Toter Chef - guter Chef
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Mord im Domgymnasium

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Mord im Domgymnasium

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" 'Das ist mein letztes Wort. EndgĂŒltig!' Er sollte recht behalten.TatsĂ€chlich. Das war sein letztes Wort. Ohne dass er es ahnen konnte.Und anders, als er es gemeint hatte."Kurz darauf wird Dr. Bertram Geißendörfner, Direktor des Dom-Gymnasiumsvon Friedensberg, brutal ĂŒberfahren. Aber warum tötet jemand einenPĂ€dagogen, der wegen seiner SchĂŒlerfreundlichkeit allseits geschĂ€tztwar? Warum bringt jemand einen Chef um, der von all seinen Mitarbeiterngeachtet wurde?Zur Lösung seines dritten Falles begibt sich Kommissar Kellert in dieUntiefen des heutigen Schulwesens. Dass es sich dabei um ein kirchlichesGymnasium handelt, macht die Ermittlungen nicht leichter. Schule heute?Er selbst und die Leser werden ihre bisherigen EinschĂ€tzungen ĂŒberprĂŒfenmĂŒssen.

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Information

Publisher
Echter
Year
2018
Print ISBN
9783429053185
eBook ISBN
9783429064099
1.
„Nein, definitiv kein Verkehrsunfall!“ Dr. Werner Jacobs war seit sechzehn Jahren PolizeiprĂ€sident von Friedensberg, zustĂ€ndig fĂŒr den ganzen Landkreis. In fĂŒnf Jahren wĂŒrde er in den Ruhestand gehen, aber diese Perspektive lĂ€hmte seinen Arbeitseifer in keinster Weise. Friedensberg hatte eine der höchsten AufklĂ€rungsquoten in Deutschland, darauf war er stolz. Und das sollte sich unter seiner Ägide auch nicht mehr Ă€ndern.
Mittwochmorgen, acht Uhr dreißig. Jacobs hatte einige Mitarbeiterinnen und Kollegen zu einer Dienstbesprechung in seinem nĂŒchtern-zweckmĂ€ĂŸig eingerichteten BĂŒro versammelt. Er fuhr fort: „Erst dachten wir das natĂŒrlich auch. Ein Unfall bei Regen und Dunkelheit. Tragisch, aber nichts, womit wir uns befassen mĂŒssten. Aber dann 
“ Er nickte Polizeihauptmeister Peter BrĂ€ndel wortlos zu. BrĂ€ndel war am gestrigen Abend als zustĂ€ndiger Polizist am Tatort gewesen.
„Kein schöner Anblick, liebe Kollegen und“ – BrĂ€ndel beugte sich demonstrativ zur Kommissariats-SekretĂ€rin Lena Winter-Drexler und zu einer jungen Polizistin, die unauffĂ€llig am Rande der Tischrunde saß – „Kolleginnen. Das Opfer wurde mindestens dreimal ĂŒberrollt. Ohne Frage vom selben Fahrzeug. Von hinten und von vorn. Das war Absicht! Böse Absicht!“
„Außerdem“, mischte sich sein Chef wieder in das GesprĂ€ch, „haben wir das Auto ja gefunden 
“ Wieder ließ er den Satz ausklingen und blickte auffordernd zu seinem Mitarbeiter. Alle im Raum kannten diese Art von Impulsen. So war nun einmal der Kommunikationsstil ihres PrĂ€sidenten. So war er, der Dr. Jacobs. Wenn man ihn kannte, konnte man gut mit ihm auskommen.
