Die Figur im Film
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Die Figur im Film

Grundlagen der Figurenanalyse

Jens Eder

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Die Figur im Film

Grundlagen der Figurenanalyse

Jens Eder

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Figuren sind für Spielfilme und das Erleben der Zuschauer von zentraler Bedeutung. Dieses Buch stellt das bislang umfassendste Modell zur Untersuchung von Filmfiguren in ihren vielfältigen Formen und Funktionen vor. Um dafür eine neuartige Grundlage zu schaffen, wurden die Erkenntnisse verschiedener Disziplinen integriert und auf einen griffigen Kern verdichtet: die "Uhr der Figur". Das Modell verzeichnet vier Aspekte, unter denen Figuren betrachtet werden können: Als Artefakte sind sie durch audiovisuelle Mittel gestaltet. Als fiktive Wesen zeichnen sie sich durch körperliche, mentale und soziale Eigenschaften aus. Als Symbole vermitteln sie darüber hinausgehende Themen und Bedeutungen. Als Symptome verweisen sie schließlich auf soziokulturelle Ursachen (ihrer Produktion) und Wirkungen (ihrer Rezeption). In Verbindung mit diesen vier Aspekten behandelt das Buch die Funktionen einzelner Charaktere im Film, ihr Verhältnis zur Handlung, ihre Stellung innerhalb der Figurenkonstellation sowie die emotionale Anteilnahme, die sie bei Zuschauern auslösen. Für jeden der Bereiche bietet das Modell neuartige, differenzierte Analysemethoden auf kognitionswissenschaftlicher Basis an, die durch Grafiken, Tabellen und Leitfragen zusammengefasst werden. Eine große Bandbreite unterschiedlicher Filmbeispiele veranschaulicht die theoretischen Konzepte, darunter ausführliche Analysen zum Klassiker Casablanca und zu Polanskis Der Tod und das Mädchen. Ein detailliertes Inhaltsverzeichnis und ein Register machen das Buch auch zum Nachschlagen geeignet.

