Kapitel 1
Aufbau des Gehirns â EinfĂŒhrung in die Neurohistologie
Nervenzellen (Neurone)
Der neuronale Zellkörper und das Zytoskelett
Das Axon und die Synapse
Axonaler Transport
Dendriten von Nervenzellen
Gliazellen
Astrozyten
Oligodendrozyten und Schwann-Zellen
Saltatorische Erregungsleitung
Mikrogliazellen
Ependymzellen
Zusammenfassung
Was das IMPP wissen möchte
Index
WeiterfĂŒhrende Literatur
Vorbemerkung
Das Nervensystem ist kompliziert und faszinierend zugleich. In keinem anderen wissenschaftlichen Feld konnten im letzten Jahrzehnt gröĂere Fortschritte verzeichnet werden als in den Neurowissenschaften.
Dieses Lehrbuch stellt sich der Herausforderung, ein komplexes Gebiet der Anatomie einerseits so zu erklĂ€ren, dass Funktionsweisen und ZusammenhĂ€nge begriffen werden können, andererseits soll aber auch der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die Neuroanatomie nur einen gewissen Prozentsatz der prĂŒfungsrelevanten Fragen ausmacht. Bei der Konzeption dieses Lehrbuches haben wir uns deswegen am Gegenstandskatalog des IMPP orientiert. Zum Abschluss jedes Kapitels wird noch einmal gesondert auf âSpezialitĂ€tenâ des IMPP-Wissens eingegangen (âWas das IMPP wissen möchteâ).
Im ersten Kapitel werden wir eine EinfĂŒhrung in das Organisationsprinzip des Nervensystems geben. Hierbei beginnen wir mit der Histologie, da zellulĂ€re Komponenten des Nervensystems den Baustoff fĂŒr unser Gehirn liefern. Diesem histologischen Teil schlieĂt sich ein grober Ăberblick ĂŒber den Aufbau und die Funktionsweise des Nervensystems an. Ziel dieser einleitenden Kapitel ist es, eine Grundlage fĂŒr weiterfĂŒhrende Betrachtungen des Nervensystems zu legen. Hier lernen Sie die wichtigsten Vokabeln und Begriffe, sowie wichtige Grundprinzipien, die immer wieder in der Neuroanatomie vorkommen werden. Sicher sind Sie nach den ersten beiden Kapiteln noch nicht in der Lage, in der âBundesligaâ der Neuroanatomen mitzuspielen. Es reicht aber zumindest fĂŒr die Kreisklasse, Sie lernen zu dribbeln, Sie lernen auf das Tor zu schieĂen.
In den folgenden Kapiteln gehen wir detaillierter auf die verschiedenen Abschnitte des Nervensystems ein. Dort lernen Sie dann, einen Gegner auszutricksen und den Ball am Torwart vorbei in die Ecke zu schieĂen. Zum Abschluss betrachten wir das Nervensystem unter funktionellen Gesichtspunkten. Dort werden Sie lernen wie Sehen, Hören, Gleichgewicht, Bewegung und SensibilitĂ€t funktioniert und welche verschiedenen Elemente des Nervensystems daran beteiligt sind.
Sie sollten nach Durcharbeitung der beiden einfĂŒhrenden Kapitel 1 und 2 in der Lage sein:
âąDen Aufbau einer Nervenzelle zu erklĂ€ren.
âąElemente des neuronalen Zytoskelettes zu benennen und zu erklĂ€ren.
âąVerschiedene Typen von Nervenzellen zu benennen.
âąDas Prinzip der Verschaltung via Synapsen zu erklĂ€ren.
âąMechanismen des axonalen Transports zu erklĂ€ren.
âąGliazellen zu benennen und deren unterschiedliche Funktionen zu erklĂ€ren.
âąDie Unterschiede zwischen grauer und weiĂer Substanz, peripherem und zentralen Nervensystem, somatischem und vegetativem Nervensystem sowie zwischen Afferenzen und Efferenzen zu kennen.
âąApikale, medio-sagittale, laterale und basale Ansichten des Gehirns zu erkennen und zu benennen.
