Kafkas letzter Prozess
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Kafkas letzter Prozess

Benjamin Balint, Anne Emmert

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  1. 336 páginas
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Kafkas letzter Prozess

Benjamin Balint, Anne Emmert

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Der berühmteste Koffer der Literaturgeschichte hätte es beinahe nicht geschafft. Max Brod hatte ihn bei sich, als er 1939 mit dem letzten Zug von Prag nach Palästina floh. Im Koffer: ­Manuskripte, Notate, Kritzeleien seines Freundes Franz Kafka. Jahrzehnte später entsponn sich darum ein Gerichtskrimi, der erst 2016 ein Ende fand. Vordergründig wurde über den Nachlass von Max Brod entschieden, doch standen noch ganz andere Fragen im Raum: War Kafka vor allem ein jüdischer Autor?? Wo ist sein Erbe richtig aufgehoben?? In Israel?? Oder in jenem Land, in dessen Namen Kafkas Familie einst ausgelöscht wurde?? Eine filmreife Geschichte, die nicht nur zeigt, weshalb die Frage, wem Kafka gehört, zum Glück nie entschieden werden kann."Eine meisterliche Spurensuche."?Cynthia Ozick"Dieses gut recherchierte, spannende Buch erhellt das komplexe Verhältnis zwischen Literatur, Religion, Kultur und Nationalität." Publishers Weekly

