Ein Jahr zum Vergessen
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Ein Jahr zum Vergessen

Wie wir die Bildungskatastrophe nach Corona verhindern

Klaus Zierer

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Ein Jahr zum Vergessen

Wie wir die Bildungskatastrophe nach Corona verhindern

Klaus Zierer

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Eine der derzeit drängendsten Fragen zu den Folgen der Coronapandemie lautet: Welchen Einfluss haben Schulschließungen mit Distanzunterricht auf die Bildung der Millionen Schülerinnen und Schüler?AussagekräftigeUntersuchungen dazu werden hierzulande zu selten durchgeführt, vergleichende Leistungserhebungen gibt es kaum.Und dort, wo sie geplant waren, werden sie sogar noch abgesagt.So drängt sich die Frage auf, ob die Verantwortlichen überhaupt wissen wollen, was die Schulschließungen angerichtet haben.Der Erziehungswissenschaftler und Professor für Schulpädagogik Klaus Zierer hat daher eine Analyse der vorliegenden Daten aus vergleichbaren Ländern vorgenommen und kommt zu alarmierenden Befunden. Homeschooling und Unterrichtsausfall haben teilweise verheerende Auswirkungen nicht nur auf den Bildungsstand, sondern auch auf die körperliche und emotionale Verfassung von Schülerinnen und Schülern.Klaus Zierer erarbeitet konkrete Vorschläge, für die es höchste Zeit ist, soll eine Bildungskatastrophe abgewendet werden.

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Information

Publisher
Verlag Herder
Year
2021
ISBN
9783451825859
Edition
1

1. Die Coronapandemie und die Maßnahmen gegen sie aus pädagogischer Sicht

Seit geraumer Zeit hält die Coronapandemie die Welt in Atem. Die ergriffenen Maßnahmen wirken nicht immer wie erhofft und ziehen Kollateralschäden nach sich, die nicht unbeachtet bleiben dürfen. Denn bei aller Dringlichkeit, die Gesundheit der Menschen zu schützen: Gesundheit hat neben der körperlichen Unversehrtheit auch eine psychische und soziale Komponente, und alle drei hängen voneinander ab. Ein Mensch beispielsweise, der körperlich gesund ist, kann dennoch krank sein, wenn er psychische Leiden hat oder sozial isoliert ist – das Umgekehrte gilt natürlich entsprechend. Nicht selten führt dann eine Krankheitserscheinung in den genannten Bereichen dazu, dass die Gesundheit des Menschen insgesamt Schaden nimmt: Aus körperlicher Versehrtheit kann eine psychische Störung folgen, aus einer psychischen Belastung können körperliche Beeinträchtigungen erwachsen usw. Dieser Gesundheitsbegriff gilt im übertragenen Sinn ebenso für Systeme wie die Familie, die Wirtschaft oder die Schulen.
Blickt man auf die Schulen, so mehren sich die Hinweise, dass eine Bildungskatastrophe droht und vor allem Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Milieus besonders betroffen sind. Zweifelsfrei ist gerade in Deutschland die Bildungsschere immer schon beachtlich, was nicht zuletzt mit der Vielfalt der kulturellen Prägung in den Elternhäusern zu tun hat – Bildungsungleichheiten sind somit ein Teil des pädagogischen Kerngeschäftes. Aber die schulischen Maßnahmen, die zur Eindämmung der Coronapandemie ergriffen wurden, haben diese Situation massiv verschärft und tun dies noch weiter. Bildungsungerechtigkeit nimmt also massiv zu. Eine Bildungskatastrophe droht.
Nun wäre es falsch, der Bildungspolitik vorzuwerfen, nichts getan zu haben. Ganz im Gegenteil: Es ist viel unternommen und auch viel Geld ausgegeben worden. Aber wie so oft ist zu erkennen: Bildungserfolg stellt sich nicht allein deswegen ein, weil das Bildungssystem eine Finanzspritze erhält. Zudem führt nicht jede noch so gut gemeinte Maßnahme zum Erfolg – vor allem dann nicht, wenn sie nicht zu Ende gedacht worden ist und die betroffenen Akteure nicht angemessen mitgenommen werden. Dies sind allen voran die Lernenden, die Lehrpersonen und die Eltern. Bildung ist eine der wichtigsten Aufgaben einer Gesellschaft, weil sie der Garant für ökonomischen, ökologischen und sozialen Wohlstand ist. Und Bildung ist auch eine komplexe Angelegenheit und fordert alle Beteiligten.
Allein schon der Versuch, den Bildungsbegriff zu bestimmen, schreckt viele ab. Dem Diskurs tut dies nicht gut. Denn die Klarheit in den Begriffen geht einher mit der Klarheit im Denken und der Klarheit im Handeln. Ohne ein umrissenes Leitmotiv lässt sich keine Bildungspolitik betreiben. Insofern ist es unumgänglich, den Begriff der Bildung zu skizzieren und darauf aufbauend auf die bereits angesprochenen Begriffe der Bildungsungleichheiten und der Bildungsgerechtigkeit einzugehen. Beide sind heute politische Kampfbegriffe und werden in Wahlen immer wieder hervorgeholt. Trotz einer damit verbundenen Alltäglichkeit, einfach zu verstehen sind sie nicht: Was sind schon Ungleichheiten? Was ist Gerechtigkeit? Und wie lässt sich beides in Verbindung mit dem Bildungsbegriff verstehen? Auch von einer Bildungskatastrophe ist nicht zum ersten Mal die Rede, ich werde die in Deutschland schon einmal geführte Debatte zu diesem Begriff nachzeichnen. Diese historische Rückschau ist hilfreich, ja notwendig, um die Gegenwart besser zu verstehen und schlüssige Konzepte für die Zukunft formulieren zu können.
Es sind drei Teilaspekte, die im Folgenden beleuchtet werden und damit den Grundstein für das vorliegende Buch legen: erstens die Skizzierung der Maßnahmen im pädagogischen Bereich, die zur Eindämmung der Coronapandemie ergriffen worden sind. Zweitens die Rückschau auf die Bildungskatastrophe in den 1960er Jahren. Und drittens die Klärung der Begriffe Bildung, Bildungsungleichheiten und Bildungsgerechtigkeit.