Polizeihauptmeister Peter BrĂ€ndel war seit mehr als elf Jahren im Dienst. Er wusste, was von ihm erwartet wurde, schluckte die Unterbrechung hinunter und ergriff wieder das Wort: „Genau, das Tatfahrzeug stand drei Straßen weiter, in der Sackgasse beim Priesterseminar. Kellert, Sie kennen sich da ja aus. Der Motor lief noch, Licht eingeschaltet, ZĂŒndschlĂŒssel im Schloss, FahrertĂŒr weit offen, von Insassen natĂŒrlich keine Spur 
“
Wieder unterbrach ihn der PolizeiprĂ€sident: „Das werden wir ja noch sehen!“ Seine Mitarbeiter schauten ihn fragend an, deshalb erklĂ€rte er: „Na, ob es von den Insassen wirklich keine Spur gibt. Die KTU hat sich das Auto lĂ€ngst vorgenommen. Die werden schon etwas finden. Dann wissen wir mehr.“
Kommissar Bernd Kellert, zustĂ€ndig fĂŒr Verbrechen gegen Leib und Leben bei der Kriminalpolizei von Friedensberg, schaute skeptisch. Das entging auch seinem Chef nicht. „Oder, Herr Kellert? Sind Sie anderer Ansicht?“
„Nichts dagegen, wenn die etwas finden. Am liebsten gleich die entscheidende Spur zum TĂ€ter. Aber ich fĂŒrchte, das wĂ€re zu schön, um wahr zu sein“, entgegnete der hochgewachsene, kurzgeschorene immer noch sportlich-drahtig wirkende FĂŒnfzigjĂ€hrige nur. „Ob uns das wirklich weiterhilft, werden wir sehen. Ich bin skeptisch.“
„Skeptisch hin oder her, es ist jedenfalls Ihr Fall!“, raunte Dr. Jacobs Kellert zu. „Und heikel, das wissen Sie ja. Meine GĂŒte, Bertram Geißendörfner, der Chef vom KaReGe, vom Domgymnasium, der ist hier natĂŒrlich bekannt wie ein bunter Hund. Mitglied im Stadtrat, in vielen Vereinen, beim Rotary Club. Wir brauchen eine rasche AufklĂ€rung. Und diskret. Die Presse rennt mir ja jetzt schon die Bude ein.“
Kellert nickte bitter. Tolle Arbeitsbedingungen! Aber er konnte es sich natĂŒrlich nicht aussuchen. „Wer hat das Opfer gefunden?“, fragte er betont sachlich. „Eine Ă€ltere Dame aus der Nachbarschaft, die noch spĂ€t ihren Hund ausfĂŒhrte, trotz Wind und Wetter“, antwortete BrĂ€ndel nach einer fast unmerklichen Geste seines Vorgesetzten. „Aber die hat von dem Vorgang selbst nichts mitgekriegt. Und einen schweren Schock erlitten. Von der werden Sie kaum hilfreiche Informationen erhalten, Herr Kommissar.“
Peter BrĂ€ndel sprach Kollegen, die in der Polizei-Hierarchie ĂŒber ihm standen, grundsĂ€tzlich ‚per Sie‘ an. Kellert hatte ihm ĂŒber die langen Jahre der gelegentlichen Zusammenarbeit mehrfach das eigentlich ĂŒbliche ‚Du‘ angeboten, aber der Polizeihauptmeister hatte es immer wieder ausgeschlagen. Nun waren sie an diese Form der Anrede gewöhnt. „Weiß man denn, wem der Wagen, also das Tatfahrzeug, gehörte?“, mischte sich Kellerts Mitarbeiter, Kriminalhauptmann Dominik Thiele, in das GesprĂ€ch ein.
