Qualitative Sozialforschung
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Qualitative Sozialforschung

Jörg Strübing

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  1. 276 pages
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Qualitative Sozialforschung

Jörg Strübing

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Diese Einführung in Methodologie und Methoden qualitativer Sozialforschung präsentiert komprimiert theoretische Modelle, Forschungslogik und praktische Verfahrensweisen der Gewinnung, Interpretation und Analyse qualitativer Daten in der sozialwissenschaftlichen Forschung.

Neben einem Überblick über die basalen Argumentationsmuster und Geltungsbegründungen qualitativen Forschens bietet das Buch eine praxisorientierte Einführung in qualitative Interviews und sozialwissenschaftliche Feldforschung.

Aus der Vielfalt existierender interpretativ-analytischer Verfahren referiert das Buch zentral den sehr verbreiteten Forschungsstil der Grounded Theory, stellt daneben vergleichend aber auch Objektive Hemerneutik, Dokumentarische Methode, Diskursforschung, Konversationsanalyse Narrationsanalyse und Biografieforschung vor.

Die komplett überarbeitete zweite Auflage wurde um zwei Kapitel zu »Gütekriterien« und »Forschungsethik« ergänzt – Themen, die in der aktuellen Methodenpraxis und -diskussion zunehmend an Bedeutung gewinnen.

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Information

Year
2018
ISBN
9783110530155
Edition
2

1Was ist eigentlich qualitative Sozialforschung?

In diesem Kapitel wird unser Gegenstand zunächst begrifflich genauer gefasst und abgegrenzt: Was ist qualitative Sozialforschung und was ist gerade keine qualitative Sozialforschung? Woran lässt sich das festmachen? Woher kommt und was umfasst qualitative Sozialforschung? Welche Arten von Fragen lassen sich mit ihr sinnvoll bearbeiten? Es wird aber auch ein Blick in die Geschichte und Entwicklung der qualitativen Sozialforschung geworfen, um den Zusammenhang von Methoden-, Wissenschafts- und Gesellschaftsentwicklung zu verdeutlichen. Und schließlich geht es auch um die Frage von Grundprinzipien, die nahezu alle – ansonsten recht unterschiedlichen – Ansätze der qualitativen Sozialforschung weitgehend miteinander teilen.

1.1Ein Begriff als Programm oder als Residualkategorie?

If you can measure it, that ain’t it.
(Kaplan 1964: 206)
Von „qualitativer Sozialforschung“ zu sprechen, ist eigentlich eine ganz unmögliche Redeweise. Selbstverständlich hat jede Art der Sozialforschung eine bestimmte Qualität, sie mag gut sein oder schlecht und dies jeweils in Abhängigkeit von bestimmten, noch zu definierenden Kriterien. Das aber ist mit dieser Formulierung gar nicht gemeint. „Qualitative Sozialforschung“ steht als Begriff in Abgrenzung zu „quantitativer Sozialforschung“. Über die Angemessenheit dieser beiden Begriffe kann man mit Fug und Recht diskutieren (s. Kap. 1.3), hier aber soll uns zunächst interessieren, dass sie sich merkwürdig asymmetrisch zueinander verhalten: Steht hinter der Idee einer quantitativen Sozialforschung ein weitgehend einheitliches wissenschaftliches Paradigma, so versammeln sich unter dem Oberbegriff der qualitativen Sozialforschung eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze, die nicht nur methodisch, sondern auch methodologisch und wissenschaftstheoretisch teilweise sehr unterschiedlich ausgerichtet sind. Ihre augenscheinlichste Gemeinsamkeit aber ist, dass sie sich in der Regel in kritischer Abgrenzung von quantifizierenden und standardisierenden Methoden definieren: „(…) qualitative research, that is, non-numerical research“ schreiben etwa die britischen Sozialpsychologen Bauer und Gaskell (2000: 5) in ihrem Lehrbuch.
Man könnte also meinen, qualitative Sozialforschung sei nicht mehr als eine Residualkategorie, die, von der Außenabgrenzung abgesehen, keinen eigenen identitätsstiftenden Kern aufweist. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass die meisten jener Ansätze, die sich selbst als „qualitativ“ bezeichnen und dieser Kategorie von anderen zugerechnet werden, einige wichtige Grundprinzipien miteinander teilen, die sie zugleich von anderen methodischen Orientierungen, also insbesondere von quantifizierenden, hypothesentestenden Verfahren unterscheiden (vgl. Hollstein/Ullrich 2003).
Warum ist diese Frage überhaupt von Belang? Nun, Homogenität oder Heterogenität des Feldes qualitativer Methoden sind ausschlaggebend dafür, ob wir von allen qualitativen Verfahren das Gleiche erwarten dürfen, sprich: Ob wir an sie die gleiche Messlatte anlegen dürfen. Das zeigt sich etwa an der Frage der Reichweite von Gütekriterien für die qualitative Forschung (s. Kap. 7) oder beim Vergleich von Ergebnissen, die mit unterschiedlichen Verfahren erzielt wurden.