Schulschließungen als Bildungskatastrophe?

Als am 31. Dezember 2019 eine neue Form einer Lungenentzündung in Wuhan, China, bestätigt wurde, kam es zwar weltweit zu einer Berichterstattung in den Medien, aber weitere politische Maßnahmen wurden noch nicht ergriffen. Erst als sich die Erkrankung unter dem Namen COVID-19 in China zu einer Epidemie entwickelte und schnell über die ganze Welt Ausbreitung fand, reagierten alle Länder auf diese Situation. Die sogenannte Coronapandemie war fortan bestimmend in allen Regionen und in allen Bereichen des Lebens.
Neben Abstand halten, Hygiene beachten und im Alltag Maske tragen, bekannt als AHA-Regeln, kam es seit März 2020 in vielen Länder immer wieder zu Lockdown-Maßnahmen, in denen das öffentliche Leben weitestgehend heruntergefahren wurde. Auch Schulen waren davon betroffen und wurden für längere Zeit geschlossen – teils für mehrere Wochen, teils für mehrere Monate, teils bis heute. Das Ziel der Maßnahmen liegt auf der Hand: Soziale Kontakte sollen begrenzt werden, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Um dennoch den Bildungs- und Erziehungsauftrag umsetzen zu können, wurde dort, wo es möglich war, Distanzunterricht angeboten. In den Medien hat sich hierfür schnell der Begriff „Homeschooling“ etabliert. Auch wenn er für Deutschland irreführend ist, weil ein Hausunterricht nicht erlaubt ist, trifft er den Kern des Problems: Die Grenzen zwischen dem familiären System und dem Schulsystem verschwimmen, was vielerorts für große Herausforderungen sorgte. So sahen sich manche Familien gut gerüstet, ihre Kinder beim Lernen zu unterstützen, während andere daran scheiterten. Dass es vor allem bildungsferne Milieus und sozial benachteiligte Familien schwerer haben, ist hinlänglich bekannt und liegt angesichts der zahlreichen Studien zu Bildungsungleichheiten nahe.
Auch in Deutschland kam es zu Schulschließungen. Bis heute sind sie ab einer bestimmten Inzidenz das Mittel der Wahl. Begleitet wurden Schulschließungen von einem Digitalisierungsschub, der sich auf die Ausstattung von Schulen und auf die Aufrüstung der Kinderzimmer konzentrierte. Zusätzlich zu den fünf Milliarden Euro des „DigitalPakt Schule“ aus dem Jahr 2018, die bis heute nicht vollständig abgerufen sind, stellte der Bund 500 Millionen Euro im Sommer 2020 zur Verfügung, um Lernende mit Tablets auszustatten. Derselbe Betrag kam nochmals obendrauf, um Lehrpersonen ein Dienstgerät in die Hand zu drücken. Viele Bundesländer legten noch weiter nach. Daneben wurden Masken angeschafft, Spuckschutzwände aufgebaut, Leitsysteme aufgezeichnet und teilweise Raumfilter und Lüftungsanlagen installiert. Neben Präsenzunterricht und Distanzunterricht kam als weitere Form der Beschulung der Wechselunterricht hinzu, bei dem die Klasse halbiert wird und somit weniger Kinder in der Schule sind. Abschlussjahrgänge kamen generell schneller in die Schulen als andere. Mit diesen Maßnahmen war die bildungspolitische Hoffnung verbunden, dass genug getan worden ist, um auch in Pandemiezeiten für Bildungserfolg zu sorgen – und zwar für alle Lernenden.
Nimmt man allein die Zeiten, in denen Kinder und Jugendliche nicht in der Schule waren, so kommen schnell einige Wochen zusammen. Je nach Alter der Lernenden, Bundesland und Inzidenzwerten blicken manche auf ein Jahr zurück, in dem sie mehr Zeit zuhause verbrachten als in der Schule. Insofern sind bei dieser Generation bereits zwei Schuljahre massiv durch die Coronapandemie betroffen. Dass all das auf Dauer nicht ohne Folgen bleibt, wurde bildungspolitisch lange ignoriert. Später kamen Lippenbekenntnisse hinzu: Nach den ersten Schulschließungen im Frühjahr 2020 dürften Kinder nicht nochmals die Leidtragenden sein, und Schulen müssten offen bleiben, hieß es allerorten. Die Realität holte dieses Gerede schnell ein. Während die Industrie weiter produzierte und der Fußball im Profibereich rollte, mussten Kinder und Jugendliche wieder allein vor den Bildschirmen lernen. Bis heute verwundern Aussagen von so manchem Ministerpräsidenten, dass das alles doch bestens funktioniere.
Derweil muss man nur in bildungsferne Milieus blicken, sozial benachteiligte Familien aufsuchen oder mit Kindern und Jugendlichen sprechen. Sie leiden unter der Situation. Zudem gibt es immer mehr Studien, die das Ausmaß des Dramas vor Augen führen. Denn nicht nur die Lernleistungen gehen zurück, sondern es kommt auch zu einer Zunahme von psychischen und psychosomatischen Krankheitsbildern sowie zu körperlichen Beeinträchtigungen. Die psychische, physische und soziale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sind betroffen.
Ebenso wie in der medizinischen Bekämpfung der Coronapandemie ist es daher höchste Zeit, auch im pädagogischen Bereich endlich auf die Wissenschaft zu hören. Aber allzu viel Zeit bleibt nicht mehr. Die Bildungskatastrophe ist im vollen Gang.
Vielleicht mag der Einwand kommen, dass es alarmistisch sei, von Bildungskatastrophe zu sprechen. Denn so schlimm sei doch alles nicht. Dem ist zweierlei entgegenzuhalten: Zum einen ist das ganze Ausmaß der Bildungskatastrophe empirisch zu belegen, was im zweiten Kapitel des vorliegenden Buches getan wird. Zum anderen ist festzustellen, dass der Begriff der Bildungskatastrophe in Deutschland bereits eine Geschichte hat und als Triebfeder einer Debatte diente, deren Ausgangssituation durchaus bedrohlich war. Aber im Vergleich zur aktuellen Situation erscheint sie harmlos. Denn die Missstände von damals sind nicht einmal im Ansatz mit denjenigen von heute vergleichbar. Nicht umsonst hat der Bund im Frühjahr 2021 verkündet, eine Milliarde Euro für ein Nachhilfeprogramm bereitzustellen. Das Bewusstsein für die Probleme scheint von Tag zu Tag deutlicher zu werden.

