anders als die JĂŒnger zur Zeit Jesu oder eine BĂ€uerin im Europa des 14. Jhs. Die Bedingungen haben sich fĂŒr alle verĂ€ndert, und diese VerĂ€nderungen liegen gewissermaĂen noch vor der Frage âGlauben Sie an Gott?â und werden von ihr deshalb nicht erfasst. Wenn ich von verĂ€nderten Bedingungen spreche, muss ich nicht nur erklĂ€ren: verĂ€ndert in welcher Weise?, sondern auch: verĂ€ndert im Vergleich zu wann? Ich möchte das unter den Stichworten âSĂ€kularitĂ€tâ und âAuthentizitĂ€tâ tun, wobei ich auf Ăberlegungen des kanadischen Philosophen Charles Taylor zurĂŒckgreife.2 Im letzten Teil des Textes werde ich ĂŒber einige mögliche Konsequenzen nachdenken.
Beobachtung 1: âSĂ€kularitĂ€tâ
âSĂ€kularitĂ€tâ ist ein notorisch unklarer Begriff. HĂ€ufig wird unter einer âsĂ€kularen Gesellschaftâ eine solche verstanden, in der religiöser Glaube im RĂŒckgang begriffen ist. Man kann âSĂ€kularitĂ€tâ zweitens in dem Sinn verwenden, in dem Deutschland ein âsĂ€kularer Staatâ ist. Das heiĂt: Wir glauben beispielsweise nicht, dass unsere Bundeskanzlerin von Gott eingesetzt ist, sondern sie ist gewĂ€hlt. Und es gibt Religionsunterricht, aber man muss nicht teilnehmen, man kann sich auch abmelden. Diese zweite Bedeutung hat mit der erstgenannten Bedeutung von SĂ€kularitĂ€t nicht unbedingt etwas zu tun: Ein in diesem Sinne sĂ€kularer Staat kann problemlos hochreligiöse BĂŒrger haben.
Bei Taylor begegnet noch ein weiterer Begriff von âSĂ€kularitĂ€tâ. Hier ist âsĂ€kularâ nicht der Gegenbegriff zu âreligiösâ, sondern er bezeichnet den gemeinsamen Rahmen, in dem sich heute alle Weltanschauungen bewegen, d.h. die eingangs genannten verĂ€nderten Bedingungen des Glaubens. Taylor interessiert sich in seinem Werk Ein sĂ€kulares Zeitalter nicht fĂŒr den numerischen RĂŒckgang der Zahl der Glaubenden, sondern fĂŒr den Wandel von einer Gesellschaft, in der es so gut wie unmöglich war, nicht in der einen oder anderen Weise an Gott zu glauben, zu einer, in der dieser Glaube eine Möglichkeit unter anderen ist.3
Wenn wir eine Zeitreise in die Zeit Jesu machen und die Bewohner des Mittelmeerraumes fragen könnten: âGlauben Sie an Gott?â, dann wĂŒrde sich vermutlich niemand finden, der âneinâ sagt. Der Glaube an einen Gott oder mehrere Götter war selbstverstĂ€ndlich, ebenso wie es MĂ€chte gab, die das Leben beeinflussten: Gestirne, DĂ€monen, Engel ⊠Wenn Jesus âGlaubenâ fordert, will er nicht Atheisten bekehren. Es geht ihm darum, sich wirklich mit dem ganzen Leben auf Gott einzulassen, nicht um mögliche Zweifel an dessen Existenz. Das gilt nicht nur fĂŒr die Zeit Jesu, es gilt ĂŒber weite Strecken der europĂ€ischen Religionsgeschichte: Man kann auf alle möglichen Weisen glauben, Magie praktizieren, sich um Gott nicht kĂŒmmern, die Gebote nicht halten â aber es gibt keine rein âimmanenteâ Deutung der Welt, keine Deutung, die die Welt als in sich geschlossen denkt, in der kein Gott, keine ĂŒbernatĂŒrlichen MĂ€chte, keine Geister oder Engel wirken.