1.2Qualität. Interpretation. Rekonstruktion

Die drei Schlagworte ‚qualitativ‘, ‚interpretativ‘ und ‚rekonstruktiv‘ werden gerne bemüht, wenn Methoden der qualitativen Sozialforschung charakterisiert werden sollen. Betrachten wir also etwas genauer, was sich hinter diesen drei Begriffen verbirgt und welche methodologischen Basisannahmen sie implizieren.
Der am wenigsten präzise Begriff ist zugleich derjenige, mit dem die hier behandelten Verfahren am häufigsten summarisch bezeichnet werden: Als qualitativ werden diese Methoden bezeichnet, obgleich die Methoden und Verfahren selbst nicht qualitativ sind. Sie arbeiten vielmehr üblicherweise mit empirischem → Material, das im analytischen Prozess vor allem in Bezug auf seine qualitativen Momente und eben nicht in Bezug auf Quantitäten in Betracht gezogen wird.
Wenn Verfahren dagegen als interpretativ bezeichnet werden, dann wird damit auf eine besondere Eigenschaft von qualitativem empirischem Datenmaterial hingewiesen: Wie sich am Beispiel von Textmaterial wie Interviewtranskripten oder Dokumenten aus dem Feld oder auch von ethnographischen ethnografischen Protokollen leicht sehen lässt, weist es hinter der Ebene manifester Sprachsymbole noch weitere, latente Sinnstrukturen auf, die dem Text nur in interpretativen Akten abzuringen sind. Obwohl hier im Kontext von Wissenschaft thematisiert, handelt es sich dabei doch um Aktivitäten, die zutiefst in unserer Alltagspraxis verankert sind. Ob es der Gesichtsausdruck unseres Gegenübers ist oder ein in den Fernsehnachrichten verlesenes politisches Statement der Regierung: Immer lautet die in unserer Rezeption mitlaufende Frage: Was will uns das über den manifesten Text hinaus sagen? Es gehört geradezu zu den unabdingbaren Alltagskompetenzen, interpretieren zu können. Das zeigt sich deutlich daran, dass Zeitgenossen, die jedes gesprochene oder geschriebene Wort ausschließlich so verstehen, wie es gesprochen oder geschrieben wurde, schnell als inkompetent oder gar sozial unangepasst wahrgenommen und sanktioniert werden. Die Interpretationsbedürftigkeit von empirischem Material in den Sozialwissenschaften ist darauf zurückzuführen, dass dieses Material hervorgebracht wird von Akteuren, die mit Absichten und mit Deutungskompetenz ausgestattet sind. Und es entsteht in Situationen und Praktiken, die dieses Material in vielfältiger Weise rahmen. Gerade jene Absichten, Weltdeutungen und Rahmungen sind es, die wir in interpretativen Akten analytisch zugänglich machen wollen.
Rekonstruktion ist daher die Leistung, die mit dem Prozess wissenschaftlichmethodischer → Interpretation erbracht wird. Es sind die auf alltagsweltlichen Interpretationsleistungen beruhenden Sinnzuschreibungen und Situationsdefinitionen der Akteure in den von uns erforschten Feldern, die es im qualitativ-interpretativen Forschungsprozess zu rekonstruieren gilt. Weil uns diese Deutungen nicht direkt zugänglich sind, sondern nur über die Hervorbringungen sozialer Praxis, die sich uns dann als Datenmaterial darstellen, müssen wir aus diesem Material unter Einsatz unterschiedlicher Datenanalyseverfahren eine adäquate Version dieser Deutungen und Situationsdefinitionen erst herstellen, also rekonstruieren. Mit der Rede von der → Rekonstruktion ist häufig jedoch noch eine weitere Annahme über menschliches Handeln und Sozialität impliziert: Im miteinander Handeln und in unserem Reden darüber realisiert sich ein Sinn, der den Handelnden weder vor, noch während, noch nach dem Handeln in vollem Umfang bewusst und verfügbar ist. Handeln und Interaktion sind nicht allein das Resultat expliziter Intentionen der Handelnden, es drückt sich in ihm auch ein impliziter, in der Regel vorbewusster Bezug auf z. B. milieu- oder generationsspezifische Wertorientierungen und auf kulturelle Distinktionsmuster aus, den es in der rekonstruktiven Analyse zu erhellen gilt.

