Historisches Lernen mit SchulbĂŒchern
Wolfgang Buchberger
Ausgehend von der Frage, welchen Beitrag SchulbĂŒcher fĂŒr das historische Lernen â auch in der Primarstufe â leisten können, wird im Folgenden zuerst (1) der Begriff des historischen Lernens nĂ€her beleuchtet, bevor anschlieĂend den Fragen nachgegangen wird, (2) wie frĂŒhes historisches Lernen in der Primarstufe aussehen kann und (3) welche Rolle SchulbĂŒcher dabei spielen (sollten). Danach (4) werden Ergebnisse einer kategorialen Analyse aller österreichischen SachunterrichtsbĂŒcher (n=35) prĂ€sentiert, die sich dem Einsatz von schriftlichen Quellen in den Lehrwerken zum Sachunterricht widmete. Am Ende (5) werden in Form eines ResĂŒmees die wesentlichen Punkte dieses Beitrags zusammengefasst.
1. Historisches Lernen
Es soll hier mit diesem zentralen Begriff gestartet werden, da es zum einen gar nicht immer so klar ist, was genau unter historischem Lernen verstanden wird. Zum anderen ist es im Rahmen einer Schulbuchanalyse, die grundgelegte Möglichkeiten historischen Lernens untersuchen möchte, unumgĂ€nglich, normative Gesichtspunkte historischen Lernens zu benennen,1 die Aufschluss darĂŒber geben, welche Ziele denn eigentlich erreicht werden sollen.2
Speziell mit Blick auf den Umgang mit schriftlichen Quellen im schulischen Unterricht postuliert Pandel als Ziel des historischen Lernens im Geschichtsunterricht: âHistorisch denken zu lernen.â3 Aber was genau bedeutet es, historisch zu denken und wie kann man es lernen? Welche konkreten Operationen historischen Denkens sind fĂŒr die Untersuchung des Umgangs mit Textquellen in SchulbĂŒchern relevant?
In der Geschichtsdidaktik als âWissenschaft vom historischen Lernenâ4 besteht Einigkeit darĂŒber, dass es im Geschichtsunterricht5 um mehr gehen muss als die Vermittlung auswendigzulernender WissensbestĂ€nde ĂŒber die Vergangenheit. Als Ziel wird vielmehr die Förderung und Entwicklung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins ausgewiesen. Vor bereits mehr als 40 Jahren sieht Jeismann als den Kern der geschichtsdidaktischen Wissenschaftsdisziplin das âGeschichtsbewusstsein in der Gesellschaftâ6. Geschichtsbewusstsein ist fĂŒr ihn der innere âZusammenhang von Vergangenheitsdeutung, GegenwartsverstĂ€ndnis und Zukunftsperspektiveâ7.
Auch RĂŒsen fordert die Hinwendung zum Geschichtsbewusstsein als âBasis allen historischen Lehrens und Lernensâ8:
âDie oberste Qualifikation, die durch das historische Lernen erreicht werden soll, ist eben die FĂ€higkeit des GeschichtsbewuĂtseins, Sinn ĂŒber Zeiterfahrung bilden zu können, um sich erfahrungsgestĂŒtzt im Zeitverlauf der eigenen Lebenspraxis absichtsvoll orientieren zu können. Um eben dieser FĂ€higkeit willen, wird das GeschichtsbewuĂtsein in den mĂŒhsamen Prozessen menschlicher Individuierung und Sozialisation ausgebildet. Dieses oberste Lernziel, diese fundamentale Qualifikation, lĂ€Ăt sich in prĂ€ziser Zuspitzung auf das, was es grundsĂ€tzlich heiĂt, historisch zu lernen, als ânarrative Kompetenzâ bezeichnen.â9
Geschichtsbewusstsein ist hier als âInbegriff der mentalen Operationenâ10 oder BewusstseinstĂ€tigkeiten eines jeden Individuums zu verstehen, um sich ĂŒber sinnbildende Zeiterfahrung11 im Umgang mit den Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu orientieren, indem es âsich auf Vergangenheit und Zukunft bezieht und beide in ein VerhĂ€ltnis setztâ12. Zentral fĂŒr dieses anthropologische BedĂŒrfnis, sich zu orientieren,13 fĂŒr diese âGrundausstattung menschlichen Denkensâ14 ist laut RĂŒsen das historische ErzĂ€hlen. FĂŒr ihn lĂ€sst sich historisches Lernen âals Bildung von Geschichtsbewusstsein durch ErzĂ€hlen thematisierenâ15.Dahinter steht die narrativistische Geschichtstheorie. Grundlegend dabei ist einerseits, dass historische Erkenntnis in Form von Geschichte immer eine narrative Struktur aufweist, also erzĂ€hlt wird,16 und andererseits die erkenntnistheoretische Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Geschichte.