Peter BrĂ€ndel blickte zum PolizeiprĂ€sidenten. Der gab ihm erneut ein kaum wahrnehmbares, zustimmendes Signal, dann erst antwortete der Polizeihauptmeister: „Klar. Das haben wir selbstverstĂ€ndlich als Erstes gecheckt. Irgendeine alte Kiste, ein Toyota. Gehört einem der Lehrer des Gymnasiums. Der benutzt es aber wohl fast nie. Es steht auf dem Lehrerparkplatz herum, immer am gleichen Platz. Und der SchlĂŒssel liegt offen auf seinem Arbeitsplatz im Lehrerzimmer. Den kann jeder nehmen. Und darf das auch. So ist das da wohl ĂŒblich.“
Er blickte kurz in sein Notizbuch, las dann daraus vor: „‚Wenn du mal schnell ein Auto brauchst, nimmst du den alten Toyota vom Torsten. So haben wir das alle gemacht.‘ Sagt eine seiner Kolleginnen, mit der ich gestern Abend noch gesprochen habe.“ Kellert blickte ihn fragend an. Dieses Mal antwortete der Polizeihauptmeister direkt: „Da war Lehrersport, im Gymnasium. Volleyball. Da habe ich zwei der so spĂ€t noch anwesenden Kolleginnen sprechen können.“
Kellert nickte. „Und 
 Torsten?“ BrĂ€ndel antwortete sofort: „Torsten Bedlinger. Mathelehrer. Muss ein ziemliches Original sein, wenn ich das richtig verstanden habe.“ Kellert zuckte zusammen: „Der Bedlinger!? Ach je, wenn das wirklich der ist 
“ Nun schauten die Kollegen ihn fragend an. Auch Dr. Jacobs.
„Eine meiner Nichten, Julia, hatte zwei Jahre lang bei dem Unterricht. Und der ist, wie sie sagte, ein unglaublicher Chaot. ‚Total verpeilt‘, so hat sie den beschrieben. PĂ€dagogisch völlig unfĂ€hig. Einmal hat er kurz vor den Sommerferien einen Klausurtermin schlicht und einfach vergessen. Die SchĂŒler mussten die Arbeit an einem Samstag nachschreiben. Die waren vielleicht begeistert! Wegen dem hat Julia nie einen Zugang zu Mathe gefunden.“ Er ĂŒberlegte: „Gut, zumindest auch wegen dem. Aber ĂŒber den hat man schon die ein oder andere Story gehört. Pfff. Na ja, solche Lehrer gibt es an jeder Schule 
“
„Wie dem auch sei“, unterbrach PolizeiprĂ€sident Dr. Jacobs seinen Kommissar, der eigentlich kein Mann der langen Rede war. „Sie werden sich an der Schule umhören mĂŒssen, Kellert. Am Domgymnasium. Und das Privatleben von Dr. Geißendörfner durchleuchten. Und seine Verbindungen hier in Friedensberg!“, zĂ€hlte der Dienststellenleiter die anstehenden Aufgaben auf. Als ob Kellert das nicht alles wĂŒsste. „Los, Dominik, auf!“, grimassierte er in Richtung seines Mitarbeiters.
Kriminalhauptmann Dominik Thiele druckste herum, zögerte, tappte verlegen von einem Fuß auf den anderen. Seltsam, das entsprach nicht seinem normalen Verhalten. Kellert schaute ihn verwundert von der Seite an. Beim Verlassen des Dienstzimmers stammelte Thiele: „Äh, Chef!?“
„Ja?“, fragend blickte Kellert seinen Mitarbeiter an. Nach mehr als vierjĂ€hriger Zusammenarbeit kannten sie sich gut, waren menschlich und dienstlich ein bestens eingespieltes Team. „Was ist denn los?“, fragte er, als er bemerkte, dass sein Mitarbeiter nicht recht mit der Sprache herausrĂŒcken wollte. Schließlich rang dieser sich doch die Frage ab: „Kann ich vielleicht andere Arbeiten ĂŒbernehmen? Ich wĂŒrde nur höchst ungern da im KaRaGe auftreten.“ Bernd Kellerts VerblĂŒffung stieg. „Warum das denn?“, fragte er irritiert nach.
Dominik Thiele, ein sportlicher, durchtrainierter, normalerweise keineswegs wortkarger Mittdreißiger, noch etwas grĂ¶ĂŸer als sein Chef, suchte sichtlich nach Worten. „Weil die Ena da doch jetzt unterrichtet! Wie sieht das denn aus, wenn ich als ihr Ehemann da herumschnĂŒffele? Sie hat doch auch nur einen Jahresvertrag. Ich will ihr da nichts kaputtmachen 
“
Richtig! Bernd Kellert tippte sich mit den Fingerspitzen der rechten Hand an den Kopf. Dominik Thiele hatte letztes Jahr geheiratet. Und seine Frau Verena hatte am KaRaGe ihr Referendariat absolviert, aber dann trotz glĂ€nzender Examensnoten im ganzen Bundesland keine Planstelle gefunden. So war das zurzeit. Die Kultusministerien stellten einfach keine Gymnasiallehrer ein, auch wenn an den Schulen durchaus Bedarf bestand. Bestens qualifizierte Leute standen auf der Straße, zogen in ein anderes Bundesland, wo es Jobangebote gab, oder hielten sich mit ÜbergangsvertrĂ€gen ĂŒber Wasser.