Die Bildungskatastrophe der 1960er Jahre – und die Lehren daraus

Es war in erster Linie der Pädagoge, Philosoph und Theologe Georg Picht (1913–1982), der den Begriff der Bildungskatastrophe einführte. Ausgangspunkt war eine Artikelserie in der Wochenzeitung Christ und Welt im Jahr 1964. Diese zählte damals zu den auflagenstärksten und einflussreichsten Printmedien der noch jungen Bundesrepublik Deutschland. In seinen Beiträgen analysierte Georg Picht das deutsche Bildungssystem mithilfe umfangreicher Daten. Seine Diagnose war eindeutig: Deutschland stehe vor einer Bildungskatastrophe, die zu gravierenden Nachteilen im internationalen Vergleich führen werde und sogar eine Gefährdung der Demokratie zur Folge haben könne.
Die Gründe für die Bildungskatastrophe sah Georg Picht mindestens in den folgenden vier Punkten: Erstens stellte er einen Lehrermangel fest, der auf Dauer zu größeren Nachteilen führte. Zweitens kritisierte er, dass es zu wenig Abiturientinnen und Abiturienten gab. Drittens mahnte er wegen einer ungerechten Verteilung von Bildungschancen. Und viertens bemängelte er Konstruktionsfehler in der Steuerung und Verwaltung des Bildungssystems, die all die genannten Punkte noch weiter verschärften.
Gegen diesen Bildungsnotstand formulierte Georg Picht ein Notstandsprogramm. In diesem erarbeitete er Vorschläge zur Organisation des Bildungswesens, zur Modernisierung des ländlichen Schulwesens, zur Verdoppelung der Abiturientenzahl, zur Vermehrung der Lehrpersonen an Gymnasien und auch an den Volksschulen sowie zur Neuordnung der Kultusverwaltung. Sein damaliges Fazit lautete: „Jedes Volk hat das Bildungswesen, das es verdient. Noch ist es möglich, zu verhindern, dass die Bildungskatastrophe in ihrer vollen Gewalt über uns hereinbricht. Deutschland kann als Kulturstaat noch erhalten bleiben. Dazu bedarf es aber einer entscheidenden Wendung.“
Mit dieser Zustandsbeschreibung des deutschen Bildungswesens war Georg Picht nicht allein. Eine Reihe von namhaften Personen der damaligen Zeit stützten seine Überlegungen. Allen voran ist an dieser Stelle Ralf Dahrendorf zu nennen, der nicht nur zu den führenden Soziologen in den 1960er Jahren zählte, sondern auch politisch durch sein Engagement in der FDP größeren Einfluss nehmen konnte. In seinem Werk „Bildung ist Bürgerrecht“ (1965) untermauerte er die Position von Georg Picht und prägte darin auch die bekannte Formel für damalige Benachteiligung im Bildungssystem: das katholische Arbeitermädchen vom Land, vergleichbar wohl heute dem Jungen mit Migrationshintergrund aus der Großstadt. Die Diskussionen, die Georg Picht und Ralf Dahrendorf angestoßen haben, nahmen weitreichenden Einfluss auf die damalige Bildungspolitik. Nur zwei Maßnahmen seien genannt, die damit in Verbindung zu bringen sind:
