Das Buch befragt die deutsche Literatur- und Geistesgeschichte nach der VerdrĂ€ngung der jĂŒdischen Tradition und markiert die LĂŒcken, die durch die Vertreibung der geistigen ReprĂ€sentanten des Judentums aus dem deutschen Sprachraum gerissen worden sind.
Als in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts uneingeschrĂ€nkte Bewunderung fĂŒr das antike Griechentum aufkam, wurde gleichzeitig das sich gerade der europĂ€ischen AufklĂ€rung öffnende Judentum auf dem Schauplatz der Religionskritik vehement bekĂ€mpft. In diesem Kontext ist der aggressive Antijudaismus zu verstehen, mit dem sich Goethe und Schiller gegen die Sinai-Offenbarung und deren legendĂ€ren Mittler Moses wandten. Beginnend mit Winckelmann hat die deutsche Klassik einen neuen Legitimationsdiskurs geschaffen, der unter RĂŒckgriff auf den antiken Polytheismus das 'produktive Individuum' und die 'wachsende Natur' zu seinen zentralen Kategorien machte und damit den geltenden Monotheismus zu verdrĂ€ngen suchte. Im Gegensatz dazu suchten Mendelssohn und Heine die Position einer deutsch-jĂŒdischen Moderne zu etablieren. Das Buch verfolgt, wie der 'Weltanschauungskampf' gegen den Monotheismus zum 'völkischen' Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts fĂŒhrte und in der Shoa mĂŒndete, was die VerdrĂ€ngung der jĂŒdischen Tradition aus dem kulturellen GedĂ€chtnis der Deutschen zur Folge hatte.
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Johann Joachim Winckelmanns Erfindung des neuzeitlichen Individualismus aus dem Geiste des Griechentums
Dresden und Leipzig
In der Mitte des 18. Jahrhunderts, zu Beginn der europĂ€ischen AufklĂ€rung, hat sich etwas Unerhörtes ereignet. Johann Joachim Winckelmann, einem Schulmeister aus der tiefsten mĂ€rkischen Provinz, ist es gelungen, mit einer kleinen, kaum fĂŒnfzig Seiten umfassenden Schrift unter dem Titel Gedanken ĂŒber die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst von 1755 den Lauf der Welt, jedenfalls den der mitteleuropĂ€ischen, zu Ă€ndern.7 Nicht auf Grund eines ausgeklĂŒgelten philosophischen Systems, durch das dreiĂig Jahre spĂ€ter Immanuel Kant das Denken revolutionierte, sondern auf Grund seines genieĂenden, der eigenen Sinnlichkeit sich anvertrauenden Blicks auf die Antike hat er das geistige Umfeld seiner Zeit neu gestaltet. Es ist dies ein Minderheitenblick, der eines Homosexuellen, der in der guten Gesellschaft der Zeit sich nicht offen aussprechen durfte, der aber unbekĂŒmmert um AufklĂ€rung und Vernunft die âSeelengröĂeâ, magnanimitas, in den Epen Homers gefunden hatte und in der Beschreibung antiker Statuen deren angemessene Ausdrucksform suchte.
Die enthusiastische Rezeption des Griechentums im Deutschland der zweiten HĂ€lfte des 18. Jahrhunderts, die von den Schriften Johann Joachim Winckelmanns ihren Ausgang nimmt, entzieht sich einer monokausalen ErklĂ€rung. Vielfache historische, aber auch individuelle und kontingente Ursachen sind fĂŒr diesen Paradigmenwechsel verantwortlich. ZunĂ€chst ist festzuhalten, dass bis weit ĂŒber die Mitte des 18. Jahrhunderts die Antike als Vorbild fĂŒr Literatur, Kunst und LebensfĂŒhrung noch unhinterfragt gĂŒltig blieb, wie an der Poetologie der Zeit abzulesen ist. Von Aristotelesâ Poetik fĂŒhrt ein ungebrochener Traditionsstrang ĂŒber De Arte Poetica des Horaz und Julius Caesar Scaligers Poetices Libri Septem bis hin zu Johann Christoph Gottscheds Versuch einer critischen Dichtkunst, der den eigenen AusfĂŒhrungen in der vierten Auflage seiner Abhandlung von 1751 âHoraz von der Dichtkunst ĂŒbersetzt und mit Anmerkungen erlĂ€utertâ voranstellt. In dieser Weise hatte sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts jede Ă€sthetische Neuerung an der autoritativen Tradition der Antike wie an einem Probierstein auszuweisen.
