Schweizer Heldengeschichten - und was dahintersteckt
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Schweizer Heldengeschichten - und was dahintersteckt

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Schweizer Heldengeschichten - und was dahintersteckt

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Fremde Vögte - immerwĂ€hrende NeutralitĂ€t - Sonderfall in Europa: Mythen eröffnen ZugĂ€nge zur Geschichtskultur der Vergangenheit und drĂŒcken das historische Selbstbewusstsein einer Gemeinschaft aus. Sie sind aber auch ein beliebtes Reservoir fĂŒr Vereinfachungen und Halbwahrheiten im Kampf um politische WĂ€hleranteile. Thomas Maissen, der 2010 mit seiner "Geschichte der Schweiz" einen Grosserfolg landete, blickt in 15 Kapiteln nĂŒchtern auf die Schweizer Heldengeschichten, auf Bundesschwur und RĂ©duit, auf freiheitliche und humanitĂ€re Traditionen und die Willensnation. Er erklĂ€rt, wie diese Schlagworte historiografisch entstanden sind und was wir heute ĂŒber das reale geschichtliche Umfeld wissen. Er bietet damit Orientierung in einer Zeit, in der die Schweiz ihre Geschichtsbilder hinterfragen muss, wenn sie nicht Gefahr laufen will, dass die öffentliche Erinnerung in Konflikt zur Wissenschaft und zur Wahrnehmung im Ausland gerĂ€t.

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Information

Year
2015
Print ISBN
9783039193400

1

Der Bund von 1291

«Der Gotthard steht in höchstem Masse fĂŒr die schweizerische UnabhĂ€ngigkeit und Freiheit. Er ist Symbol und Mahnmal zugleich. Es ist kein Zufall, dass die Geburtsstunde unseres Landes – der Bundesbrief von 1291 – hier in der NĂ€he, auf dem RĂŒtli – einer kleinen abgelegenen Wiese – beschlossen und beglaubigt wurde.»49
Der Bund von 1291 wurde nicht auf dem RĂŒtli beschworen. Jedenfalls ist es sehr unwahrscheinlich, dass die fĂŒhrenden MĂ€nner von Uri, Schwyz und Nidwalden (Obwalden gehörte diesem Bund nicht an) eine mĂŒhsame Reise zu einer abgelegenen Wiese in Kauf nahmen, wenn sie sich auch in einer Siedlung treffen konnten. Verstecken mussten sie sich nicht: Ihr Bund war keine heimliche Verschwörung wie der RĂŒtlischwur, den Friedrich Schiller dichterisch ĂŒberhöhte. Selbst wenn es den RĂŒtlischwur je gegeben hĂ€tte, so hatte er mit dem Bund von 1291 nichts zu tun. Schillers Vorlagen wussten nichts vom 1291er-Bund: Weder der AufklĂ€rer Johannes von MĂŒller erwĂ€hnte ihn, ebenso wenig dessen Quelle, der Humanist Aegidius Tschudi, und auch nicht der Tschudi vorliegende Text, das vom Kanzleischreiber Hans Schriber verfasste, spĂ€tmittelalterliche Weisse Buch. Dort fehlte ein Datum fĂŒr den RĂŒtlischwur, den Tschudi – der um die suggestive Kraft prĂ€ziser Daten wusste – dann auf den «Mittwoch vor Martini», also den 8. November 1307 datierte, worin ihm v. MĂŒller folgte. Der RĂŒtlischwur, «davon die eidtgnoschafft entsprungen» (Tschudi), war aber kein Bundesbrief.50
Die Bundesbriefe ihrerseits waren ebenso wenig ein Ansatz zur Staatsbildung wie die englisch-französische Entente cordiale von 1904 oder die NATO. LandfriedensbĂŒndnisse gab es im spĂ€ten Mittelalter sehr viele, nicht nur, aber oft zwischen StĂ€dten. Das berĂŒhmteste und langlebige Beispiel war die Hanse. ZĂŒrich und Basel, zum Teil auch andere spĂ€ter schweizerische StĂ€dte gehörten beispielsweise zum Rheinischen Bund (1254–1257), zum sĂŒdwestdeutschen StĂ€dtebund (1327) und zum SchwĂ€bischen StĂ€dtebund (1376–1389). FĂŒr alle derartigen ZusammenschlĂŒsse war charakteristisch, dass