Erstens wurde im Jahr 1965 der Deutsche Bildungsrat von Bund und Ländern ins Leben gerufen, um für das deutsche Bildungswesen Bedarfs- und Entwicklungspläne zu erstellen. Darauf aufbauend wurden Strukturvorschläge gemacht und Empfehlungen für langfristige Planungen ausgesprochen. Besonders einflussreich war der im Jahr 1970 vorgelegte „Strukturplan für das Bildungswesen“, dessen Wirkung bis in die Gegenwart reicht. Bis auf die Hochschulen wurden nahezu alle Bereiche des Bildungssystems in den Blick genommen. Aus heutiger Sicht ist diese Publikation ein Zeugnis für die bildungspolitische Aufbruchsstimmung, die nach den studentischen Unruhen von 1968 und infolge der sozialliberalen Koalition seit 1969 herrschte.
Zweitens wurde im Jahr 1970 die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung einberufen. Sie war bis Ende 2007 das ständige Gesprächsforum für Fragen des Bildungswesens und der Forschungsförderung, die Bund und Länder gleichermaßen betrafen. Die Kommission gab sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene Empfehlungen zur Bildungsplanung und Forschungsförderung.
Auch wenn zunächst große Euphorie herrschte und sich einiges an Veränderungen einstellte, die Reformen im Bildungsbereich kamen schneller zum Erliegen, als viele damals gedacht hatten. Mit zunehmender Distanz mehrten sich auch die Stimmen, dass so manche Reformen das Ziel der Abwehr einer Bildungskatastrophe verfehlten, ja selbst die Diagnose von Georg Picht und Ralf Dahrendorf wird heute nicht uneingeschränkt geteilt.
Versucht man dennoch aus der damaligen Debatte um das deutsche Bildungswesen Schlussfolgerungen zu ziehen, die heute noch von Bedeutung sind, so zeigen sich drei Punkte: Erstens ist es wichtig, dass jede Generation aufs Neue für sich überlegt, was Bildung bedeutet und welchen Stellenwert sie hat. Dabei reicht es nicht aus, nur strukturelle Fragen des Bildungssystems zu betrachten – vermutlich einer der größeren Schwachpunkte der Debatte aus den 1960er Jahren. Zweitens ist unstrittig, dass nicht alle Menschen die gleichen Voraussetzungen für Bildung haben, aber dennoch jeder Mensch ein Recht auf Bildung besitzt. Solche Bildungsungleichheiten sind dabei nicht nur die Sache des Einzelnen, sondern in einer Demokratie immer die Verantwortung aller. Nach wie vor ist dieses Thema so zentral, dass es nur mit verschlossenen Augen übersehen werden kann. Drittens resultiert daraus die Aufgabe, Bildungsgerechtigkeit als bildungspolitisches Programm zu sehen. Vor dieser normativen Perspektive schreckt der erziehungswissenschaftliche Diskurs häufig zurück und man überlässt es der Bildungspolitik, (hoffentlich) vernünftige Entscheidungen zu treffen. Normativ zu werden, so die häufig zu vernehmende Position, sei nicht die Aufgabe von Wissenschaft. Dies ist im Kern allerdings verkürzend, denn gerade im pädagogischen Kontext geht es nicht nur darum, die Welt zu beschreiben, wie sie ist, sondern auch darzulegen, wie sie sein sollte und was dafür notwendig wäre. Die damit verbundenen begrifflichen Klärungen werden im Folgenden angegangen.