So auch Verena. Über ihren Mann war sie mehr oder weniger an den Raum Friedensberg gebunden. Aber ihre Noten waren so gut, dass sie darauf hoffen konnte, frĂŒher oder spĂ€ter doch noch hier verbeamtet zu werden. Sie hatte sich so gut in das KaRaGe eingebracht, dass man ihr eine Perspektive aufzeigen konnte. ZunĂ€chst hatte sie einen Zeitvertrag ĂŒber eine Dreiviertelstelle erhalten, daraus sollte aber möglichst bald mehr werden.
„Hm, das kann ich verstehen“, brummte Kellert nach lĂ€ngerem Nachdenken. „Das wĂ€re wirklich eine ungute Rollenkollision. Ehemann einer Kollegin der zu Befragenden und gleichzeitig ermittelnder Kriminalbeamter vor Ort? Nein, das geht nicht. Aber was sollen wir tun? Ich brauche dich da!“
„Ich könnte ja alle Hintergrundrecherchen ĂŒbernehmen. Und GesprĂ€che außerhalb der Schule fĂŒhren. Und an das KaRaGe nimmst du die Hannah mit!“, schlug Thiele vor. „Hannah?“ Kellert blickte verwundert. „Na, Hannah, Frau Mellrich, die PKA!“, entgegnete Thiele. Richtig, seit zwei Wochen war Hannah Mellrich ihnen als Polizeikommissars-AnwĂ€rterin zugeteilt worden. Furchtbares Wort. Aber so war nun einmal das Beamten-Deutsch. Sie war bei der von Dr. Jacobs anberaumten Besprechung als zweite Frau mit im Raum gewesen, hatte sich aber völlig ruhig verhalten.
Kellert hatte sie bislang eher ignoriert, hatte kaum mit ihr gesprochen. Offensichtlich im Gegensatz zu Thiele, der sie bereits beim Vornamen nannte. Klar, sie war hĂŒbsch und jung. Kellert selbst war die Zusammenarbeit mit Kolleginnen nur wenig vertraut. Sicherlich, mit der Kommissariats-SekretĂ€rin Lena Winter-Drexler kam er bestens aus, aber sie war ja auch eher eine Zu- als eine Mitarbeiterin. Doch im tĂ€glichen Zusammenspiel der Alltagsarbeit? Ob das funktionieren könnte?
‚Bernd, alter Chauvi‘, hörte er plötzlich die Stimme seiner Frau Beate. Sie waren schon so lange verheiratet, mehr als fĂŒnfundzwanzig Jahre, dass er sich ihre Worte und den Tonfall sofort vorstellen konnte. Als wĂŒrde er ihre Stimme tatsĂ€chlich hören. Er seufzte. „Okay, so machen wir das. Es gefĂ€llt mir zwar nicht, aber was soll’s? Ich frage Frau Mellrich, ob sie mich begleitet, du bleibst im Hintergrund.“
Kellert strich sich nachdenklich ĂŒber das glattrasierte Kinn. „Vielleicht kann uns Verena ja sogar den ein oder anderen Hinweis geben. Sie kennt die Schule von innen. Das kann sich als großer Vorteil erweisen. Den wir auf keinen Fall aufs Spiel setzen wollen. Also: Zumindest versuchen wir es so! Du bleibst im Gymnasium außen vor. Ungewohnt wird das fĂŒr mich schon, ohne dich.“
Der Kommissar schmunzelte. „Ja, so ist das: Ich habe mich gut an unsere Teamarbeit gewöhnt“, grinste er seinen Mitarbeiter an. „Aber versprechen kann ich nichts. Wenn es nicht anders geht, musst du dann eben doch mit ans KaRaGe!“ Kellert ĂŒberlegte kurz und legte sich dann fest: „Heute ĂŒbernimmst du jedenfalls die Familie von diesem Dr. Geißendörfner. Er war verheiratet, das weißt du ja. Das wird also nicht ganz einfach.“
2.