verschiedene HerrschaftstrĂ€ger in einer Zeit ohne staatliches Gewaltmonopol gemeinsam und ĂŒberlokal Frieden und Sicherheit garantieren wollten. DafĂŒr verpflichteten sie sich eidlich zu gegenseitiger Hilfe gegen aussen oder bei der Durchsetzung von Urteilen. Schiedsgerichte und andere Verfahren sollten verhindern, dass Konflikte durch Fehde ausgetragen oder auswĂ€rtige GewalttrĂ€ger herangezogen wurden. Es ging nicht um kollektive Verteidigung von demokratischer Freiheit, die es um 1300 in der Innerschweiz ebenso wenig gab wie anderswo. Das Ziel der tonangebenden Adligen und Grossbauern war die Sicherung ihrer eigenen Herrschaftsrechte und Handelswege in einem regionalen Verbund. Die Rechte von anderen VerbĂŒndeten und jene des ĂŒbergeordneten Königs im Reich wurden dabei jeweils vorbehalten, ebenso die freie BĂŒndniswahl – die Allianzen waren nicht exklusiv, sondern eher kumulativ, sodass sie eigentliche Netzwerke bilden konnten, die aber nicht von Dauer waren. Ihre Verdichtung und Verfestigung erfolgte auch in der spĂ€teren Schweiz nur in einem jahrzehntelangen Prozess, wobei die Konkurrenz zu den Habsburgern seit der Schlacht von Sempach (1386) und vor allem seit der Eroberung des Aargaus (1415) einigend wirkte: Die damals Acht Orte verwalteten und verteidigten die Beute als Gemeine Herrschaft gemeinsam. Sie schlossen auch die Zugewandten Orte oder spĂ€ter aufgenommene Kantone von der Herrschaft und den ErtrĂ€gen derjenigen Territorien aus, bei deren Eroberung sie nicht mitgewirkt hatten.
Erst nach der Krise des Alten ZĂŒrichkriegs erhielt diese eine, Achtörtige Eidgenossenschaft allmĂ€hlich exklusiven Charakter, sodass man fortan von einer «Aufnahme» von neuen Mitgliedern reden kann. Bis zur konfessionellen Spaltung waren die Grenzen noch sehr flĂŒssig zwischen dem inneren Kern der Eidgenossen und den Zugewandten Orten, die oft gleichsam in einer Warteposition dem Beitritt entgegensahen und mit eigenen Kontingenten an den militĂ€rischen Expeditionen teilnahmen. Das galt im 15. Jahrhundert insbesondere fĂŒr Solothurn und Appenzell. Die StĂ€dte Schaffhausen und St. Gallen schlossen 1454 einen Bund mit sechs Orten, ohne Uri und Unterwalden. Alle acht Orte verbanden sich 1463 mit dem schwĂ€bischen Rottweil, und 1466 bildeten Bern und Solothurn eine Allianz mit dem elsĂ€ssischen MĂŒlhausen. Das HĂŒpsch Lied vom Ursprung der Eydgnoschaft listete 1477, im Zeitalter der Burgunderkriege, zuerst die acht Orte auf, die «vest und weiss» seien, bestĂ€ndige und weise, fromme Glieder des Bundes. Die «rechte Eydgnoschafft» reiche aber weiter: «Solothurn ein alter stamm», Freiburg, Biel, Appenzell, Schaffhausen, Stadt und Abt St. Gallen. «Strasburg gehörtt auch in den pund», ebenso weitere ElsĂ€sser StĂ€dte wie Colmar und Schlettstadt, aber ebenso die Herzöge von Österreich, Lothringen und Mailand.51 Das war die momentane Allianz, die gegen Karl den KĂŒhnen antrat. Sie umfasste Habsburger und andere Herzöge, und nirgends stand geschrieben, dass ein KirchenfĂŒrst wie der St. Galler Abt nicht mehr werden konnte als der nĂ€chste und ranghöchste Zugewandte Ort, protokollarisch gleichsam der 14. Kanton der Alten Eidgenossenschaft. Gerade weil die BĂŒndnisse situationsbezogen waren und fĂŒr viele Entwicklungen offen blieben, ist die Rede – im HĂŒpschen Lied – vom «Ursprung» oder spĂ€ter von der «GrĂŒndung» der Eidgenossenschaft irrefĂŒhrend, denn es handelte sich um einen Verdichtungsprozess von verschiedenen Polen her.