Das Neue, das Winckelmann in den Ă€sthetischen Diskurs einfĂŒhrt, ist die Hinwendung zur und die ausschlieĂliche Berufung auf die griechische Literatur und Kunst und gleichzeitig die radikale Abwendung von den Römern, die bei Franzosen und EnglĂ€ndern, aber auch in der deutschsprachigen mittleren AufklĂ€rung ungebrochen traditionsbildend geblieben waren. Noch zu Beginn der sechziger Jahre hat deren wichtigster literarischer ReprĂ€sentant, Christian FĂŒrchtegott Gellert, sich auf die durch Rom tradierte NachahmungsĂ€sthetik und deren gesellschaftliche Funktion berufen. Gellerts literarische Veröffentlichungen waren alle im Zeitraum zwischen 1746 und 1757, also in der kurzen Friedensperiode in Sachsen nach Beendigung des Zweiten Schlesischen Kriegs und vor Beginn des SiebenjĂ€hrigen Kriegs erschienen. In diesen zehn Jahren, die man als Höhepunkt und Abschluss des Augusteischen Zeitalters in Sachsen bezeichnen kann, hatte er in Leipzig ein Zentrum bĂŒrgerlicher literarischer Kultur geschaffen, das auf den dortigen Verlagen und der UniversitĂ€t als den sie tragenden Institutionen aufbaute und mit seiner empfindsamen AufklĂ€rung auf ganz Europa ausstrahlte.8 Mit ihr zielte er darauf, dem herrschenden Adel durch seine TĂ€tigkeit als Lehrer und Erzieher die moralischen Werte des BĂŒrgertums nahezubringen und ihn dadurch aufzuklĂ€ren. Mitte der sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts, als Winckelmann sein Hauptwerk Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) publizierte und in seinen Briefen immer wieder die Erfahrung von Freiheit und persönlicher UnabhĂ€ngigkeit hervorhob, hatte der beinahe gleichaltrige Gellert lĂ€ngst seine literarische Wirksamkeit aufgegeben und seine TĂ€tigkeit auf die periodisch wiederholten Vorlesungen ĂŒber die âschönen Wissenschaftenâ und ĂŒber die âMoralâ an der Leipziger UniversitĂ€t beschrĂ€nkt.9
Als Erzieher ist Gellert aufs Engste mit dem sĂ€chsischen Hochadel verbunden. Doch ist er immer der untertĂ€nige Diener geblieben, der durch seine moralische Belehrung den König und den regierenden Adel zu besseren Herrschern erziehen wollte. So wurde er im Juni 1750, als sich Hans Moritz von BrĂŒhl, der Neffe des sĂ€chsischen Premierministers unter August III., Heinrich Reichsgraf von BrĂŒhl, in Leipzig immatrikulierte, dessen Erzieher. Auf ihn verfasste er ein Huldigungsgedicht zu seinem vierzehnten Geburtstag, in dem er ihn, seinen âgeliebtesten SchĂŒlerâ, zum âWohlthunâ im Sinne einer christlichen Ethik ermahnt.10 Auch fĂŒr das regierende Haus selbst stellte er sich als Berater und Erzieher zur VerfĂŒgung. So hielt er im Oktober 1767 âauf der UniversitĂ€tsbibliothek zu Leipzigâ fĂŒr den damals siebzehnjĂ€hrigen KurfĂŒrsten Friedrich August III. eine Privatvorlesung Von den Ursachen des Vorzugs der Alten vor den Neuern in den schönen Wissenschaften, besonders in der Poesie und Beredsamkeit.11 Sie ist der Versuch, die Kunst