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Información

Año
2013
ISBN
9783894727925

1. Einleitung

Genau betrachtet, ist es etwas Merkwürdiges. In einer Welt, deren Bevölkerung beständig wächst, in der wir immer dichter beieinander leben und unsere Kontakte sich durch technische Kommunikationsmittel und zunehmende Mobilität vervielfältigen – in dieser schrumpfenden, globalisierten Welt explodiert zugleich die Zahl erfundener Wesen, mit denen wir uns beschäftigen. Parallel zum realen Bevölkerungswachstum findet ein Wachstum der fiktiven Bevölkerung in unseren Medien, unseren Gedanken, Träumen und Vorstellungen statt. Fiktive Figuren, Produkte der menschlichen Vorstellungskraft, sind überall, und wenn sie nicht vergessen werden, sterben sie nie.
Der Ausdruck «Figur» stammt vom lateinischen «figura», «Gebilde», und kann sehr Unterschiedliches bezeichnen, darunter die Körpergestalt eines Menschen; deren plastische Nachbildung (Figurine); einen Spielstein (Schachfigur); einen Bewegungsablauf, z.B. beim Tanz oder Sport; eine geometrische Form; eine rhetorische Trope oder stilistische Wendung.1 All diese Bedeutungen verweisen auf eine wahrnehmbare Form, die sich von einem Hintergrund abhebt (Figur-Grund-Phänomen), und auf die menschliche Fähigkeit, etwas zu formen, zu erschaffen und zu gestalten. Das ist aber auch schon ihre wesentliche Gemeinsamkeit mit dem Gegenstand dieses Buches. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich auf Figuren als erfundene Wesen.
Die kulturelle Bedeutung solcher fiktiver Gestalten kann kaum überschätzt werden. Figuren dienen der individuellen und kollektiven Selbstverständigung, der Vermittlung von Menschenbildern, Identitäts- und Rollenkonzepten, sie dienen dem imaginären Probehandeln, der Vergegenwärtigung alternativer Seinsweisen, der Entwicklung empathischer Fähigkeiten, der Unterhaltung und emotionalen Anregung. Wahrscheinlich ist der Mensch das einzige Lebewesen mit der Fähigkeit, künstliche Welten zu erfinden, vom kindlichen Rollenspiel bis zur Produktion komplexer Medientexte wie Dramen, Romanen und Spielfilmen.2 Da Menschen nicht nur imaginationsfähige, sondern auch soziale Lebewesen sind, wenden sie ihre Aufmerksamkeit dabei vor allem dargestellten Gestalten zu, denen sie Bewusstseinsvorgänge und Handlungsfähigkeit zuschreiben: Figuren. Die Geschichten fiktionaler Erzählungen sind immer Geschichten von jemandem, ihre Handlung setzt Handelnde voraus.3 Oft sind diese Handelnden Charaktere, characters, wiedererkennbare Gestalten mit differenziert dargestellter Persönlichkeit.4
So stehen im Mittelpunkt von Spielfilmen Figuren verschiedenster Art – Rick Blaine oder Antoine Doinel, Sissi oder Tank Girl, Lassie, Alien oder HAL. Sie bilden Zentren der Identifikation und Kristallisationspunkte der Gefühle, fungieren als Vorbilder und abschreckende Beispiele, vermitteln neue Perspektiven oder bestätigen alte Vorurteile. Die Figuren großer Blockbuster sind eine Zeit lang omnipräsent und können zu mythischen Gestalten werden; die provozierenden oder enigmatischen Charaktere des Independent-Kinos können sich auf unvergessliche Weise einprägen. Figuren sind für das Verstehen und Erleben, für die Ästhetik und Rhetorik von Filmen ein zentraler Faktor. Sie prägen entscheidend deren Affektstrukturen, Thematik und Ideologie.
Aus diesem Grund sind Figuren in Filmkritik und Filmanalyse wichtige Bezugspunkte und nehmen im Produktionsprozess eine zentrale Stellung ein: Drehbücher werden abgelehnt, weil man sich mit den Charakteren nicht identifizieren kann, oder angenommen, weil sie gute Rollen für Stars enthalten. Ratgeber bemühen sich darum, die Gestaltung «unvergesslicher» Figuren zu lehren (z.B. Seger 1990). Mit großem Aufwand werden Darsteller gecastet und inszeniert. Nicht wenige Figuren lösen sich darüber hinaus von der einzelnen Filmerzählung und verbreiten sich intermedial. Sie werden auf Sequels oder Remakes und von einem Medium auf ein anderes übertragen: vom Comic auf den Film (DICK TRACY), vom Film aufs Theater (DAS URTEIL) oder auf Computerspiele (Alien vs. Predator), von der Literatur auf den Film (mehr als die Hälfte aller Oscar-Gewinner) und umgekehrt (die Indiana-Jones-Romane). Filmfiguren begegnen dem Zuschauer in Träumen und Trailern wieder, als Pappaufsteller der Werbung, als Plastikfigurinen des Merchandising und als verkleidete Zeitgenossen bei Kultfilm-Vorführungen. Figuren sind also von entscheidender Bedeutung für das Erleben und Erinnern von Filmen; für Wirkungen auf Denken, Fühlen, Verhalten der Zuschauer; für Filmanalyse und –kritik; für Produktionspraxis und Vermarktung. Dadurch, dass sie intermedial wandern können, erreichen populäre Charaktere wie James Bond über einzelne Filme hinaus kulturelle Präsenz, entwickeln ein medienunabhängiges Eigenleben im kollektiven Gedächtnis (vgl. Hügel 1999).