Das lag nicht zuletzt daran, dass kein Reichsstand, und damit auch nicht die kĂŒnftigen schweizerischen Kantone, seine Herrschaft kollektiv aus solchen BĂŒnden hergeleitet hĂ€tte. Die ersten, zeitgenössischen ZĂŒrcher Chroniken erwĂ€hnten den Bund von 1351 mit den WaldstĂ€tten ebenso wenig wie Justinger deren ersten Bund mit Bern (1323); derjenige von 1353 fehlte am sachlich-chronologisch richtigen Ort und wurde erst spĂ€ter nachgetragen.52 Die Staatlichkeit der einzelnen Orte grĂŒndete nicht in ihren BĂŒndnissen, sondern in ihren individuellen Reichsprivilegien. Darin gewĂ€hrte der König (oder Kaiser) des Heiligen Römischen Reichs Vorrechte, die legitime Herrschaft erst schufen. Besonders wichtig waren Privilegien im Bereich der Rechtsprechung, etwa das Blutgericht (das mit Todesstrafen enden konnte) oder die Zusage, dass Gerichtsurteile nicht durch Appellationen an andere Gerichte in Frage gestellt werden konnten. FĂŒr ihre geleisteten Dienste oder Geldzahlungen erwarben die meisten zukĂŒnftigen Orte den umfassenderen Status eines Reichsstands, der dem König und dessen Schutz unmittelbar unterstand. Die frĂŒheste erhaltene BestĂ€tigung dieser «Reichsfreiheit» erhielt Schwyz 1240; in den anderen Orten fallen die Freiheitsbriefe zumeist in das 14. und 15. Jahrhundert. Zumindest vorĂŒbergehend erlangten auch andere HerrschaftstrĂ€ger in der heutigen Schweiz Reichsfreiheit: so Hasli, Frutigen und Guggisberg, spĂ€ter Baden, Bremgarten und Mellingen. Die Beispiele zeigen, dass Reichsfreiheit nicht unbedingt davor bewahrte, vom mĂ€chtigen Nachbarn annektiert zu werden.
Die Bedeutung der königlichen Privilegien zeigte sich darin, dass sie sorgfĂ€ltig aufbewahrt wurden und, als Ausweis der Herrschaftsrechte, auch aufbewahrt werden mussten. Bei BĂŒndnissen war das anders. Der Vertrag von 1291 ging bald vergessen, spĂ€testens nachdem 1315, im Anschluss an die Schlacht bei Morgarten, ein neuer, in Brunnen beschworener Bundesbrief Uri, Schwyz und Unterwalden umfasste, fĂŒr die 1309 erstmals die Kollektivbezeichnung «WaldstĂ€tte» ĂŒberliefert ist. Immerhin blieb das Dokument von 1291 erhalten, anders als die Urkunde eines in seinem Text erwĂ€hnten frĂŒheren BĂŒndnisses. 1758 wurde es wieder entdeckt und 1760 erstmals gedruckt, weckte aber vorerst kein besonderes Aufsehen. Das geschah auch erst einige Zeit nach der zweiten Edition durch Joseph Eutych Kopp im Jahr 1835. FĂŒr Kopp selbst war das BĂŒndnis nicht grundlegend, da er den Innerschweizer Konflikt mit den Habsburgern erst – durchaus zutreffend – im Vorfeld des Morgartenkriegs ortete.