1.3Qualitativ versus quantitativ?

Wer sich unbefangen und neu in das Feld der empirischen Sozialforschung begibt, kommt kaum umhin, das etwas angespannte Verhältnis zwischen quantitativen und qualitativen Verfahren bzw. einigen ihrer Vertreter zu bemerken. Für die Entfremdung zwischen beiden methodischen Richtungen gibt es eine Vielzahl von Gründen, die an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden sollen. Gleichviel, ob quantifizierende, standardisiert verfahrende oder qualitativ-interpretative Sozialforschung, beide erbringen – richtig gemacht – wichtige Leistungen für die „Wirklichkeitswissenschaft“ Soziologie und ihre Nachbardisziplinen. Für kompetentes Handeln im Feld empirischer Methoden gilt es allerdings, Unterscheidungsvermögen zu gewinnen und die Rhetoriken der verschiedenen Richtungen zu verstehen.
Gerade für Anfänger im Feld der empirischen Forschung ist es frappierend, wie vielgestaltig die Differenz zwischen qualitativen und quantitativen Methoden in Methodendiskursen ausgedrückt wird. Dabei ist es durchaus wichtig, die unterschiedlichen Bedeutungsebenen unterscheiden zu können, auf die verschiedene geläufige Begriffspaare zur Kennzeichnung von Methodendifferenzen verweisen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich nämlich, dass z. B. „qualitative“ Forschungsdesigns mitunter auch Gebrauch von quantitativen → Daten machen oder dass auch mit qualitativen Daten hin und wieder nomologisch-deduktiv, also hypothesentestend verfahren wird. Ohne die wesentlichen Unterschiede damit einzuebnen, zeigt eine differenzierte Betrachtung der unterschiedlichen Bedeutungsebenen, dass die auf den ersten Blick fundamental und wechselseitig exklusiv wirkende Entgegensetzung von qualitativ vs. quantitativ durchaus Unschärfen und Übergangszonen aufweist. Damit ist zwar nicht umstandslos qualitative und quantitative Sozialforschung miteinander kombinierbar, wir gewinnen so aber die erforderlichen Argumente und Kriterien, um diese Frage differenziert und gegenstandsangemessen entscheiden zu können.
(1) Beginnen wir also mit dem geläufigsten Gegensatzpaar, der besagten Unterscheidung von qualitativ und quantitativ. Diese mutet auf den ersten Blick seltsam an: Man sollte doch erwarten, dass auch quantitativ ausgerichtete Studien eine hohe Qualität aufweisen. Auch ist die große Quantität von Arbeit kaum von der Hand zu weisen, die eine gute qualitative Untersuchung den Forschenden abverlangt. Tatsächlich zielt die Unterscheidung von qualitativ vs. quantitativ im Kern nicht auf die Methode, sondern auf die Art und den methodischen Status von Daten, die im Laufe der Forschungsarbeit produziert werden.
Qualitative Methoden der Datengewinnung erzeugen → Material, dessen Gehalt sich mit formalen, quantifizierenden Auswertungen nicht angemessen erschließen lässt: Es bedarf in erheblichem Maße der → Interpretation, des Verstehens. Beispiele hierfür sind die offene Beobachtung mit dem Ergebnis ausführlicher Beobachtungsprotokolle oder das narrative Interview mit dem Ergebnis einer wörtlichen Abschrift (Transkript) des Gesprächsverlaufs. In beiden Fällen erhalten wir umfangreichen Text als Material, das dann in der analytischen, interpretativen und rekonstruktiven Bearbeitung – oft zusammengefasst als „qualitative Datenanalyse“ bezeichnet – zu qualitativen Daten verarbeitet wird. Ein besonderes Merkmal qualitativer → Daten ist deren Kontextfülle: Nicht partialisierte Einzelinformationen, sondern ineinander eingebettete und aufeinander verweisende Wissenselemente machen die Qualität qualitativer Daten aus und ermöglichen die analytischen und interpretativen Verfahren der qualitativen Sozialforschung. Wissen wird hier als Relation zwischen Material und Forscher verstanden: Erst die analytische Einstellung der Forscherin, erst der durch die Forschungsfrage gerichtete Blick transformiert z. B. Ausschnitte eines Interviewtranskripts in relevantes Wissen und in diesem Sinne in Daten.