Ruhig, zĂŒgig und sicher steuerte PKA Hannah Mellrich den Dienst-BMW durch die engen Straßen der Friedensberger Innenstadt. Nicht ganz so souverĂ€n fĂŒhlte sie sich. Endlich hatte der fĂŒr sie zustĂ€ndige Kommissar sie einmal direkt angesprochen. Aber er war ihr nicht ganz geheuer, dieser Bernd Kellert. Schweigsam ihr gegenĂŒber. Und ruppig, vielleicht aus Unbeholfenheit. Dass er mit Dominik Thiele bestens harmonierte, hatte sie in den zwei Wochen auf der Dienststelle bereits mehrfach beobachten können. Aber sie selbst hatte er einfach ignoriert. Sie konnte sich auf sein Verhalten ihr gegenĂŒber keinen rechten Reim machen.
Aber jetzt waren sie zu zweit unterwegs: Hannah Mellrich, siebenundzwanzig Jahre alt, kurzer blonder Haarschnitt, ehrgeizig, und er: der FĂŒnfzigjĂ€hrige, Erfahrene, Unnahbare. „Überlassen Sie mir das Reden!“, ermahnte er sie, wĂ€hrend sie in die hohen Vorhallen des KaRaGe eintraten. Sie nickte. Aber was sollte sie dann hier? Kellert bemerkte ihre unausgesprochene Frage, schmunzelte kaum merklich und fĂŒgte hinzu: „Aber ich brauche Ihre Beobachtungen. Schauen Sie genau hin! Hören Sie auf die Zwischentöne! Nichts darf uns entgehen. Sie wissen schon: Vier Augen sehen mehr, vier Ohren hören mehr.“ Das klang schon besser.
Die seit etwas mehr als zwanzig Jahren Karl-Rahner-Gymnasium genannte Schule war das traditionsreichste Gymnasium vor Ort. Jahrhundertelang hatte es nur ‚das Domgymnasium‘ geheißen. Ältere BĂŒrger von Friedensberg nannten es immer noch so. JĂŒngere meistens bei der AbkĂŒrzung KaRaGe. Von den Jesuiten kurz nach der Reformation gegrĂŒndet, hatte hier in fast fĂŒnf Jahrhunderten die Bildungselite Friedensbergs ihre schulische Ausbildung erhalten. Bis in die 1970er Jahre war die Schule ausschließlich mĂ€nnlichen SchĂŒlern vorbehalten gewesen.
Seitdem gab es auch SchĂŒlerinnen. Vieles hatte sich allein dadurch geĂ€ndert. FrĂŒher war man stolz darauf, immer wieder Abiturienten an das nahe Priesterseminar weiterzureichen. UngezĂ€hlte Friedensberger Priester und fĂŒnf Bischöfe waren zuvor SchĂŒler am Domgymnasium gewesen. Heute stand das Gymnasium immer noch unter kirchlicher TrĂ€gerschaft. Aber das religiöse Leben prĂ€gte die Schule nur noch zu einem geringen Teil, so wie Religion insgesamt immer weniger Bedeutung fĂŒr das Leben der Menschen hatte. Trotzdem: Das KaRaGe, das Domgymnasium, hatte immer noch einen ausgezeichneten Ruf. Weit ĂŒber Friedensberg hinaus.