Die liberale Nationalgeschichtsschreibung sah dann in der Urkunde von 1291 den «Stiftungsbrief der schweizerischen Eidgenossenschaft», wie es Wilhelm Oechsli 1891 festhielt.53 Diese EinschĂ€tzung war bei einem reformierten ZĂŒrcher Geschichtsprofessor nicht selbstverstĂ€ndlich, denn es gab 1291 auch ein anderes BĂŒndnis, das am 16. Oktober Schwyz und Uri zum gegenseitigen Schutz schlossen und zwar mit – ZĂŒrich! Es war allerdings auf drei Jahre befristet und nicht, wie die Allianz vom August, auf «ewig» geschlossen, was so viel bedeutete wie «unbefristet».54 Vor allem fokussierte der auch inhaltlich knappere Bund vom Oktober nicht auf die WaldstĂ€tte, die sich seit der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts programmatisch als «Urschweiz» bezeichneten. Das entsprach dem Bild, das im 15. Jahrhundert entstanden war und die nationale Geschichte als Reihe von Beitritten zu einem ursprĂŒnglichen Bund verstand.
Vom «Stiftungsbrief» sprach Oechsli nicht zufĂ€llig in dem Jahr, in dem erstmals am 1. August offiziell des Bundesbriefs gedacht wurde, und zwar im Sinn einer GrĂŒndungsakte. Der Aufschwung der Geschichtsschreibung als wissenschaftlicher Disziplin hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass sie den neu entstehenden Nationalstaaten ihre möglichst weit ins Mittelalter zurĂŒckreichenden Wurzeln nicht mehr mit legendĂ€ren Überlieferungen, sondern mit Originalquellen, namentlich Urkunden, belegte und einordnete. Im Fall der Schweiz war dies zusĂ€tzlich verzwickt, weil der Nationalstaat in einem BĂŒrgerkrieg zwischen liberalen Nationalisten und konservativen Föderalisten erkĂ€mpft worden war. Die Wunden des Sonderbundskriegs von 1847 waren am Ende des Jahrhunderts bei den Innerschweizer Verlierern noch kaum vernarbt. Zudem hatten der liberale Kulturkampf gegen die «ultramontane», auf die römische Kurie ausgerichtete katholische Kirche und die neue Bundesverfassung von 1874 mit ihren konfessionellen Sonderartikeln sie wieder aufgerissen. Insofern war es sehr symboltrĂ€chtig, dass dieser liberale Bundesstaat das Jahr 1848 stets vernachlĂ€ssigte, wenn es seine AnfĂ€nge zu feiern galt – als liberal-nationalen GrĂŒndungsakt, wie ihn fĂŒr die USA 1776 darstellte, fĂŒr Frankreich 1789, fĂŒr Italien 1860 oder fĂŒr Deutschland 1871. Auch die moderne Schweiz entstand durch Revolutionen, zuletzt durch den illegalen Bruch mit dem völkerrechtlichen Bundesvertrag von 1815: Dessen Revision 1847/48 hĂ€tte Einstimmigkeit der vertragschliessenden, souverĂ€nen Kantone erfordert. Trotz oder gerade wegen dieser illegitimen Geburt folgte die liberale Schweiz in ihrem Geschichtsbild dem Beispiel Grossbritanniens, wo mit der Magna Charta die vormodernen, kollektiven und stĂ€ndischen Freiheitsrechte gefeiert wurden, nicht die individualistischen Grundrechte der Moderne.