Mit quantitativen Methoden sind hingegen solche gemeint, die soziale Phänomene und ihre Eigenschaften zählen und messen und sich zur Auswertung vor allem statistischer, also mathematischer Verfahren bedienen. Das klassische Beispiel hierfür sind die Daten, die ein vollstandardisierter Fragebogen oder auch ein psychologisches Experiment erbringt. Beide Instrumente standardisierter Datenerhebung setzen jeweils Stimuli und zeichnen die Reaktionen als Daten auf, die dann aggregiert und in ihrer Aggregation – eben als Quantitäten – verarbeitet werden. Dies impliziert, dass in der Datenaufbereitung und im analytischen Zugriff die Einzelinformationen von ihrem Kontext getrennt und erst auf höheren Aggregationsebenen wieder aufeinander bezogen werden.
Qualitative bzw. quantitative Daten sind jedoch nicht von vornherein gegeben, sondern sie sind das Ergebnis zielgerichteter Herstellungsprozesse. Das ist auch der Grund, weshalb in diesem Buch die Unterscheidung von → Material und → Daten bemüht wird. Erst die Art seiner Gewinnung, Aufbereitung und Auswertung macht unser Material zu qualitativen oder quantitativen Daten. Ob wir mit einer erwerbslosen alleinerziehenden Mutter dreier Kinder in einer strukturschwachen ländlichen Region ein narratives, d. h. biografisch-erzählgenerierendes Interview führen oder ihr einen standardisierten Fragebogen zusenden, ob wir das Material umfassend als Text oder Video bearbeiten oder die Einzelinformationen in einer Datenmatrix abbilden, ob wir den einzelnen Fall in seiner Gesamtheit untersuchen, ihn mit anderen vergleichen oder die Einzelinformationen mit denen anderer Fälle zusammenfassen und dann erst vergleichen: In diesen Schritten konstruieren wir die Daten für unsere jeweilige Untersuchung.
(2) Eine andere häufig gebrauchte Unterscheidung ist die zwischen erklärenden und verstehenden Zugängen zu den Daten. Diese Unterscheidung zielt also auf die Ebene des Erkenntnismodus: Es geht, grob gesagt, darum, ob wir entweder Phänomene in ihrem jeweiligen Zusammenhang und in ihrer Besonderheit nachvollziehen oder ob wir sie als Exemplar eines allgemeinen Zusammenhangs bestimmen wollen. Dieser Unterschied zwischen Erklären und Verstehen ist in methodologischen Debatten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder zu einem unüberbrückbaren Gegensatz stilisiert worden. Dies berührt die grundsätzliche Frage, ob alle Gegenstandsbereiche der Forschung, in Naturwissenschaften und Medizin ebenso wie in Sozial- und Geisteswissenschaften, mit ein und derselben Methode zu erforschen sind (Methodenmonismus) oder ob aus der Unterschiedlichkeit der Forschungsgegenstände auch das Erfordernis grundlegend unterschiedlicher Methoden resultiert (Methodendualismus).