Wovon reden wir eigentlich? Bildung – Bildungsungleichheiten – Bildungsgerechtigkeit

Der Bildungsbegriff ist nicht nur innerhalb der Erziehungswissenschaft ein Terminus technicus, sondern auch von bildungspolitischer Relevanz. So findet sich in allen Länderverfassungen der Bundesrepublik Deutschland ein Artikel, in dem der Bildungs- und Erziehungsauftrag von Schule bestimmt und erläutert wird. Diese Verankerung ist insofern bemerkenswert, als damit Schule und Unterricht in einen juristischen Raum gestellt werden, der sodann Aufgaben und Pflichten definiert.
In Bayern beispielsweise ist der Bildungs- und Erziehungsauftrag im Artikel 131 der Bayerischen Verfassung formuliert. Dort heißt es in Absatz 1: „Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.“ Grundlegend für das damit verbundene Bildungsverständnis ist die anthropologische Bestimmung des Menschen als Person. Im Grundgesetz ist dieser Gedanke in Artikel 1 festgeschrieben mit den Worten, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Insofern hat nicht nur jeder Mensch die Gabe, sich zu bilden, es ist auch seine Aufgabe. Im Kontext von Schule und Unterricht resultiert daraus die Pflicht, jeden Menschen in seinem Bildungsprozess zu unterstützen.
Die Nennung der Bereiche des Wissens und des Könnens auf der einen Seite und des Herzens und des Charakters auf der anderen Seite mag altertümlich klingen. Sie macht aber darauf aufmerksam, dass Bildung nicht auf einzelne Bereiche des Menschseins begrenzt werden darf, sondern sich auf die gesamte Persönlichkeit in all ihren Facetten bezieht. Neben kognitiven Aspekten spielen folglich auch soziale, moralische, ästhetische, motivationale, spirituelle und viele andere mehr eine Rolle (vgl. Gardner, 1983). Es verbietet sich von hier aus, den Menschen auf nur einzelne dieser Bereiche zu begrenzen und ihn damit womöglich als „Humankapital“ für außer ihm liegende Zwecke zu benutzen. Der Mensch ist ein Wert für sich, der nicht zu hinterfragen ist, seine Bildung ist nicht zu instrumentalisieren. Darüber hinaus weisen die verschiedenen Facetten der Persönlichkeit darauf hin, dass Wechselwirkungen bestehen und Bildung vor diesem Hintergrund immer einen umfassenden Anspruch zu erheben hat, wenn sie dem Menschen in all seinen Möglichkeiten gerecht werden möchte.
Mit diesen Überlegungen ist das Ziel von Bildung definiert: Als Gabe und Aufgabe des Menschseins hat sie kein Ziel außerhalb ihrer selbst. Es geht bei Bildung folglich um den Menschen, um das Menschsein und das Menschwerden. Dieser Vorgang als solcher ist nie abgeschlossen, denn der Mensch steht immerzu vor der Herausforderung, der zu sein, der er ist.
Dieses Ziel ist allgemeingültig und daher nicht von gesellschaftlichen Veränderungen abhängig, obschon dessen Konkretisierung gesellschaftliche Veränderungen berücksichtigen muss. Besonders deutlich wird dieser Gedanke, wenn man sich vor Augen führt, wie unterschiedlich die Ausgangsbedingungen für den einzelnen Menschen sein können. Folgende Unterschiede zur Verdeutlichung: weiblich – männlich, bildungsnahes Milieu – bildungsfernes Milieu, Arbeiterfamilie – Akademikerfamilie, Land – Stadt, keine Geschwister – viele Geschwister usw. Die daraus resultierenden Unterschiede im Hinblick auf Bildung...

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