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Información

Año
2019
ISBN
9783946334545
Categoría
Literature

1

Das letzte Rechtsmittel

Oberster Gerichtshof Israels, Schaarei-Mischpat-Straße 1, Jerusalem, 27. Juni 2016
Das Wort »sein« bedeutet im Deutschen beides: Da-sein und Ihm-gehören.
FRANZ KAFKA, »Zürauer Aphorismen«1
An einem Sommermorgen saß Eva Hoffe, 82, in der hohen Eingangshalle des Obersten Gerichtshofs in Jerusalem auf einer blitzblank polierten geschwungenen Holzbank, die Hände im Schoß gefaltet. Eine der Freundinnen, die zu ihrer Unterstützung mitgekommen waren, vertrieb sich die Zeit bis zur mündlichen Verhandlung mit der Lektüre der Tageszeitung Ma’ariv. Evas Verhältnis zur Presse war eher distanziert; sie hasste die »Lügenmärchen« der Journalisten, die sie gern als exzentrische Katzenfrau und als Opportunistin darstellten und behaupteten, sie wolle mit wertvollen Kulturschätzen, die gar nicht in private Hände gehörten, schnelles Geld machen. Auf der Titelseite fiel Eva eine Schlagzeile in roten Großbuchstaben ins Auge. »Jetzt versteigern die sogar eine Haarlocke von David Bowie«, empörte sie sich. »Ja, als wäre es eine religiöse Reliquie«, erwiderte die Freundin.
An diesem Tag sollte über Kultgegenstände völlig anderer Art verhandelt werden. Drei Monate zuvor, am 30. März 2016, hatte Eva erfahren, dass das Oberste Gericht ihren Fall »aufgrund des großen öffentlichen Interesses« verhandeln wolle. Merkwürdigerweise fehlte die Sitzung auf der Liste der Gerichtstermine für diesen Tag. Auf der digitalen Anzeigentafel in der Eingangshalle stand nur »Anonym gegen Anonym«.
Eva war eine knappe Stunde zu früh gekommen; vielleicht hatte sie die Anzeigentafel gar nicht gesehen. Den Schutz der Anonymität mochte sie sich sogar wünschen, doch an diesem Tag blieb er ihr versagt. Ein bald neun Jahre währender Nachlassstreit näherte sich seinem Höhepunkt. Über die vorangegangenen Etappen des Prozesses, der mit juristischen, ethischen und politischen Problemen nur so gespickt war – die Verhandlungen vor dem Familiengericht Tel Aviv (September 2007 bis Oktober 2012) und vor dem Bezirksgericht Tel Aviv (November 2012 bis Juni 2015) –, hatte die israelische und internationale Presse ausgiebig berichtet. Von Anfang an war es in dem Disput um die Abwägung zwischen Eigentumsrechten und dem öffentlichen Interesse zweier Länder gegangen: Gehört der Nachlass des deutschsprachigen Prager Schriftstellers Max Brod Eva Hoffe oder der Israelischen Nationalbibliothek, oder wäre er am besten im Deutschen Literaturarchiv in Marbach untergebracht? Allerdings stand mehr auf dem Spiel als der Nachlass Max Brods, einer einstmals berühmten Gestalt der mitteleuropäischen Kultur. Denn Brod war Freund, Herausgeber und literarischer Nachlassverwalter eines anderen Prager Schriftstellers, dessen Name für die moderne Literatur schlechthin steht: Franz Kafka.
Brods Nachlass enthielt nicht nur seine eigenen Manuskripte, sondern auch Papiere Kafkas, einige empfindlich wie Herbstlaub. Dessen große Manuskripte, Briefe und Tagebücher waren zu diesem Zeitpunkt natürlich längst publiziert – laut Stefan Litt, dem Leiter des deutschsprachigen Archivs der Nationalbibliothek, gebe es »nichts von Kafka, das noch unveröffentlicht sei«. Doch waren noch nicht sämtliche Handschriften, Postkarten, Kritzeleien und ähnliche Originale in Archiven zugänglich. Das Besondere an diesen Papieren sei, so Litt, »die ›Aura‹ des Handschriftlichen«.2 Von Max Brods eigenen Aufzeichnungen allerdings – darunter seine frühen Tagebücher – versprachen sich Fachleute 92 Jahre nach Kafkas Tod neue Einblicke in die erstaunliche Welt des Schriftstellers, der einen unnachahmlichen, unverwechselbaren surreal-realistischen Stil entwickelt und für das 20. Jahrhundert prägende Texte über Orientierungslosigkeit, Absurdität und gesichtslose Tyrannei geschaffen hatte; der außergewöhnliche Fall eines Autors, aus dessen Namen ein Adjektiv abgeleitet wurde. Die unwahrscheinliche Geschichte, wie Kafkas Manuskripte in die Hände der Familie Hoffe gelangt waren, erzählt von einem noch unbekannten, aber genialen Schriftsteller, über dessen letzten Wunsch sich sein bester Freund hinwegsetzte; von dessen Flucht vor den nationalsozialistischen Besatzern, kurz bevor sich die Tore Europas schlossen; von der Liebe zweier Exilanten, die in Tel Aviv gestrandet waren; von zwei Ländern, deren wie besessen betriebene Vergangenheitsbewältigung an diesem Tag vor dem Obersten Gericht offen zutage trat. Der Prozess warf aber vor allem eine hochbrisante Frage auf: Wem gehört Kafka?