Bis etwa ins 16. Jh. ist Glaube an Gott in diesem Sinn ein selbstverstĂ€ndlicher, unhinterfragter Rahmen, in dem sich alle Deutungen der Welt bewegen. Die Ordnung der Natur stammt von Gott ebenso wie diejenige der Gesellschaft und der Familie. Politik und Religion sind gerade nicht getrennt wie im modernen sĂ€kularen Staat.4 Dementsprechend wirkt Gott auch in militĂ€rischen Siegen und Niederlagen. Und er wirkt im Leben des einzelnen unmittelbar, er schickt Krankheiten, um zu strafen, er ist verantwortlich fĂŒr das Wetter, das eine gute oder schlechte Ernte beschert. Engel stehen den Menschen hilfreich zur Seite, wĂ€hrend man sich der DĂ€monen erwehren muss. Alles, was man tut, hat Folgen fĂŒr das jenseitige, das âeigentlicheâ Leben. Die Heiligen sind in ihren Reliquien anwesend und schĂŒtzen âihreâ Kirchen.5
Die Entstehung des âimmanenten Rahmensâ
Wie kommt es zur VerĂ€nderung dieses âselbstverstĂ€ndlichen Rahmensâ? Hier wĂ€re eigentlich ein groĂer kultur- und geistesgeschichtlicher Bogen zu schlagen. Es wĂ€re ĂŒber Konfessionskriege und die AufklĂ€rung, neue politische Theorien, die aufkommende Geschichtswissenschaft und die ebenso aufkommenden Naturwissenschaften zu sprechen. Ich kann hier nur beispielhaft einen einzelnen Baustein der Entwicklung herausgreifen: Auf der biblisch-christlichen Linie hatte man immer wieder darum zu kĂ€mpfen, dass die Gottheit Gottes gewahrt bleibt. Gott mag sich der Welt zuwenden, in ihr antreffbar sein, sie erschaffen und erhalten. Aber er ist nicht einfach ein Teil der Welt. Man kann diesen Gott nicht dingfest machen, seine Anwesenheit nicht erzwingen, ihn nicht bestechen, damit er tut, was man sich wĂŒnscht. Schon das alttestamentliche Bilderverbot (Ex 20,4; Dtn 5,8) unterstreicht Gottes Andersheit und UnverfĂŒgbarkeit. Dieser Kampf um die Gottheit Gottes war und ist immer wieder zu fĂŒhren.
Folgt man Taylor, hatte das historisch gesehen allerdings unbeabsichtigte Folgen. Sehr vereinfacht gesagt:6 Im Kampf gegen eine Vermischung von Gott und Welt kam es zu einer immer schĂ€rferen Trennung von Gott und Welt. Der Gott im Himmel rĂŒckte immer weiter weg und die Erde gehörte allein den Menschen. Gott hatte vielleicht noch die Welt erschaffen und ihr eine Ordnung gegeben, aber er griff in diese Ordnung nicht mehr ein. Er kĂŒmmerte sich auch nicht mehr persönlich um jeden einzelnen. Ebenso wurde die gesellschaftliche Ordnung zu einer Sache nicht âvon Gottes Gnadenâ, sondern der menschlichen Ăbereinkunft. Aber was unterscheidet schlieĂlich einen Gott, der weit weg ist und so göttlich, dass er sich an der Erde die HĂ€nde nicht schmutzig macht, von einem Gott, den es nicht gibt? Die Grenze zwischen der Welt und dem Bereich Gottes wurde nach und nach undurchdringlich, und zum ersten Mal konnte man eine Welt denken, die ganz ohne Transzendenz auskommt, ohne âĂŒbernatĂŒrliche MĂ€chteâ.
Das ist, wie gesagt, nur eine der Linien, die Taylor auszieht, um die groĂe VerĂ€nderung hin zu einem âsĂ€kularen Zeitalterâ deutlich zu machen. Und Geschichte verlĂ€uft auch nicht einfach geradlinig. Aber alles in allem fĂŒhrte das dazu, dass der selbstverstĂ€ndliche Rahmen heute ein immanenter ist. Man kann weiterhin davon ausgehen, dass die Welt gewissermaĂen ânach oben offenâ ist, dass es einen Gott gibt, der sie gewollt hat und auf sie schaut. Aber man muss es nicht mehr. Man kann die Welt auch ganz und gar aus sich selbst erklĂ€ren. Das heiĂt: Es entsteht zum ersten Mal nicht nur fĂŒr einige wenige Philosophen, sondern fĂŒr die breite Masse der Menschen die Möglichkeit einer atheistischen Weltsicht. Und damit wird der Glaube seinerseits von einer SelbstverstĂ€ndlichkeit zu einer Möglichkeit: einer Möglichkeit unter anderen, die Welt zu verstehen. Andere Menschen, die sich weder als verblendet noch als böse disqualifizieren lassen, leben aus anderen Ăberzeugungen.