in den Dienst aufklĂ€rerischer FĂŒrstenerziehung zu stellen. In diesem Zusammenhang behauptet Gellert, dass gerade die Nachahmung der antiken Vorbilder der Grund fĂŒr die geringere QualitĂ€t der Kunst der Neueren ist: âWir, die wir die Werke der Alten mit Rechte verehren, da wir sie so vortrefflich finden, ahmen vielleicht mehr die Copien der Natur, als die Natur selbst nach. Vielleicht folgen wir nicht sowohl dem idealischen Schönen in unserm Verstande, als dem schon vorhandenen in den Werken der Alten.â12
Trotz dieser Relativierung des Nutzens âder Altenâ nimmt Gellert in der âQuerelle des Anciens et des Modernesâ fĂŒr den Vorzug der antiken Kunst vor den Neueren Stellung und bleibt damit der traditionellen Imitatio-Ăsthetik verhaftet. FĂŒr ihn ist die Natur das Vorbild aller Schönheit in der Kunst. Die Werke der âAltenâ sind nur deshalb denen der Neueren vorzuziehen, weil sie âein aus den Quellen der allgemeinen Vernunft, ein aus der Natur geschöpftes Schönesâ darstellen.13 Zudem ist in seiner Perspektive die Schönheit kein Wert an sich, sie steht immer im Dienst moralischer und sozialer Besserung. âSo werden selbst Weisheit und Tugend mit dem Geschmacke wachsen; und je mehr wir diese durch den Dienst der schönen Wissenschaften zu befördern suchen, desto reiner und rĂŒhmlicher wird der Geschmack werden.â14 Weshalb seine Privatvorlesung auch mit einem Appell an den âDurchlauchtigsten ChurfĂŒrsten und Herrnâ endet, die âAufnahme der KĂŒnste und Literatur in Dero Landenâ weiter zu unterstĂŒtzen und dadurch âWeisheit und Gottesfurchtâ zum âSegenâ aller Sachsen zu befördern.
Ganz anders hingegen Winckelmanns Erstlingsschrift Gedanken ĂŒber die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, die er 1755 in einer Auflage von fĂŒnfzig Exemplaren als Privatdruck herausbrachte und die auch dank der geschickten Vermarktung durch ihren Autor schnell BerĂŒhmtheit erlangte. Das Aufsehen und die Nachfrage unter den deutschen Literaten waren so groĂ, dass sie schon ein Jahr nach dem ersten Erscheinen, Winckelmann lebte damals bereits in Rom, in einer âzweyten vermehrtenâ Auflage und erweitert um ein vom Autor selbst verfasstes kritisches âSendschreibenâ und dessen Widerlegung in einer âErlĂ€uterung der Gedankenâ, erneut gedruckt werden konnte und bald darauf ins Französische und Italienische ĂŒbersetzt wurde.15 Der grundlegende Text ist von ĂŒberraschender KĂŒrze. Nur die ersten siebenundzwanzig Seiten exponieren die Gedanken des Autors zu Ă€sthetischen Fragen und beschreiben die fĂŒr ihn beispielhaften Werke der Kunst, danach widmet er sich einer âNachforschungâ ĂŒber spezifische kĂŒnstlerische Techniken. Dennoch hat der Text als programmatisches Manifest gewirkt, das der Autor, wie er selber sagt, âmit groĂer Freyheit geschriebenâ hat. (WB 1, 170)
Abb. 1: Verkleinerte Kopie der Laokoon-Gruppe. Bronze. 1. HĂ€lfte des 17. Jahrhunderts. Staatliche Kunstsammlungen Dresden.