Kommt man wieder zurĂŒck zu RĂŒsens Definition von historischem Lernen als BefĂ€higung des Geschichtsbewusstseins durch ErzĂ€hlen, so bildet den Hintergrund dafĂŒr das vielfach rezipierte theoretische Modell historischen Denkens. Ausgehend von OrientierungsbedĂŒrfnissen in der Gegenwart aufgrund von Kontingenzerfahrungen wird fragend die Vergangenheit (methodisch fundiert) erschlossen, um durch ânarrativ geformten Sinnâ17, also Orientierung stiftende Darstellungen, die Vergangenheit auf Gegenwart und Zukunft zu beziehen (als Beitrag eines gegenwĂ€rtigen Diskurses).18 Da fĂŒr die Operationen des historischen Denkens das Geschichtsbewusstsein zustĂ€ndig ist, âverstanden als Komplex von Dispositionen, Prozessen und FĂ€higkeiten im und zum âUmgangâ mit Geschichteâ19, zielt historisches Lernen auf die Entwicklung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins. Dieses kann durch schulischen Unterricht gefördert, entwickelt und elaboriert werden. Somit ist historisches Lernen deutlich ausgerichtet auf die FĂ€higkeiten historischen Denkens, wozu es im deutschsprachigen und im internationalen Diskurs weitgehende Ăbereinstimmung gibt.20 Ziel ist es dabei, Lernende dazu zu befĂ€higen, sich eigenstĂ€ndig und begrĂŒndet, selbstbestimmt und selbstverantwortet21 in der Zeit zu orientieren. Dies meint ausdrĂŒcklich Orientierung durch âsinnbildende Zeiterfahrungâ im Sinne der Theorie historischen Denkens, charakterisiert durch die Basisoperationen der De- und Re-Konstruktion,22 und nicht bloĂ Orientierung in der Vergangenheit.
Kompetenzmodelle geben davon abgeleitet Antwort auf die Frage, wie die Zentralkategorie des Geschichtsbewusstseins in Form von Kompetenzen historischen Denkens operationalisiert werden kann, welche FĂ€higkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften also notwendigerweise fĂŒr historische Orientierungsprozesse grundgelegt werden mĂŒssen.23
2. Historisches Lernen in der Primarstufe
Lange Zeit hielten sich aufgrund von spĂ€ter als solchen bezeichneten âtradierten Scheinwahrheitenâ24 generelle Vorbehalte gegen historisches Lernen in der Primarstufe. Kinder im Primarstufenalter wĂ€ren mit historischem Lernen psychisch und kognitiv ĂŒberfordert und somit schlichtweg dazu nicht in der Lage, da sie ânoch kein VerstĂ€ndnis fĂŒr historische ZusammenhĂ€nge und fĂŒr Geschichte als solche (was immer das sein mag) aufbringenâ könnten und ââder Geschichteâ ĂŒberfordert und unverstĂ€ndig gegenĂŒberâ stĂŒnden.25 Diese âVerfrĂŒhungstheseâ historischen Lernens26 hielt sich sehr lange âinfolge Ă€lterer, stufenbezogener Entwicklungstheorien und der damit einhergehenden, als gering erachteten Chancen und Möglichkeiten fĂŒr elaboriertes Lernen im Elementar- und Primarbereichâ.27 Beispielhaft angefĂŒhrt sei an dieser Stelle Friedrich GĂ€rtner: âDas Kind [in der Primarstufe; Anm.] ist noch nicht reif, âGeschichteâ zu erfassen, also mĂŒssen wir uns damit begnĂŒgen, ihm âGeschichtenâ darzubieten.â28
Stufungs- und Reifungstheorien konnten mittlerweile wissenschaftlich widerlegt werden, psychologische Vorbehalte gegen frĂŒhes historisches Lernen aufgrund der Annahme von entwicklungsstadientypischen âEinschrĂ€nkungen des Denkensâ29 lassen sich demnach unter BerĂŒcksichtigung der vielen kritischen Befunde durch Forschungsergebnisse nicht mehr aufrechterhalten. Nicht ein vermeintlicher (lebensalterbedingter) Entwicklungsstand ist entscheidend fĂŒr erfolgreiches Lernen, sondern individuelles Vorwissen und die VerfĂŒgbarkeit von Begriffen, um weitere Begriffe zu verstehen und somit neue Kenntnisse in den je eigenen Wissensstrukturen zu verankern.30 Bei Kindern bereits vorhandene ânaiveâ Theorien können dadurch im Sinne des âconceptual changeâ aufgegriffen und weiterentwickelt werden.31
Was bedeutet dies jedoch fĂŒr historisches Denken, fĂŒr analytische und reflexive domĂ€nenspezifische Denkprozesse, fĂŒr die das VerstĂ€ndnis von Metakonzepten wesentliche Voraussetzung ist?32 Die neuere entwicklungspsychologische Forschung verweist darauf, âdass die grundlegenden begrifflichen Voraussetzungen fĂŒr ein konstruktivistisches VerstĂ€ndnis von Wissenschaft schon im Grundschulalter vorhanden sindâ.33 Dies ist insofern relevant, als die Ergebnisse âauf die Möglichkeiten zur Vermittlung epistemologischer Grundbegriffe im Grundschulalter hinweisen, die fĂŒr das VerstĂ€ndnis des Zusammenhangs von Interpretation und Evidenz zentral sindâ.34
Zusammeng...