MAZDAK AYARI
Fast drei Jahre nach ihrer Erfindung erreichte die Fotografie den Iran. Historischen Dokumenten zufolge schickten die Königin von England und das Russische Reich zwei Kameras und FotoausrĂŒstung (fĂŒr Daguerreotypie) an Mohammed Schah, den Vater von Naser ad-Din. Die erste Begegnung des Prinzen mit der Fotografie war angeblich ein PortrĂ€t von ihm selbst, aufgenommen von dem französischen Hauslehrer und Hoffotografen Monsieur Jules Richard Khan, von dem der Prinz spĂ€ter auch das Fotografieren lernte.
Nach seiner Thronbesteigung lud Naser ad-Din Schah den französischen Fotografen Frances Carlhian (1818â1870) in den Iran ein und begann sich ernsthafter mit den Techniken der Fotografie zu befassen. Mithilfe Carlhians richtete der Schah am königlichen Hof ein Fotostudio und eine Fotothek ein und förderte nachdrĂŒcklich die Abteilung fĂŒr Fotografie an der Dar al-Fonun-Schule. Das groĂe Interesse des Schahs an diesem neuen Medium zeigt sich auch darin, dass er neben der Position des âHofmalersâ auch die Stelle eines âHoffotografenâ schuf. Einige Zeit spĂ€ter beauftragte er den Hoffotografen, ein öffentliches Fotostudio einzurichten. Das macht zwei Dinge deutlich: Erstens belegt die Tatsache, dass der Schah nicht darauf bestand, dieses Medium auf das Königshaus, Aristokraten oder Wohlhabende zu beschrĂ€nken, sondern es öffentlich zugĂ€nglich machen wollte, dass er seine Verbreitung unter dem einfachen Volk nicht fĂŒrchtete; und zweitens zeugt es von seinem groĂen Interesse daran, die Gesellschaft und das Land insgesamt zu dokumentieren. So entstand eine bedeutende Sammlung historischer Fotografien ĂŒber den Iran, Fotografien, die vom Schah und von seinem Gefolge, von in den Iran eingeladenen Fotografen und von den Dar al-Fonun-Absolventen angefertigt wurden.
Unknown, A group of musicians in the Qajar era, mid-19th cent., reprint from an Albumen silver print / Unbekannt, Eine Gruppe Musiker aus der Zeit der Kadscharen-Herrschaft, Mitte 19. Jh., Reprint auf Albumindruck
Heute gibt es mehr als 20.000 Fotografien, die von Naser ad-Din Schah aufgenommen und entwickelt wurden. Die Handschrift des Königs und manchmal auch seine Unterschrift sind am Rand vieler dieser Fotografien zu sehen: âvon Uns selbst aufgenommenâ. Mit diesen Unterschriften gibt er sich als Urheber des Bildes zu erkennen und dokumentiert gleichzeitig seine eigene Anwesenheit als Zuseher in diesem Augenblick des âEinfrierensâ der Zeit.
AuĂer den europĂ€ischen Fotografen, die im Land lebten, waren die meisten der frĂŒhen Fotografen im Iran mit den Traditionen der Malerei vertraut, auch Naser ad-Din Schah selbst, der nicht nur einer der Pioniere der iranischen Fotografie, sondern auch Maler und Zeichner war. Anders als in den meisten LĂ€ndern wurde die Fotografie im Iran ursprĂŒnglich nicht als Mittel zur Dokumentation gesehen. Auch wenn eine Fotografie an sich eine Aufzeichnung der Wirklichkeit ist, hatten frĂŒhe iranische Fotografien aufgrund des vorangehenden BildverstĂ€ndnisses eine dualistische QualitĂ€t.
WĂ€hrend heute viele frĂŒhe Fotografien als wichtige anthropologische und soziologische Dokumente dienen, nutzten die frĂŒhen Fotograf*innen dieses Medium wie die persischen Maler*innen als ein neues Fenster fĂŒr die Erkundung ihres Umfelds. SpĂ€ter beeinflusste die Fotografie die iranische Malerei und die Maler*innen der Kadscharen-Zeit glaubten zunehmend, dass sie imstande sein mĂŒssten, die Welt ebenso gut zu dokumentieren wie die Fotograf*innen. Dies war wohl ein Weg, den die iranische Malerei und Fotografie beschreiten mussten, um ihren heutigen Entwicklungsstand zu erreichen.
Mazdak Ayari wurde 1976 geboren und studierte Fotografie im Iran. AuĂerhalb des Iran ist er fĂŒr seine Fotosammlung âFamilie: Standbilderâ bekannt.
Ayaris Fotografien sind wie persönliche Dokumentarfilme, in denen er alles in seinem Umfeld sorgfÀltig beobachtet und dokumentiert. Sein prÀziser Blickwinkel verzerrt manchmal die Grenze zwischen reiner Dokumentation und Kunst und stellt sein Publikum vor ernste Fragen:
Ist das, was man sieht, eine persönliche ErzÀhlung des Fotografen? Ist es das Produkt seiner Vorstellungskraft? Sind die Fotografien inszeniert? Schauspielern die Sujets in Ayaris Standbildern?
Ayari hat einen Background in der Filmfotografie und war Setfotograf bei mehreren bedeutenden Filmen. Seine Werke waren auch in einer Reihe wichtiger Ausstellungen von Dokumentarfotografie zu sehen. Es ist also verstÀndlich, dass sie ihre Betrachter*innen vor so viele Fragen stellen.