Die Bedeutung, die der unabhĂ€ngige Denker der antiken Kunst beimisst, ist deren EinschĂ€tzung durch seinen Zeitgenossen Gellert durchaus kontrĂ€r. Winckelmanns These lautet: âDer einzige Weg fĂŒr uns groĂ, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Altenâ. (WG, 3) Der Gegensatz, der sich zwischen den beiden Schriftstellern auftut, beruht unter anderem auf dem unterschiedlichen kulturellen Umfeld, in dem sie sich bewegen. WĂ€hrend Gellert der bĂŒrgerlichen, universitĂ€ren Kultur Leipzigs verpflichtet ist, partizipiert Winckelmann an der unter dem sĂ€chsischen KurfĂŒrsten und polnischen König August III. und seinem Premierminister Heinrich von BrĂŒhl in aller spĂ€tbarocken Pracht sich entfaltenden Hofkultur Dresdens,16 seit er ab 1748 als wissenschaftlicher Bibliothekar fĂŒr den Grafen von BĂŒnau auf dessen Gut Nöthnitz in der NĂ€he von Dresden arbeitet und schlieĂlich im letzten Jahr vor seiner Abreise nach Rom in der Residenzstadt selbst lebt. Hier bekommt er Zutritt zur Königlichen Galerie, die er mit starker Ăbertreibung in einem Brief vom Juni 1755 âdie gröĂte [âŠ] in der Weltâ nennt. Im gleichen Brief erwĂ€hnt er, dass die âBeschreibungâ der antiken Statuen in seinem Erstlingswerk âohne BĂŒcherâ, vielmehr ânach sehr fleiĂigen AbgĂŒĂen in Gips die der König hat, gemachtâ sei. (WB 1, 171f.) Damit bezieht sich Winckelmann auf die Gruppe der von ihm so genannten âdrey Vestalenâ (WG, 17), marmorne Frauenfiguren aus der Zeit des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, die im Jahr 1711 in Herkulaneum ausgegraben und 1736 ĂŒber Wien nach Dresden gekommen waren.17 Allerdings waren sie wĂ€hrend Winckelmanns Dresden-Aufenthalt nicht frei zugĂ€nglich, sondern wegen einer kurfĂŒrstlichen Hochzeitsfeier aus dem Gartenpalais, wo sie zuerst aufgestellt waren, entfernt und mit anderen Statuen auf engem Raum in einem NebengebĂ€ude abgestellt worden, weshalb Winckelmann sich fĂŒr ihr Studium mit den Kopien begnĂŒgen musste.18 FĂŒr die berĂŒhmteste seiner Beschreibungen, die der Laokoon-Gruppe, kann auch das nicht zutreffen. Von ihr lĂ€sst sich im Jahr 1755 kein Abguss in der Dresdener Galerie nachweisen. So war Winckelmann fĂŒr ihre Betrachtung auf eine verkleinerte, barockisierte Bronzekopie des Kunstwerks aus der ersten HĂ€lfte des 17. Jahrhunderts, die seit 1714 in Dresden nachweisbar ist, und auf mehr oder weniger treffende graphische Wiedergaben des berĂŒhmten Kunstwerks angewiesen.19
Es bleibt jedoch festzuhalten, dass sich Winckelmanns neue Sicht auf die Antike der GroĂzĂŒgigkeit des Dresdner Hofs verdankt, wie er denn auch in der Einleitung zu seiner Schrift August III. als den âdeutschen Titusâ preist. Gemeint ist der römische Kaiser Vespasian, der Rom nach dem Brand der Stadt unter Nero mit groĂartigen Bauten und DenkmĂ€lern geschmĂŒckt hat.20 Winckelmanns FĂŒrstenlob gipfelt in den SĂ€tzen: âSein Eifer, die KĂŒnste zu verewigen, hat endlich nicht geruhet, bis wahrhafte untrĂŒgliche Werke griechischer Meister, und zwar vom ersten Range, den KĂŒnstlern zur Nachahmung sind gegeben worden. | Die reinsten Quellen der Kunst sind geöffnet: glĂŒcklich ist, wer sie findet und schmecket. Diese Quellen suchen, heiĂt nach Athen reisen; und DreĂden wird nunmehro Athen fĂŒr KĂŒnstler.â (WG, 2) Mit dieser Formulierung stellt sich Winckelmann implizit auf eine Stufe mit dem SouverĂ€n. Denn wie dieser mit seiner Galerie, gibt er in seiner Schrift Von der Nachahmung der griechischen Werke die âwahrhafte[n] untrĂŒgliche[n] Werke griechischer Meister [âŠ] den KĂŒnstlern zur Nachahmungâ. (WG, 2)