Dieser Bedeutung der Figur werden Theorie und Analyse trotz aller hermeneutischen Leistungen bisher nicht gerecht. In der Analyse werden Figuren oft rein intuitiv und unmethodisch untersucht oder kurz abgehandelt: nämlich auf ihre Handlungsfunktion reduziert. Zudem zersplittert die theoretische Behandlung von Figuren ihren Gegenstand wie ein Prisma in unverbundene Teilbereiche: Diskutiert werden neben Handlungsrollen vor allem die Darstellung bestimmter sozialer Gruppen (z.B. in Hinsicht auf Stereotypisierung und Diskriminierung), die Leistung von Schauspielern und Stars sowie Phänomene der Identifikation und Empathie. Dabei fehlt es jedoch an einer Gesamtperspektive, an einer Heuristik und einer argumentativen Infrastruktur, kurz: einer umfassenden theoretischen Grundlage. Dass man auf diese nicht verzichten kann, wird deutlich, wenn man sich den Zweck und Zusammenhang von Figurenanalyse und Figurentheorie klar macht.
Das Ziel dieses Buchs besteht deshalb darin, Erkenntnisse aus verschiedenen Bereichen miteinander in Verbindung zu bringen, um eine systematische Grundlage der Figurenanalyse zu entwerfen. Im Mittelpunkt dieses Entwurfs steht die anthropomorphe Figur des Spielfilms und anderer nicht-interaktiver, audiovisueller Bewegtbildmedien. Viele Überlegungen gelten jedoch auch für Figuren, die nicht menschengleich sind, für Tiere, Roboter, Fantasiewesen; für Figuren in anderen Medien, etwa Literatur oder Theater; und für Figuren in nicht-narrativen Texten, z.B. Avatare in Ratgeber-CD-ROMs. Manches lässt sich auch auf die Präsentation realer Personen in Dokumentarfilm und Fernsehen übertragen. Ein solcher Versuch, Übersicht zu gewinnen, ist heutzutage, in einer Zeit der Spezialisierung und Differenzierung, eher unpopulär und angesichts des kaum überschaubaren Gegenstandsbereichs auch riskant. Es geht hier aber nicht darum, eine «Große Theorie» mit Ewigkeitsanspruch zu entwickeln, sondern um eine vorläufige Diskussionsgrundlage, die in ihren Strukturen eher offen und modular ist. Die spezifische Medialität der Figur im Film spielt dabei eine wichtige, aber nachgeordnete Rolle. Zur Medienspezifik des Films existiert bereits eine ganze Tradition umfassender und differenzierter Arbeiten, zum Phänomen der Figur und den allgemeinen Grundlagen seiner Analyse jedoch nicht.
Das integrative Ziel dieses Buchs bringt es mit sich, dass seine Begriffsverwendung nicht völlig mit einzelnen Diskursen und Theorien übereinstimmt. Fast nie konnte ich eine etablierte Terminologie einfach übernehmen, sondern musste versuchen, die Sprachspiele und Konzepte verschiedener Ansätze einander anzupassen und entsprechende Modifikationen vorzunehmen. Es mag zunächst irritieren, wenn ich mich beispielsweise auf die Kognitionswissenschaften stütze und trotzdem für Filme den semiotischen Ausdruck «Text» verwende. Es ließen sich auch weder unausgesprochene Voraussetzungen noch Wiederholungen und begriffliche Unschärfen völlig vermeiden. Ich hoffe, dass das Ergebnis bei näherer Betrachtung dennoch überzeugt. Begriffe, die nicht sofort verständlich sind, sollten sich im Rückgriff auf das Register und die betreffenden Kapitel nachvollziehen lassen.
Das Buch richtet sich an unterschiedliche Leser, von denen manche vermutlich eher an der Analysepraxis interessiert sind, andere eher an der Theorie. Ich habe versucht, dies durch den Aufbau des Buches und entsprechende Hinweise zu berücksichtigen, die am Ende dieser Einleitung näher skizziert werden. Davor sind einige grundlegende Voraussetzungen zu klären: Wozu betreibt man überhaupt Figurenanalyse? Wie können Theorien dabei helfen? Was ist der aktuelle Stand dieser Theorien? Zuerst muss also gezeigt werden, dass eine Konzentration auf Figuren bei der Analyse sinnvoll sein kann. Dies ist keineswegs selbstverständlich, denn bisher werden Figuren oft nur marginal oder intuitiv behandelt; man konzentriert sich auf Genres, Erzählperspektiven, vor allem aber auf die Handlung. Sollte man Figuren also eher im größeren Zusammenhang der Handlung untersuchen, oder verdienen sie eine eigenständige Betrachtung?