Die Gedenkfeier fĂŒr das 600-jĂ€hrige Bestehen der Eidgenossenschaft wurde relativ kurzfristig, 1889, zuerst in Bern angeregt, der Haupt- oder vielmehr Bundesstadt des neuen Nationalstaats. Dort wollte man den Anlass mit der 700-Jahr-Feier der eigenen Stadt zusammen begehen. Das Vorhaben stiess in der Presse durchaus auf Kritik, weil es «einen zu archivarischen Charakter» habe; die Feier sei «keine Naturblume, keine Alpenrose, in den Bergen gewachsen, sondern ein ZimmergewĂ€chs der Gelehrten- und Beamtenstube».55 In den Alpen sah man das anders, wollte aber diesen Anlass nicht der urbanen, protestantischen Schweiz ĂŒberlassen, die im Bund von 1291 nicht vorkam. Dieser verwies auf die drei Urkantone und vor allem auf Schwyz, wo das einzige erhaltene Exemplar des Bundesbriefs aufbewahrt wurde; allerdings noch nicht im erst 1936 errichteten Bundesbriefarchiv. Schwyz, die Gemeinde, stach nicht nur Bern aus, sondern auch die kantonalen MitbĂŒrger in Brunnen, das als BĂŒndnisstĂ€tte von 1315 ursprĂŒnglich und bis weit ins 19. Jahrhundert im Vordergrund gestanden hatte. Auch der Bundesschwur auf dem Umschlag dieses Buches, eine auf 1578 datierte Federzeichnung in einer Abschriftensammlung des Chronisten Christoph Silberysen, illustrierte diesen Bund von 1315. Sein Text wurde im Unterschied zu demjenigen von 1291 bereits im 14. Jahrhundert wiederholt abgeschrieben, also von den Zeitgenossen als grundlegend angesehen. FĂŒr Brunnen sprach zudem seine NĂ€he zum bereits mythischen RĂŒtli auf der gegenĂŒberliegenden Seeseite. Das brachte allerdings auch Schwierigkeiten mit sich: Das RĂŒtli gehört zu Uri, und fĂŒr die Urner ging die Schweiz, in Übereinstimmung mit Aegidius Tschudi, auf 1307 als Jahr des RĂŒtlischwurs zurĂŒck. TatsĂ€chlich hatte die Tagsatzung 1807, damals allerdings ohne viel Aufheben, des «fĂŒnften Jubeljahrs der alten Schweizerischen Freyheit» gedacht.56 1891 hingegen stritten sich die beiden Urkantone, weil das Schwyzer Festprogramm den eigenen Beitrag zur Schweizergeschichte allzu exklusiv hervorhob; Tell erhielt bloss eine Statistenrolle. Entsprechend trotzig trĂ€gt in Altdorf seit 1895 die von Richard Kissling geschaffene Statue von Tell mit Sohn auf dem Sockel die Jahreszahl 1307. 1907 feierten die Urner folgerichtig 600 Jahre RĂŒtlischwur, mit prominenter Beteiligung von freisinnigen BundesrĂ€ten.
In der «Urschweiz» war also das GrĂŒndungsdatum noch lange Zeit strittig: 1291 fĂŒr die Gemeinde Schwyz, 1307 fĂŒr Uri, 1315 fĂŒr Brunnen. Die liberale Mehrheit im Bund spielte gleichsam den Schiedsrichter, der sich fĂŒr das möglichst weit zurĂŒckliegende und urkundlich in Schwyz belegte Datum 1291 entschied. Gemeinsam freuen konnten sich gleichwohl alle Innerschweizer ĂŒber ein Geschichtsbild, das die Verlierer von 1847 im Zentrum der ErzĂ€hlung beliess, wie es das Weisse Buch und Aegidius Tschudi beschrieben hatten. Demnach hatten sich die WaldstĂ€tte zusammengeschlossen, um die habsburgischen Usurpatoren zurĂŒckzuweisen; von diesen bedrĂ€ngt, habe danach ein Ort nach dem anderen Anschluss gesucht an den Bund, der so als