Es geht also nicht einfach darum festzustellen, dass es Atheismus in nennenswertem Umfang erst seit der Neuzeit gibt. Sondern es geht um die VerĂ€nderung, die sich fĂŒr alle ergibt, wenn jede Weise, die Welt zu verstehen, erkennbar eine Deutung ist. Glaube ist Deutung â und anderer Glaube oder Nichtglaube ist es auch. Was folgt daraus? Um diese Frage beantworten zu können, lohnt es sich, an einigen Stellen noch etwas genauer hinzusehen.
1. Muss man sich heute im Unterschied zu frĂŒher fĂŒr den Glauben entscheiden? Sicherlich spielt die eigene Entscheidung heute eine gröĂere Rolle. Aber Glaube als konkret gelebter, der die ganze Person prĂ€gt, als Nachfolge Christi, war schon immer auch eine Sache persönlicher Entscheidung. Umgekehrt muss ich mich heute so wenig wie frĂŒher entscheiden. Es gibt Entscheidungen, um die ich kaum herumkomme, z.B. was ich demnĂ€chst esse. Aber in Sachen Religion kann ich es auch auf sich beruhen lassen und mich nicht darum kĂŒmmern.
2. Die Rede vom Glauben als einer Möglichkeit unter anderen meint nicht, dass man nach Lust und Laune wĂ€hlt, ob und was man glauben will. Niemand kann einfach beschlieĂen zu glauben. Glaube entsteht aus Erfahrungen, Zeugnissen, GesprĂ€chen, Argumenten, Praktiken ⊠Dabei kommt auch ein Element der Wahl ins Spiel. Aber speisen sich nicht auch bewusste Glaubensentscheidungen aus tieferen Quellen, die gar nicht alle willentlich zugĂ€nglich sind? Das kann kaum anders sein, denn es geht dabei um die ganze Person, um eine IdentitĂ€t, die ich nicht einfach machen und mir zurechtlegen kann.7
3. Nicht selten wird aus der heute unhintergehbaren PluralitĂ€t möglicher Ăberzeugungen gefolgert, dass sich mit dem âselbstverstĂ€ndlichen Rahmenâ des Glaubens auch die Möglichkeit von Glaubensgewissheit definitiv aufgelöst hat. So geht z.B. der Religionssoziologe Peter L. Berger davon aus, dass man sich unter den skizzierten Bedingungen seines Glaubens nicht mehr fraglos gewiss sein kann â auĂer man verbarrikadiert sich fundamentalistisch und erklĂ€rt, dass eben doch alle dumm oder böse sind, die etwas anderes glauben.8 Hier kommt es jedoch darauf an, was man unter âGlaubensgewissheitâ versteht. Sie hat, wenn sie sich auf die Gegebenheiten einlĂ€sst, sicherlich heute eine andere Gestalt als frĂŒher, aber sie scheint mir nicht von vornherein unmöglich zu sein. Das gilt auf der Ebene der Ăberzeugungen: Wir können uns in Werten und anderen GrundĂŒberzeugungen durchaus gewiss sein, auch wenn wir wissen, dass es andere Ăberzeugungen gibt und wie man zu ihnen kommen kann. WĂ€re ich in Saudi-Arabien geboren, fĂ€nde ich es vielleicht richtig, wenn Frauen nicht Auto fahren. Insofern ist meine Ăberzeugung, dass Frauen das Autofahren erlaubt sein sollte, kontingent. WĂ€ren die UmstĂ€nde anders, wĂ€re meine Ăberzeugung vielleicht auch anders. Dennoch bin ich der Meinung, dass sie kein reiner Zufall ist, nur weil ich in Deutschland aufgewachsen bin. Und ich bin mir meiner Position auch durchaus sicher. Schon auf der Ebene der Ăberzeugung kann ich mir also sicher sein, a...