1.1 Das Verhältnis von Figur und Handlung

«You’ve got to tell us more than what a man did. You’ve got to tell us what he was», fordert der Zeitungsherausgeber den Reporter auf, der Biographie und Persönlichkeit des verstorbenen Charles Foster Kane rekonstruieren soll (CITIZEN KANE). Dieselbe Aufforderung könnte man auch an die Theorie von Literatur, Theater und Film richten, die über lange Zeit Figur und Handlung gegeneinander ausgespielt, dabei die Handlung vorgezogen und die Figur vernachlässigt hat. Im Strukturalismus und in sogenannten Aktantenmodellen werden Figuren auf bloße Handlungsfunktionen reduziert (vgl. dazu Chatman 1978, 108ff.; Koch 1992), und auch neuere dramaturgische Modelle fokussieren die Aufmerksamkeit fast immer auf Situation, Konflikt und Interaktion. Doch wenn solche Perspektiven der Analyse nicht durch andere ergänzt werden, die Figuren in den Mittelpunkt stellen, geraten wesentliche Aspekte der Erzählung aus dem Blick: Eigenschaften der Figuren, die von der Handlung unabhängig sind, werden ausgeblendet, und das Verstehen und Erleben der Zuschauer, das meist stark durch Figuren gelenkt ist, wird verzerrt modelliert. Die Handlung ist für die Figur Erfahrung (Stückrath 1992), die von Rezipienten in Prozessen der Perspektivenübernahme simulativ und empathisch nachvollzogen werden kann (vgl. Grodal 2001). Gerade im Kino «hat die Figur eine sinnliche Autonomie, die jegliche Handlung ihrer vorangehenden Existenz untergeordnet erscheinen lässt» (Bordwell 1992: 13). Und nicht nur die Prozesse der Anteilnahme an Figuren, sondern auch der moralische und thematische Diskurs des Textes und seine Rhetorik werden durch handlungsunabhängige Eigenschaften der Figuren mitbestimmt.
Dennoch ist seit Aristoteles immer wieder behauptet worden, in einer Erzählung sei die Handlung wichtiger als die Figuren (vgl. dazu Pfister 1988: 220). Die Behauptung ist in dieser Form zunächst einmal mehrdeutig, solange nicht geklärt ist, was mit «Handlung» gemeint ist. In zunehmender Einengung des Begriffs kann darunter verstanden werden:
1. der gesamte Ereigniszusammenhang der Geschichte einschließlich der Ereignisse, die nicht von Figuren ausgelöst werden, sondern durch Zufälle, Naturgewalten etc., sowie der Ereignisse, in die Figuren weder als Handelnde noch als Betroffene involviert sind, z.B. ein Sonnenaufgang, den nur die Zuschauer wahrnehmen;
2. das Verhalten der Figuren insgesamt und seine Folgen sowie die mentalen Vorgänge der Figuren;
3. nur das intentionale Verhalten der Figuren, ihr Reden und Tun; und schließlich
4. die körperlichen Aktionen der Figuren ohne ihre Sprechakte; so in der Forderung vieler Drehbuchratgeber, die Geschichte solle «durch Handlung erzählt werden» und nicht durch Dialoge.
Das Figurenverhalten im Sinne von 2) bis 4) macht dabei zwar nicht die ganze Handlung im Sinne von 1) aus, meist aber ihren wesentlichen Teil: Geschichten sind immer Geschichten von jemandem und erzählen in aller Regel das Handeln anthropomorpher Figuren (vgl. Eder 1999: 78–82). Figuren können dagegen prinzipiell auch gänzlich ohne Handlung dargestellt werden, etwa in Form von Porträts, Beschreibungen oder Plastiken. Sogar in zeitlichen Medien wie dem Film werden manche Nebenfiguren ohne eigene Handlungen charakterisiert, etwa durch eine Physiognomie, die auf ihren Charakter schließen lässt. Zumindest in manchen Medienformen und –phasen sind Figuren also unabhängig von der Handlung (in jedem Sinne), während dies umgekehrt nicht gilt.
Im Zusammenhang mit dem Spielfilm interessieren jedoch vor allem Geschichten und ihre Protagonisten. Konzentriert man sich auf diesen Kernbereich, muss der Streit um den Primat von Handlung oder Figur auf bestimmte Hinsichten bezogen werden (vgl. Pfister 1988: 220; Rimmon-Kenan: 34–36). In struktureller Hinsicht ergibt die Frage nach dem Primat keinen Sinn: Die beiden Elemente der Geschichte sind interdependent. Schon lange vor Henry James‘ berühmtem Satz «What is character but the determination of incident? What is incident but the illustration of character?» (1948: 13) bemerkt Jean Paul:
Denn Charakter und Fabel setzen sich in ihrer wechselseitigen Entwicklung dermaßen als Freiheit und Notwendigkeit – gleich Herz und Pulsader – gleich Henne und Ei – und so umgekehrt voraus, weil ohne Geschichte sich kein Ich entdecken und ohne Ich keine Geschichte existieren kann. (21974: 229)
Da (Post-)Strukturalisten dagegen, dass «ohne Ich keine Geschichte existieren kann», wohl Widerspruch einlegen würden, formuliere ich es weniger poetisch: Handlung – zumindest im Sinne von «Figurenverhalten» – setzt schon rein begrifflich einen Handelnden voraus. Der Begriff der Handlung impliziert den des handelnden Subjekts. Viele Handlungsbeschreibungen können zudem nur mithilfe von Annahmen über die Motive der Akteure vorgenommen werden (jemand tötet einen anderen – war es ein geplanter «Mord» oder ein «Totschlag»?). Figuren wiederum können zwar prinzipiell ohne Handlung dargestellt werden; aber dann handelt es sich nicht um eine Erzählung, denn diese muss intentional herbeigeführte Zustandsveränderungen beinhalten. Für Erzählungen sind also sowohl Figur als auch Handlung logisch notwendig (vgl. Chatman 1978: 112f.).5
In zwei weniger grundsätzlichen Hinsichten als der strukturellen kann man von einem Primat von Figur oder Handlung sprechen, ohne die Frage jedoch pauschal beantworten zu können. In analytischer Hinsicht, d.h. in Bezug auf die Frage, was wichtiger für die Interpretation von Filmen und anderen Texten ist, hängt die Antwort von den Erkenntnisinteressen der Analysierenden ab. Unter produktions- und wirkungsästhetischer Perspektive – d.h. hinsichtlich der Fragen, ob Figuren oder Handlung für die Entwicklung einer Geschichte wichtiger sind und was von beiden stärker auf die Zuschauer wirkt oder wirken sollte – ist die Antwort von der jeweiligen Erzählung, ihren Zwecken und Zielen abhängig. In plotorientierten Geschichten, z.B. Actionfilmen, wird den Ereignissen mehr Aufmerksamkeit und Darstellungsraum gewidmet, figurenorientierte wie DER TOTMACHER erkunden in erster Linie den Charakter ihrer Protagonisten. Es kann auch vorkommen, dass weder Figur noch Handlung im Vordergrund steht, sondern die Konstruktivität des Erzähl- und Rezeptionsprozesses selbst (L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD).
Die Tradition plotorientierter Positionen stammt ursprünglich aus dem Bereich des Dramas, obwohl es auch hier andere Meinungen gibt (Pfister verweist etwa auf Goethes «Rede zum Schäkespears Tag»; 1988: 220). Vor diesem Hintergrund lassen sich Aristoteles‘ berühmte Poetik-Passagen nicht als allgemeingültige Aussage über den Primat von Figur oder Handlung in Erzählungen lesen, sondern eher als genrespezifisches Plädoyer für plotorientierte Tragödien. Wenn Aristoteles von «Mythos» spricht, ist die umfassendste Bedeutung von Handlung gemeint, die strukturierte Ereignisfolge im Text, die im heutigen Diskurs als «Erzählung», «Plot» oder «Sujet» bezeichnet werden würde (vgl. Martinez / Scheffel 1999: 25f.; Eder 1999: 10–15). Bei der Figur unterscheidet Aristoteles zwischen der Figur als Handelnder (pratton; also einem Vorgänger des strukturalistischen «Aktanten») und ihrem Charakter (ethos). Für die Handlung eines Dramas sind nun – so seine These – zwar Handelnde erforderlich, nicht aber eine genaue Zeichnung der Charaktere um ihrer selbst willen. Der Plot hat für Aristoteles in diesem Sinne Vorrang vor der Figurenzeichnung (Aristoteles 1982: 21).
Eine plotorientierte Position der Produktionsästhetik drückt sich auch im Prinzip der dramaturgischen Notwendigkeit aus, das heute noch in vielen Drehbuchratgebern propagiert wird. Darin wird gefordert, alle Elemente der Erzählung zu streichen, die nicht der Fortentwicklung der Handlung dienen – z.B. Szenen, in denen Figuren nur charakterisiert werden, ohne den Plot voranzutreiben. Umgekehrt fordert Lajos Egri streng, dass alles Handeln der Figur ableitbar und erklärbar sein soll aus dem Zusammenspiel ihrer Eigenschaften mit ihren Situationen (Egri 21960: 58f.). Ähnlich wie Henry James, aber mit anderer Absicht formuliert der amerikanische Script Consultant Robert McKee: «We cannot ask which is more important, structure or character, because structure is character; character is structure» (McKee 1997: 100). Der wahre moralische Charakter ein...

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