antihabsburgisches, freiheitliches VerteidigungsbĂŒndnis gross und dauerhaft geworden und schliesslich genetisch in den Bundesstaat ĂŒbergegangen sei. Anfang und Kern des Schweizerbundes lagen also angeblich in den katholischen Gefilden, in denen der Widerstand gegen den Bundesstaat und dessen moderne Freiheiten seit jeher seine Bastionen hatte. Obwohl die Eidgenossenschaft erst dank den grossen, zusammenhĂ€ngenden Territorien der spĂ€ter reformierten Kantone ZĂŒrich und Bern die Voraussetzungen erlangte, um sich als europĂ€ischer Kleinstaat auf Dauer zu behaupten, wollte man um 1900 im frĂŒhesten belegten BĂŒndnis den Samen erkennen, aus dem der Schweizer Stamm erwuchs. Die vormoderne Landsgemeinde, nicht das liberale parlamentarische ReprĂ€sentativsystem war sein Symbol. TatsĂ€chlich wurde 1891 auch die Verfassungsinitiative eingefĂŒhrt, nachdem bereits seit 1874 das Referendum existierte und den Konservativen das Nein-Sagen erleichterte. Ihre Referendumsmacht hatte den weiteren Ausbau des Nationalstaats etwa im Bereich von Schule, MilitĂ€r oder Eisenbahnen blockiert. Auch deswegen wĂ€hlte, ebenfalls 1891, die freisinnig dominierte Bundesversammlung mit dem Luzerner Josef Zemp erstmals einen Katholisch-Konservativen in den Bundesrat, einen Vertreter der Verlierer von 1847. Deren Föderalismus drĂŒckte sich darin aus, dass die Feier am 1. August seither eine Bundesfeier ist und nicht ein Nationalfeiertag wie anderswo. Erinnert wird also an den bĂŒndischen Zusammenschluss von autonomen Kleinstaaten, den laut Bundesverfassung weiterhin souverĂ€nen Kantonen, die gleichrangig im StĂ€nderat vertreten sind – und nicht an die Nation von freien und gleichen BĂŒrgern, deren Stimmen im Nationalrat gleich viel wiegen.
Wenn das Jahr 1891 die AnnĂ€herung der Sonderbundsfeinde zumindest auf nationaler Ebene symbolisierte, dann zugleich auch die Abgrenzung des entstehenden BĂŒrgerblocks gegen die Arbeiterbewegung. Gewerkschaften und Sozialdemokraten feierten 1890 erstmals die 1. Mai-Feier, den die ein Jahr zuvor gegrĂŒndete Zweite Internationale als Kampftag der Arbeiterbewegung ausgerufen hatte. Dies war eine internationale Feier von bloss einer gesellschaftlichen Klasse; der 1. August dagegen eine nationale Feier, die alle Klassen umfassen und damit auch ihre GegensĂ€tze aufheben sollte in der gemeinschaftlichen Liebe zum Vaterland. Das AltbewĂ€hrte sollte Orientierung liefern in einer Zeit des schnellen und fĂŒr viele bedrohlichen Umbruchs in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Eine 1891 veröffentlichte Ausgabe der Bundesbriefe empfahl diese «fĂŒr die Schweizer Jugend» zur besseren LektĂŒre «als nur die FahrtenplĂ€ne der Eisenbahnen, den Kurszettel der Börse und die Preise von Baumwolle, Sprit und Petroleum».57 Hierin bestand der ideologische Kompromiss, der Konservative und Liberale einte: Die ewige Schweiz war der gemeinsame Bezugspunkt, obwohl sie fĂŒr Erstere ein in der Vergangenheit verankerter Schutzverband der althergebrachten kantonalen Freiheiten war, fĂŒr Letztere eine dank dem Nationalstaat dynamische Gestalterin der gemeinsamen Zukunft.