Tatsache ist aber, dass Ayaris Fotografien nicht inszeniert sind. Seine Kamera fungiert immer als sein Auge. Im Gegensatz zu den meisten von uns, die wir tĂ€glich zahlreiche Bilder nebenbei registrieren, ohne Notiz von ihnen zu nehmen, hĂ€lt Ayari fest, was er sieht. In den letzten zwei Jahrzehnten waren seine Kamera und seine Augen immer eins. Er sieht die Dinge durch das Objektiv der Kamera und nimmt sie ohne jegliche Manipulation, Beurteilung oder SelektivitĂ€t auf, und als solches kommt seine Arbeit der Dokumentarfotografie sehr nahe. Gleichzeitig ist er, wie jeder andere KĂŒnstler auch, Ă€uĂerst feinfĂŒhlig in Bezug auf seine Umgebung und sein persönliches Erleben von allem, was âpassiertâ.
Seine Arbeit ist eine kĂŒnstlerische Analyse, die dazu dient, Fragen zu stellen und möglicherweise Antworten zu geben â obwohl, wenn er diese Antworten gefunden hĂ€tte, wĂ€re das Projekt, an dem er weiterhin so ernsthaft arbeitet, wohl schon vor langer Zeit abgeschlossen worden.
Die Reihe âFamilie: Standbilderâ ist eine Sammlung von mehr als tausend Einzelbildern, die Ayari von 1999 an bis jetzt aufgenommen hat. Die aktuelle Ausstellung prĂ€sentiert diese Serie zusammen mit âDiaporamaâ (fotografische Diashow), einer Diashow von 600 Bildern, die vom KĂŒnstler und den Kurator*innen ausgewĂ€hlt wurden.
Teile dieser Fotosammlung waren zuvor im Rahmen von âUnedited History: Iranâ im MusĂ©e dâArt Moderne de la Ville de Paris und im MAXXI-Museum in Rom zu sehen sowie in der Ausstellung âRTL-LTR. Hin und Her, Iran-Ăsterreichâ, die in Wien und Wels gezeigt wurde.
REZA BANGIZ
Nach der Einsetzung der Pahlavi-Dynastie in den 1920er-Jahren wurde eine Reihe von Regierungsdekreten erlassen, die grundlegende VerĂ€nderungen zur Modernisierung des Iran mit sich brachten. WĂ€hrend dieser Zeit wurden die letzten Stadttore von Teheran zerstört, die StadtgrĂ€ben zugeschĂŒttet und statt der traditionellen persischen Gewandung wurden der Bevölkerung europĂ€ische Kleidung und HĂŒte aufgezwungen. Teheran war auf schnellem Weg in die Moderne und viele der gĂ€ngigen Rituale und Traditionen wurden im Sinne der vorgeblichen Modernisierung der Gesellschaft als illegal gebrandmarkt. Darunter fielen religiöse, epische und komödiantische Darbietungen, die aus politischen GrĂŒnden, aber unter dem Deckmantel der Modernisierung, als gesetzwidrig bezeichnet wurden. Eine dieser religiösen Darbietungen ist Taâzieh, das gewöhnlich auf einem öffentlichen Schauplatz aufgefĂŒhrt wird und die Ereignisse von Kerbela und das Schicksal des dritten schiitischen Imams nacherzĂ€hlt. Seine Wurzeln gehen allerdings auf vorislamische AuffĂŒhrungen zurĂŒck, in denen Siavash, der wichtigste MĂ€rtyrer des Zoroastrismus, betrauert wird. Neben Taâzieh ist Dasteh (Prozession) ein groĂes religiöses Volksfest mit Scharen von GlĂ€ubigen, die die Armee des schiitischen Imams reprĂ€sentieren und Flaggen, Symbole und groĂe Holz- und Metallgestelle tragen. Es findet zu Aschura und an den zehn heiligen Tagen vor diesem besonderen Tag im heiligen schiitischen Kalender statt.
Sarkis Vasspour, Procession, n. d. [ca. 1960], linocut, 20 x 27 cm / Sarkis Vasspour, Prozession, o. J. [ca. 1960], Linolschnitt, 20 x 27 cm
Als der laizistische Reza Schah (der erste Pahlavi-Herrscher) von den Alliierten des Zweiten Weltkriegs aus dem Land vertrieben und von seinem weniger sĂ€kularen Sohn Mohammad Reza Schah abgelöst wurde, kehrten Rituale wie Taâzieh und Dasteh mit ihren tiefen Wurzeln in der persischen Kultur wieder an die Ăffentlichkeit zurĂŒck, diesmal als Symbole des kulturellen Erbes des Iran.
In den 1950er-Jahren benutzte eine Gruppe iranischer KĂŒnstler*innen, die ein kulturelles Fundament im Volksglauben suchten, diese Rituale und Traditionen als Basis fĂŒr ihre Arbeit in Malerei, Theater, Literatur usw.
Parviz Kalantari, Parviz Tanavoli, Hossein Zenderoudi, Sarkis Vaspour und Reza Bangiz gehörten zu den KĂŒnstlern, die das Aschuraritual auf unterschiedliche Weise in ihren Werken darstellten. Obwohl sie nicht religiös waren und Vaspour zum Beispiel nicht einmal Muslim war, sondern ein iranisch-armenischer Christ, erkannten sie die tiefen kulturellen Wurzeln des Aschurarituals und dachten, durch die Analyse seiner visuellen Aspekte weitere Hinweise auf Volkskunst, antike Symbole usw. finden zu können. Aus diesem langen E...