„Wir haben einen Termin im Direktorat“, erklĂ€rte Kellert, aber das wĂ€re nicht nötig gewesen. Eine junge Frau hatte sie am Haupteingang des Gymnasiums erwartet. Neben ihr stand schweigend der an seinem Blaumann unschwer erkennbare Hausmeister, ein hochgewachsener, krĂ€ftiger Ă€lterer Mann mit großem, buschigen Oberlippenbart. ‚Das Gesicht kenne ich doch irgendwoher‘, dachte Kellert. ‚Zumindest erinnert es mich an jemanden, den ich kenne. Aber an wen?‘
„Svenja Kaiser“, hatte sich die junge Frau vorgestellt und „Deutsch und Englisch“ hinzugefĂŒgt, als markiere das ihre Persönlichkeit. ‚Kaum Ă€lter als Jenny!‘, dachte der Kommissar, wĂ€hrend ihm als Vergleich das Bild seiner noch studierenden Tochter durch den Kopf blitzte. Wortlos und mit undurchschaubarer Miene zog sich der Hausmeister zurĂŒck. Die junge Lehrerin aber nahm den GesprĂ€chsfaden auf und erwiderte: „Ich weiß, wer Sie sind. Die Herrschaften von der Kriminalpolizei. Ich soll Sie empfangen und begleiten, kommen Sie bitte!“
‚Herrschaften!‘, dachte Hannah Mellrich. ‚So bin ich ja auch noch nicht angesprochen worden!‘ Aber sie verkniff sich eine Bemerkung. Zu dritt schritten sie durch die hohen, breit gemauerten HallengĂ€nge. Es war erstaunlich still, nur hinter den TĂŒren rechts und links konnte man immer wieder gedĂ€mpfte GerĂ€usche hören. Sobald das Pausenzeichen ertönte, wĂŒrden kreischende SchĂŒlermassen die GĂ€nge fĂŒllen. So war das zumindest normalerweise. Das wussten die beiden Polizisten noch zu gut aus ihren eigenen SchĂŒlerzeiten. Und Kellert kannte es noch aus den Schilderungen seiner beiden lĂ€ngst erwachsenen Kinder.
Immer wenn er selbst Schulen betrat, fĂŒhlte er sich seltsam beklommen. Als raubte ihm jemand heimtĂŒckisch sein Selbstvertrauen und seine berufliche wie private Routine und Erfahrung. Ihm war, als wĂŒrde er hier stĂ€ndig beobachtet, und als könne er den Beobachtungsblicken nie genĂŒgen.
Kellert war sich natĂŒrlich bewusst, dass das mit seinen eigenen Erfahrungen als SchĂŒler zusammenhing. Er war ein durchschnittlicher SchĂŒler gewesen, nicht schlecht, nicht gut. Das hatte ihn alles irgendwie nicht interessiert, was man ihm da vorsetzte. Ein Mitschwimmen im trĂ€gen Strom des Unterrichts hatte gereicht, um ihm das Abitur zu ermöglichen. Nicht hier am KaRaGe, das zu seiner Zeit einfach nur ‚Domgymnasium‘ geheißen hatte, sondern am staatlichen Gymnasium von ...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titelblatt
  3. Urheberrecht
  4. Ende
  5. 1. Kapitel
  6. 2. Kapitel
  7. 3. Kapitel
  8. 4. Kapitel
  9. 5. Kapitel
  10. 6. Kapitel
  11. 7. Kapitel
  12. 8. Kapitel
  13. 9. Kapitel
  14. 10. Kapitel
  15. 11. Kapitel
  16. 12. Kapitel
  17. 13. Kapitel
  18. 14. Kapitel
  19. 15. Kapitel
  20. 16. Kapitel
  21. 17. Kapitel
  22. 18. Kapitel
  23. 19. Kapitel
  24. 20. Kapitel
  25. 21. Kapitel
  26. 22. Kapitel
  27. 23. Kapitel
  28. 24. Kapitel
  29. 25. Kapitel
  30. 26. Kapitel
  31. 27. Kapitel
  32. 28. Kapitel
  33. 29. Kapitel
  34. 30. Kapitel
  35. 31. Kapitel
  36. 32. Kapitel
  37. 33. Kapitel
  38. 34. Kapitel
  39. 35. Kapitel