Als Johann Gustav Droysen etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Methodendualismus genannte Position aus geisteswissenschaftlicher Perspektive zu vertreten begann, wollte er erreichen, dass der Geschichtswissenschaft nicht zugemutet wird, ihre Wissenschaftlichkeit an der naturwissenschaftlichen Forschungslogik kausalen Erklärens ausrichten zu müssen, denn diese wäre dem Forschungsgegenstand der Geschichtswissenschaften fremd. Es gehe dort schließlich nicht um die immer gleichen Gesetzmäßigkeiten, bei denen definierte Ursachen die immer gleichen Folgen verursachen. Anders als in der deterministischen Betrachtungsweise der Naturwissenschaften, gehe es in der historischen Forschung um die Auseinandersetzung mit menschlicher Willensfreiheit und mit der Möglichkeit sittlicher Entscheidungen. In die heutige Sprache übersetzt könnte man sagen: Es geht um die Kontingenz menschlichen Handelns und darum, dass in sozialen anders als in vorsozialen Prozessen immer schon Sinnzuschreibungen vorliegen und analytisch in Betracht gezogen werden müssen (darauf kommen wir noch ausführlich zurück). Wilhelm Dilthey argumentierte rund ein halbes Jahrhundert später noch stärkererkenntnistheoretisch: Weil sich die Geisteswissenschaften stärker mit der Singularität kultureller Hervorbringungen befassten, bedürften sie eines anderen Zugangs zur Wirklichkeit als ihn die Naturwissenschaften für sich entwickelt hätten. Insbesondere erfordere das Verständnis des Singulären „nicht nur die äußere Beobachtung, sondern ebenso den inneren Nachvollzug des Gegebenen“ (Kelle 1994: 59). Zwar reiche die reine Introspektion nicht hin, es müsse also schon mit den Sinnestatsachen begonnen werden. Es sei aber noch etwa „Inneres“ (Dilthey) zu ergänzen: „Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von außen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen: Verstehen“ (Dilthey 2004/1900: 22).
Der Gedanke, dass die bloße Anschauung empirischer Tatsachen und deren vergleichende Betrachtung noch nicht zu Erklärungen historischer oder sozialer Phänomene führt, sondern die Forschenden als kompetente Akteure an der Entschlüsselung der wahrgenommenen Wirklichkeit innerlich beteiligt sind und sein müssen, nimmt vorweg, was spätere Sozialtheorien etwa von Alfred Schütz, George Herbert Mead oder Karl Mannheim für die Sozialwissenschaften näher bestimmen sollten: Die Entschlüsselung der Sinnzuschreibungen, auf deren Basis Menschen sozial handeln, kann nur gelingen, wenn die Forscherinnen ihre eigene Kompetenz als soziale Wesen in einen interpretativ-verstehenden Zugang auf das Datenmaterial einbringen. Diese Position hat als erster Max Weber mit seiner berühmten Definition von Soziologie entwickelt: „Soziologie soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“ (Weber 1980/1922).
Für ein problematisches Missverständnis im Verhältnis von Verstehen und Erklären hat Droysen selbst gesorgt, denn wenn er schreibt „(d)ie historische Forschung will nicht erklären“ (zit. n. Kelle 1994: 58), dann ist damit jene falsche Polarisierung angelegt, die noch heute in methodologischen Diskursen anzutreffen ist. Mit dem Hinweis auf die Unabdingbarkeit eines verstehenden Zugangs zu sozialen Prozessen ist – wie Max Weber schon früh gezeigt hat – nicht notwendig ein Verzicht auf die Bestimmung kausaler Zusammenhänge verbunden. Allerdings bedarf es dann eines Begriffs von Erklären, der auf die Behauptung einer quasimechanischen Kopplung von Folgen aus Ursachen verzichtet und die Kontingenz menschlichen Handelns mitdenkt. Damit ergibt sich als Erkenntnisweg sozialwissensc...

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