Eva, die sich nun also im Auge des Sturms wiederfand, war am 30. April 1934 in Prag zur Welt gekommen, ein Jahrzehnt nachdem Kafka auf dem Neuen Jüdischen Friedhof der Stadt beigesetzt worden war. Als sie mit ihren Eltern Ester (Ilse) und Otto Hoffe und ihrer älteren Schwester Ruth aus dem besetzten Prag floh, war sie fünf Jahre alt. Sie zeigte mir Fotografien ihrer Mutter als junger Schönheit in Prag mit ihrer Deutschen Dogge Tasso, benannt nach dem italienischen Dichter des 16. Jahrhunderts, der das berühmte Versepos La Gerusalemme liberata (Befreites Jerusalem) geschrieben hatte. »Eine meiner Katzen habe ich auch Tasso genannt«, sagte Eva Hoffe.
Nach ihrer Ankunft in Palästina besuchte Eva zunächst die Schule in Gan Schmuel, einem Kibbuz im Norden des Landes nahe der Stadt Chadera, und anschließend das landwirtschaftliche Internat im zentralisraelischen Jugenddorf Ben Schemen. Dort nahm ihre Lieblingslehrerin, die Künstlerin Naomi Smilansky, das Mädchen unter ihre Fittiche. Doch Evas Zeit in Ben Schemen war von Einsamkeit überschattet. »Ich litt unter schrecklichem Heimweh und weinte fast jede Nacht«, sagte sie. Als 1948 nach dem Ausbruch des Israelischen Unabhängigkeitskriegs Truppen der Arabischen Legion Ben Schemen belagerten, wurden die Schüler in gepanzerten Bussen evakuiert. Eva Hoffe schloss später ihre schulische Ausbildung in der progressiven Tel Aviver Eliteschule Tichon Hadasch ab. Dort förderte sie Rektor Toni Halle, ein gebürtiger Deutscher, der seit seiner Studienzeit mit Gershom Scholem befreundet war. Eva flüchtete sich damals gern in Bücher. Ihre Mutter schrieb im Juni 1950, als Eva sechzehn Jahre alt war, an Dora Diamant: »Sie liest in jeder freien Minute und wird sich gewiss in den Ferien hauptsächlich von Buchfutter ernähren.«3
Nach dem Krieg trat Eva Hoffe in eine Nachal-Truppe der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte ein. (Solche Einheiten unter dem Kommando des Bildungs- und Jugendcorps verbinden ehrenamtliches soziales Engagement, gemeinnützige oder landwirtschaftliche Arbeit und Militärdienst.) Anschließend nahm sie ein musikwissenschaftliches Studium in Zürich auf. Noch vor dem Abschluss kehrte sie jedoch 1966 nach Tel Aviv zurück, auch, um beruhigend auf ihren Vater Otto einzuwirken, den der Gedanke an mögliche Kampfhandlungen zwischen Israel und den benachbarten arabischen Staaten quälte. »Er litt unter schrecklicher Kriegsangst«, erzählte sie. »Er fürchtete, sie würden uns abschlachten.«
Im Sommer 1967 kam es zum Sechstagekrieg. An jedem dieser sechs Tage ging Eva ins Café Kassit in der Dizengoff-Straße, setzte sich an einen der winzigen Tische auf dem Gehweg und trank einen Espresso, über sich die sechs Wandbilder mit marionettenartigen Harlekinen und Musikern, die Jossel Bergner auf die Straßenfassade des Cafés gemalt hatte. Im Kassit tauschten langhaarige Künstler, ungepflegte Intellektuelle, Straßenhändler und hohe Militärs wie Mosche Dajan die neusten Gerüchte aus. (Major Ariel Scharon, der spätere Ministerpräsident, wies einmal einen Unteroffizier mit den Worten zurecht: »Ihr sitzt da im Kassit und quatscht mit Journalisten der Haolam Haseh über unsere Operationen.«) Alles, was Rang und Namen hatte, steckte in dem Café »die Köpfe zusammen; und schon Reibung allein erzeugt Inspiration«, erzählte später der Stammgast Uri Avnery, damals Herausgeber der Haolam Haseh. Jeden Tag brachte Eva aufgeschnappte Gesprächsfetzen, Neuigkeiten vom Kriegsverlauf, mit nach Hause. Ihr Vater quittierte ihre Berichte über israelische Siege mit Unglauben.4