2

Wilhelm Tell

«Hier am Gotthard entstand unser schweizerischer Staatsmythos, der sogar ein doppelter ist: Die Geschichte vom EinzelgĂ€nger Wilhelm Tell, der zum Tyrannenmörder wurde. Und die Geschichte vom RĂŒtlischwur als Zeichen des Zusammenstehens, der Gemeinschaft – einer echten, der SolidaritĂ€t. Man kann viel AbschĂ€tziges hören und lesen ĂŒber die GrĂŒndungsgeschichte der schweizerischen Eidgenossenschaft. Das seien ja alles nur Mythen. Ja und?»58
Es ist nicht besonders originell festzuhalten, dass Wilhelm Tell nie existiert hat. Zwar gibt es Autoren, die sich in Publikationen mit dem alles sagenden Titel 
Und es gab Tell doch oder Wilhelm Tell – nicht umzubringen ĂŒber diese Frage ereifern können.59 Aber die Zweifel an seiner Existenz sind praktisch gleich alt wie sein literarisches Leben, das mit der ersten – 1507 in Basel – gedruckten Schweizer Geschichte, Petermann Etterlins Kronica von der loblichen Eydtgnoschaft, richtig einsetzte, nicht zuletzt dank den Illustrationen. Aegidius Tschudi brachte diese ErzĂ€hlung in der Mitte des 16. Jahrhunderts in die Form, die ĂŒber den AufklĂ€rer Johannes von MĂŒller und Friedrich Schiller auf uns gekommen ist. Bereits Tschudis Zeitgenosse, der St. Galler Humanist und Reformator Vadian, war skeptisch gegenĂŒber der GrĂŒndungssage. Der erzkatholische Freiburger Historiker Franz Guillimann erwĂ€hnte den ArmbrustschĂŒtzen zwar 1598 in seiner Schweizer Geschichte, meinte aber 1607 in einem vertraulichen Brief, es handle sich wohl um eine reine Fabel, fĂŒr die es keinerlei zeitgenössische Quellen gebe.60
Damals wussten die Gebildeten bereits, dass der dĂ€nische Historiker Saxo Grammaticus um 1210 in seiner Gesta Danorum die Geschichte des BogenschĂŒtzen Toko erzĂ€hlt hatte, die in wesentlichen Elementen die Tellensage vorwegnahm: Apfelschuss, zweiter Pfeil, Tyrannenmord im Wald. Gleichwohl war es ein Skandal, als der Ligerzer Pfarrer Uriel Freudenberger 1760 in Zusammenarbeit mit Gottlieb Emanuel von Haller, dem Berner Bibliografen, auf Deutsch und Französisch Der Wilhelm Tell. Ein DĂ€nisches MĂ€hrgen veröffentlichte. Uri liess den Henker das Werk öffentlich verbrennen und schenkte dem Luzerner Joseph Anton Felix Balthasar eine Goldmedaille fĂŒr seine Replik DĂ©fense de Guillaume Tell. Drei Jahrzehnte spĂ€ter wurde Tell ein Held der RevolutionĂ€re in Frankreich und ihrer aufklĂ€rerischen AnhĂ€nger auch in der Schweiz. Als Freiheitsheld schmĂŒckte er ab 1798 Fahne und Siegel der Helvetischen Republik. Doch deren föderalistische Gegner und Verteidiger des Ancien RĂ©gime beriefen sich genauso entschieden auf Tell als Symbol ihrer alten, kantonalen Freiheiten. Mit Ă€hnlichen Positionen stritten sich in der ersten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts Liberale und Konserv...

Table of contents

  1. Umschlag
  2. Haupttitel
  3. Inhalt
  4. Einleitung
  5. Zur EinfĂŒhrung: Grundlinien der Geschichtsschreibung ĂŒber die Schweiz
  6. 1 Der Bund von 1291
  7. 2 Wilhelm Tell
  8. 3 Die Erbfeindschaft der österreichischen Vögte
  9. 4 Ein einzig Volk von BrĂŒdern
  10. 5 Die faktische und die juristische UnabhÀngigkeit
  11. 6 Neutral seit Marignano
  12. 7 Ein Volk in Waffen
  13. 8 Die schreckliche Franzosenzeit
  14. 9 Die verleugnete Revolution
  15. 10 Willensnation
  16. 11 Direkte Demokratie
  17. 12 Die humanitÀre Tradition
  18. 13 Stachelschwein im Réduit
  19. 14 Schweizerische Freiheit
  20. 15 Die Schweiz – ein Sonderfall?
  21. Ausblick
  22. Anmerkungen
  23. Bibliografie der grundlegenden oder abgekĂŒrzt zitierten Literatur
  24. Zeittafel Schweizer Geschichte
  25. Namens- und Ortsregister
  26. Der Autor
  27. Weitere BĂŒcher
  28. Impressum