Aufbau des Gehirns â EinfĂŒhrung in die Neurohistologie
Die Zellen des Nervensystems lassen sich in Nervenzellen (Neurone) und Gliazellen unterteilen. Wenngleich auch die Anzahl der Neurone des menschlichen Gehirns unsere Vorstellungskraft ĂŒbersteigt (etwa 100 Milliarden), die Anzahl der Gliazellen ĂŒbertrifft die der Neuronen noch um ein Vielfaches. Neurone sind fĂŒr die SignalĂŒbermittlung innerhalb des Nervensystems verantwortlich, indem sie Aktionspotenziale generieren und weiterleiten (siehe entsprechende LehrbĂŒcher der Physiologie). Im Prinzip handelt es sich bei Aktionspotenzialen um elektrische Impulse. Nervenzellen kommunizieren also ĂŒber elektrische Impulse. Dabei wird eine bestimmte Funktion in der Regel von einer Kette hintereinander geschalteter Nervenzellen erfĂŒllt. Den Ort, an dem Nervenzellen miteinander kommunizieren, nennt man Synapse. Neben den Neuronen besteht das Nervensystem noch aus Gliazellen. Diese tragen zur Gehirnfunktion vor allem dadurch bei, dass sie benachbarte Neurone isolieren, stĂŒtzen und ernĂ€hren.
Um die Struktur von Nervenzellen zu untersuchen, mussten Wissenschaftler etliche Hindernisse ĂŒberwinden. Das erste Hindernis war die geringe neuronale GröĂe. Die meisten Nervenzellen haben einen Durchmesser vom Bruchteil eines Millimeters. Zum Vergleich: Die Spitze eines ungespitzten Bleistifts misst etwa 2 mm, Nervenzellen sind 40- bis 200-mal kleiner. Diese GröĂe liegt deutlich unterhalb der Grenze dessen, was mit bloĂem Auge noch erkennbar wĂ€re. Deshalb waren vor Entwicklung des zusammengesetzten Mikroskops im spĂ€ten 17. Jahrhundert Fortschritte in der Neurowissenschaft nur bedingt möglich. Die Erfindung des Mikroskops eröffnete das Gebiet der Histologie, der mikroskopischen Untersuchung von Gewebestrukturen. Wissenschaftler, die das Gehirn untersuchen wollten, waren jedoch noch mit einem weiteren Hindernis konfrontiert: Frisch prĂ€pariertes Gehirn sieht unter dem Mikroskop mehr oder weniger einheitlich cremefarben aus. Das Gewebe zeigt keine deutlichen Unterschiede in der Pigmentierung, die es den Histologen ermöglichen wĂŒrden, einzelne Zellen voneinander abzugrenzen. Der endgĂŒltige Durchbruch auf dem Gebiet der Neurohistologie war deswegen die EinfĂŒhrung von speziellen FĂ€rbemethoden, mit denen sich einzelne Zellteile im Hirngewebe darstellen lieĂen. Eine dieser FĂ€rbemethoden, die auch heute noch Anwendung findet, wurde vom deutschen Neurologen Franz Nissl Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt. Nissl zeigte, dass basische Farbstoffe einer bestimmten Klasse die Zellkerne aller Zellen sowie Materialansammlungen um die Zellkerne von Neuronen herum anfĂ€rben. Diese Ansammlungen bezeichnet man als Nissl-Schollen, die Methode als die Nissl-FĂ€rbung. Mit dieser FĂ€rbung lassen sich zum einen Neurone und Gliazellen voneinander unterscheiden, zum anderen können erfahrene Neurohistologen so die Anordnung oder Zytoarchitektur von Nervenzellen in verschiedenen Teilen des Gehirns feststellen. Diese Untersuchungen fĂŒhrten zu der Erkenntnis, dass das Gehirn aus vielen spezialisierten Regionen besteht. Wir wissen heute, dass jede Region eine eigene Funktion hat, die wir im Rahmen dieses Lehrbuches allesamt kennenlernen und verstehen werden.
Nervenzellen (Neurone)
Neurone bestehen aus mindestens zwei unterscheidbaren Teilen: einem Zellkörper, der den Zellkern enthĂ€lt, und zahlreichen dĂŒnnen FortsĂ€tzen, die vom Zellkörper abgehen (Abb. 1.1).
Abb. 1.1
Eine Nervenzelle besteht auseinem Nervenzellkörper (Soma/ Perikaryon) mit zwei Arten von FortsÀtzen (Neuriten): Dendriten, welche die Information aufnehmen und Axone, welche die Information an die nÀchste Zelle weiterleiten. Ein ankommendes Aktionspotenzial wird an den DornfortsÀtzen von einer Nervenzelle registriert.
Am AxonhĂŒgel, der frei von rauem endoplasmatischen Retikulum (rER) ist, entsteht bei Ăberschreitung eines Schwellenwertes ein neues Aktionspotenzial. Dieses wird rasch ĂŒber das myelinisierte Axon an die nĂ€chste Zelle weitergeleitet. Viele Axone sind von einer Myelinscheide umgeben; diese isoliert das Axon und beschleunigt somit die Fortleitung des Aktionspotenzials (saltatorische Erre...