Nach dem Sechstagekrieg gab Eva Erst- und Zweitklässlern Musikunterricht und fand große Freude an den Improvisationen der Kinder. Im folgenden Jahr jedoch erlitt sie einen doppelten Verlust: Innerhalb von fünf Monaten starben ihr Vater und der Schriftsteller Max Brod, Emigrant aus Prag und für sie eine Vaterfigur. Das Musizieren und der Unterricht machten ihr fortan keinen Spaß mehr.
Während Eva Hoffe noch trauerte, empfahl sie der israelische Dichter und Liedermacher Chaim Chefer, ebenfalls Stammgast im Café Kassit, für eine Anstellung bei der israelischen Fluggesellschaft El Al. Drei Jahrzehnte lang gehörte sie dem Bodenpersonal an. »Flugbegleiterin wollte ich nicht werden«, erzählte sie, »weil ich bei meiner Mutter sein wollte.« Stattdessen lauschte sie mit fast kindlicher Begeisterung dem Brüllen der Flugzeugtriebwerke und sah den Bodenlotsen mit ihren reflektierenden Sicherheitswesten, dem Gehörschutz und den Leuchtkellen beim Einweisen der Flugzeuge zu. 1999 trat sie mit 65 Jahren in den Ruhestand.
In all den Jahren bei der El Al verspürte Eva nie das Verlangen, nach Deutschland zu fliegen. »Ich konnte nicht vergeben«, sagte sie. Auch eine Heirat kam nicht infrage. »Als ich mitbekam, wie beleidigend Felix Weltsch [ein Freund Kafkas, der mit Max Brod von Prag nach Palästina geflohen war] über seine Frau Irma sprach, wusste ich, dass ich nicht heiraten wollte.« Lieber lebte sie in einer engen Wohnung in der Spinoza-Straße mit ihrer Mutter Ester und ihren Katzen in einer Art Symbiose.
Eva Hoffe bewegte sich zwar in den intellektuellen Kreisen von Tel Aviv, in denen auch ihre Freunde verkehrten, der in Berlin geborene hebräische Dichter Natan Sach und der Künstler Menashe Kadishman, sah sich aber nie als Intellektuelle. Mir gestand sie, dass sie nicht viele von Brods Büchern gelesen habe. Eva Hoffe hatte keine Kinder. Menschliche Nähe fand sie in einem Kreis ergebener Freundinnen, die sie vergötterten. Drei von ihnen leisteten ihr nun im Obersten Gerichtshof in einer Nische der Eingangshalle vor Beginn der Verhandlung Gesellschaft. »Egal, was passiert«, warnte sie die Freundin mit der Zeitung, »sag kein Wort; keine Ausbrüche.« Eva nickte und kleidete ihren Missmut in die Worte eines anderen. »Wenn Max Brod noch lebte, würde er vor Gericht treten und sagen: ›Jetzt Schluss damit!‹«, zitierte sie ihn auf Deutsch.
Eine israelische Romanautorin vertraute mir einmal an, für sie sei Eva Hoffe die »Witwe von Kafkas Gespenst«. Eva, verfolgt von der Angst vor Enterbung, hatte dessen Verzweiflung über die Undurchsichtigkeit der Justiz übernommen. In Kafkas unvollendetem Roman Der Prozess, nach seinem Tod von Max Brod bearbeitet und herausgegeben, sagt der Onkel zu Josef K.: »Wenn man dich ansieht möchte man fast dem Sprichwort glauben: ›Einen solchen Prozeß haben, heißt ihn schon verloren haben‹.«5 Ähnlich verzweifelt war Eva. »Wenn das ein Tauziehen wäre, hätte ich keine Chance«, sagte sie. »Ich kämpfe gegen ungeheuer mächtige Gegner, ungeheuer mächtig.« Sie meinte den Staat Israel, der geltend machte, die Dokumente, die ihre Mutter von Kafkas bestem Freund geerbt hatte, gehörten nicht ihr, sondern der Nationalbibliothek in Jerusalem. Und nicht nur um die eigentliche Erbschaft ging es hier. Noch zu Lebzeiten hatte Max Brod Ester Hoffe einige Kafka-Manuskripte geschenkt, die sie wiederum an ihre Töchter weitergegeben hatte. Jahrzehnte nach Brods Tod wurde nun über die Rechtmäßigkeit sowohl der Erbschaft als auch der Schenkung entschieden.
Die Stimmen der Beteiligten aus der vorangegangenen Verhandlung verhallten. Eva machte sich mit bleichem Gesicht, aber wachen Auges auf den Weg in den Gerichtssaal. »Wenn Sie mich fragen«, sagte sie, während sie die schwere Tür zum Saal aufdrückte, »sind die Wörter Gerechtigkeit und Anstand aus dem Wörterbuch gestrichen.«
In Der Prozess sind die Gerichtssäle nur schwach beleuchtet. Der Raum in Jerusalem dagegen erinnert an eine hohe Kapelle, deren schmucklose weiße Wände im Tageslicht erstrahlen. Glanz und Pomp sucht man hier vergebens. Das rechteckige Gebäude des Obersten Gerichtshofs, dessen Bau von der Londoner Philanthropin Dorothy de Rothschild beauftragt wurde, ist mit Jerusalem-Stein verkleidet. Auf dem Dach erhebt sich eine kupferverkleidete Pyramide, inspiriert vom vorzeitlichen Grab des Propheten Zacharias, das östlich von Jerusalem aus dem Felsgestein des Kidrontals gehauen wurde.