Winckelmanns Selbst- und Menschenbild ist ursprĂŒnglich durch seine intensive LektĂŒre und die umfangreichen Exzerpte antiker Schriftsteller geformt, die er in den vierziger Jahren als Konrektor in Seehausen, aber auch noch wĂ€hrend seiner TĂ€tigkeit als Bibliothekar in Nöthnitz angefertigt hat. Insbesondere die von Homer an seinen Helden immer wieder hervorgehobene âSeelengröĂeâ wird von ihm als vorbildlich empfunden.21 In dem groĂen Brief vom 6. Januar 1753, in dem er seinem Jugendfreund Hieronymus Dietrich Berendis seinen Entschluss eröffnet, nach Rom ĂŒberzusiedeln, und ihn bittet, seinen bevorstehenden Glaubenswechsel seinem Dienstherrn, dem Grafen von BĂŒnau, mitzuteilen, begrĂŒndet er seinen Plan mit dem Satz: âMan muĂ die gemeine Bahn verlassen, sich zu erheben.â Und er fĂ€hrt fort, das Einzige, worin er sich âhervortunâ könne, sei âdie griechische Literaturâ und der einzige Ort, sie âaufs höchste zu treibenâ, sei Rom; âdenn man muss sich doch durch etwas, das in die Augen fĂ€llt erhebenâ. (WB 1, 120f.) Die mehrfache Formulierung seines ehrgeizigen Lebensplanes als Wunsch, âsich zu erhebenâ, verwandelt diese ursprĂŒnglich zum religiösen Wortschatz gehörige Redewendung in einen Ausdruck des sozialen Aufstiegswillens Winckelmanns, wobei die unbewusste Anlehnung an einen zentralen Vers aus Homers Ilias eine Rolle gespielt haben mag. Von Peleus, dem Vater des Achill, wird gesagt, er habe seinem Sohn als Lebensregel mitgegeben: âImmer bester zu sein und ĂŒberlegen zu sein den anderen.â22
In dem Verfahren, aus kanonischen Schriften, vor allem aus Ilias und Odyssee, weitlĂ€ufige Exzerpte anzulegen, lĂ€sst sich Winckelmanns NĂ€he und gleichzeitig seine radikale Distanz zum zeitgenössischen Pietismus belegen. Wie dieser seine tĂ€glichen Losungen zum Zweck der eigenen Seelenerforschung aus der Bibel und anderen erbaulichen Schriften sammelt - die im Nachlass ĂŒberlieferten religiösen Selbstbekenntnisse und TĂ€glichen Aufzeichnungen Gellerts aus den sechziger Jahren sind hierfĂŒr ein sprechender Beleg -,23 so vergewissert sich Winckelmann seiner eigenen IdentitĂ€t in den von ihm gefertigten AuszĂŒgen aus Homer, Pindar, Plutarch und anderen griechischen Schriftstellern. In dem schon zitierten Brief vom 6. Januar 1753 begrĂŒndet er die Eigenart und SelbststĂ€ndigkeit seiner IndividualitĂ€t in Begriffen, die unmittelbar dem pietistischen Vokabular entstammen: âDer Finger des AllmĂ€chtigen, die erste Spur seines WĂŒrckens in uns, das ewige Gesetz und der allgemeine Ruf ist unser Instinkt: Demselben muĂt Du und ich, aller Widersetzlichkeit ohngeachtet folgen. Dieses ist die offene Bahn vor uns. Auf derselben hat uns der Schöpfer die Vernunft zur FĂŒhrerin gegeben: wir wĂŒrden wie Phaeton ZĂŒgel und Bahn ohne derselben verlieren. || Pflichten, welche aus diesem Prinzipio flieĂen, vereinigen alle Menschen in eine Familie zusammen. Hierinn bestand bis auf Mosen Gesetz und die Propheten. Die folgenden göttlichen Offenbarungen erhalten ihre Ăberzeugung nicht durch den todten Buchstaben, sondern durch göttliche RĂŒhrungen, die ich, wie vielen GlĂ€ubigen geschehen, billig auch an mich in stiller Anbetung erwarte. || Da hast Du mein widerhohltes Glaubens-BekĂ€nntniĂ.â (WB 1, 121)
Mit diesen SĂ€tzen, im Vorfeld seiner Konversion zum Katholizismus geschrieben, verkĂŒndet Winckelmann unter Hinweis auf das der griechischen Mythologie entnommene Bild vom Lenker des Sonnenwagens Phaeton seine persönliche Lebens- und Weltanschauung. Er nennt sie sein âGlaubens-BekĂ€nntniĂâ, aber es ist ein durchaus weltliches, ja ein geradezu antitheologisches Glaubensbekenntnis. Moses und die Propheten, die der westlichen Welt den M...
Table of contents
Cover
Titelseite
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. AufklÀrung durch Kunst: Johann Joachim Winckelmanns Erfindung des neuzeitlichen Individualismus aus dem Geiste des Griechentums
2. Juno Ludovisi und das Zeremonialgesetz: Der Eintritt des Judentums in die europÀische Kultur der AufklÀrung und der Antijudaismus der deutschen Klassik