An einem halbrunden Tisch saßen neun Anwälte in schwarzer Robe. Sie sollten den drei nicht unbedingt gleich starken Parteien in diesem Rechtsstreit eine Stimme geben: der Israelischen Nationalbibliothek (die den Prozess ins Rollen gebracht hatte und nun die Interessen des Staates Israel vertrat – sozusagen mit Heimvorteil, weil das Verfahren auf israelischem Boden stattfand), dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach (das vor Gericht das Recht erwirken wollte, Eva Hoffe ein Kaufangebot für die Manuskripte zu unterbreiten, und das gegenüber den anderen beiden Parteien den Vorteil bedeutenderer finanzieller Mittel genoss) und Eva Hoffe (in deren physischem Besitz sich die von den anderen begehrten Güter zumindest vorläufig noch befanden). Jede der Parteien beteiligte sich mit rechtlichen Mitteln am Disput, und jede Partei (wie auch die Richter) wechselte zwischen zwei rhetorischen Ebenen hin und her: der rechtlichen und der symbolischen. Juristisch versprach das Verfahren, Fragen zu erhellen, die für Israel, Deutschland und das nach wie vor belastete Verhältnis zwischen beiden Ländern von anhaltender Bedeutung waren. Das Marbacher Archiv und die Nationalbibliothek brachten ihre jeweilige nationale Vergangenheit im Gerichtssaal zur Sprache (wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise); beide wollten mit Kafka als Trophäe diese Vergangenheit würdigen, gerade so, als lasse sich der Schriftsteller in den Dienst des Nationalprestiges stellen.
Die Anwälte saßen mit dem Rücken zu den Zuschauern den drei Richtern auf dem erhöhten Podium gegenüber: Joram Danziger (ehemals Spitzenanwalt für die Wirtschaft) saß links, Eljakim Rubinstein (ehemals Generalstaatsanwalt) in der Mitte und Zwi Zylbertal (ehemals Richter am Bezirksgericht Jerusalem) rechts. Diesen Männern fiel die Aufgabe zu, die Rechtmäßigkeit der jeweiligen Ansprüche gegen die Grenzen dieser Rechtmäßigkeit abzuwägen.
Eva Hoffe setzte sich allein in die erste Reihe. Monate zuvor war ich ihr zufällig in Tel Aviv in der Ibn-Gwirol-Straße unweit ihrer Wohnung begegnet; damals wirkte sie verloren, schien einsam umherzuirren. Heute lag ein Ausdruck ungeteilter Aufmerksamkeit und Klarheit auf dem Gesicht mit den vielen dunklen Pigmentflecken. Sie setzte sich hinter ihren Rechtsvertreter Eli Sohar, einen Staranwalt mit besten Verbindungen, der Wirtschaftsbosse, hochrangige israelische Armeeoffiziere, Spitzenkräfte der israelischen Militärindustrie und des Inlandsgeheimdienstes Schabak ebenso vertreten hatte wie, wenn auch weniger erfolgreich, den früheren israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert. (Olmert, der 2012 wegen Untreue und 2014 wegen Korruption schuldig gesprochen worden war, musste im Februar 2016 eine neunzehnmonatige Gefängnisstrafe antreten.) Eva Hoffe hatte in den acht Jahren zuvor mehrmals den Anwalt gewechselt: Ehe sie sich auf Sohar verlegte, war sie von Jeschajahu Etgar, Oded Cohen und Uri Zfat vertreten worden. Sie erzählte mir, sie habe zu Sohars Gunsten eine Pfandverschreibung für ihre Wohnung unterzeichnet, damit der Anwalt, falls sie vor Abschluss des Verfahrens sterben sollte, auch sein Honorar erhielt.
Eli Sohar, das dünne Haar auf eine Seite gekämmt, die schwarze Robe lotrecht zum gebohnerten Parkett, räusperte sich und sprach mit distanzierter Höflichkeit und ohne viel Pomp. In seinem kraftvollen Bariton begann er mit der Feststellung, das Gericht habe gar keine Entscheidung zu fällen. Das Urteil sei faktisch schon vier Jahrzehnte zuvor gefallen. Als Franz Kafka 1924 einen Monat vor seinem 41. Geburtstag an Tuberkulose starb, habe sich sein enger Freund und Gefährte Max Brod – selbst ein produktiver und angesehener Autor – über Kafkas letzte Anweisung h...

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