Die Hausarztpraxis von morgen
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Die Hausarztpraxis von morgen

Komplexe Anforderungen erfolgreich bewältigen - Ein Handbuch

Iris Veit, Harald Kamps, Bert Huenges, Torsten Schütte

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  1. 198 páginas
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Die Hausarztpraxis von morgen

Komplexe Anforderungen erfolgreich bewältigen - Ein Handbuch

Iris Veit, Harald Kamps, Bert Huenges, Torsten Schütte

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Der hausärztliche Alltag wird komplexer: Multimorbide Patienten werden immer älter, die sozialen Unterschiede nehmen zu, Familienstrukturen ändern sich; digitale Technik und die Erhaltung der eigenen Work-Life-Balance sind herausfordernd. Wie mit dieser Komplexität umgegangen werden kann und welche Fähigkeiten Hausärzte von morgen besitzen sollten, wird in diesem Buch aus unterschiedlichen Denktraditionen mit einer Fülle von Fallbeispielen beschrieben. Entscheidend ist die Fähigkeit zu einer reflektierenden Praxis, die die Patient-Arzt-Beziehung in den Mittelpunkt stellt, und zur Kooperation. Formulierungshilfen, Merksätze und anschauliche Fallbeispiele helfen dabei, die erforderlichen Fähigkeiten wirksam werden zu lassen.

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Información

Año
2021
ISBN
9783170350885

1 Einleitung

Hausärztliche Versorgung ist komplex. Dem würden alle tätigen Hausärztinnen und Hausärzte zustimmen. Unser Alltagsdenken neigt zwar dazu, nach einer einzigen Ursache für sich verändernde Situationen zu suchen. Doch eine solche zu finden ist auch in der Medizin selten der Fall. Selbst wenn ein Faktor wie ein Bakterium oder Virus ausgemacht ist, stellt sich die Frage, warum der eine krank wird, der andere aber nicht.
Die Covid-19-Pandemie ist ein Beispiel für Komplexität. Komplexität anerkennende Vernunft würde erfordern, Zusammenhänge zu sehen, Kooperation zu suchen und Respekt vor dem Anderen zu haben. Diesen Gedanken entwickeln wir im ganzen Buch, das vor der Covid-19-Pandemie entstanden ist. Die ersten Erfahrungen mit der aktuellen Pandemie bestätigen uns in unseren Schlussfolgerungen und sollen hier kurz benannt werden.
Weltweit zeigte sie, dass soziale Ungleichheit zu gesundheitlicher Ungleichheit führt, und der medizinische Sektor diese Ungleichheit nicht aufheben, allenfalls mildern kann. In den USA machen Afroamerikaner 13 % der Bevölkerung aus, stellen aber ein Drittel aller Covid-19-Erkrankten. Auch in Deutschland sind Langzeitarbeitslose schwerer erkrankt und hospitalisiert als Beschäftigte. Die Pandemie wirkt wie ein Brennglas, durch das schon vorher bestehende Konflikte deutlicher hervortreten. Wie Bertolt Brecht in der Moritat von Mackie Messer in der Dreigroschenoper dichtete:
»Denn die einen sind im Dunkeln
und die andern sind im Licht.
und man siehet die im Lichte
die im Dunkeln sieht man nicht.«
Die im Dunkeln wurden durch die Pandemie zumindest vorübergehend ins Licht gehoben. Zum Beispiel die Leiharbeiter aus Osteuropa in deutschen Fleischfabriken und auf den Erntefeldern. Die Pandemie beleuchtet auch die technisch und personell unzureichende Ausstattung des öffentlichen Gesundheitswesens und die Notwendigkeit, sein Schattendasein zu beenden. Sie weist auf die Not der Pflegebedürftigen. Die pflegerischen Berufe wurden plötzlich »systemrelevant«. Ob sich die »Systemrelevanz« in einer Tarifbindung dieser Berufe bei allen Trägern, höherem Lohn und besseren Arbeitsbedingungen zukünftig niederschlagen wird, ist noch offen.
Offensichtlich und öffentlich diskutiert wurde, dass marktwirtschaftliche Mechanismen nicht geeignet sind, in Bereichen der Daseinsfürsorge – wie z. B. der gesundheitlichen Versorgung – allen Menschen dienende Lösungen bereitzustellen. Sichtbar wurde das am Beginn der Pandemie in der mangelnden Bevorratung. So hinderte der eklatante Mangel an Schutzkleidung Hausärzte, alte oder behinderte Menschen und chronisch Kranke bei Haus- und Heimbesuchen angemessen zu versorgen. Einige Ärzte bezahlten diesen Mangel mit ihrer Gesundheit. Die Aufgabe der Bereitstellung von Versorgung war auch für den stationären Sektor nicht im Blick. Denn Fallpauschalen honorieren dies nicht. Die Pandemie stellt nicht nur ein durch Fallpauschalen gesteuertes Abrechnungssystem in Frage, sondern auch, ob wir daran festhalten wollen, dass das Trachten nach Gewinn einzelner Investoren über die Mechanismen des Marktes zu verbesserter Gesundheit aller führt. Wie vieler Tote weltweit bedarf es noch, um diese Auffassung zu entkräften? Zumindest wurde auf politischer Ebene ein kleiner, erster Schritt zu zentraler Koordination gemacht, indem ein zentrales Register der Intensivbetten eingeführt wurde. Wie das angesprochene Problem der Bevorratung gelöst wird, und vor allem, wer sie bezahlt, ist noch offen.
Anerkennung der Komplexität würde verlangen, Kooperation und Partizipation zu fördern und auch dem jeweils anderen Wissen und Weisheit zuzusprechen. Auch dies belegte bisher die Pandemie. Die Kooperation der Wissenschaftler und ihrer Institutionen wuchs, um eine globale Bedrohung der Menschheit zu bewältigen, und neue Wege der Zusammenarbeit haben sich entwickelt. Die internationale Kooperation von Regierungen und ihrer Institutionen hinken sowohl auf europäischer als auch auf globaler Ebene hinterher. Komplexität anerkennende Vernunft würde anzuerkennen verlangen, dass das gesundheitliche Wohlergehen jedes Landes auch vom Wohlergehen anderer Länder, unserer unmittelbaren Nachbarn und den Ländern des globalen Südens, abhängig ist.
Komplexität anerkennende Vernunft würde für den hausärztlichen Versorgungsbereich eine enge Verzahnung zwischen den gebietsärztlich tätigen Kollegen aus ambulantem und stationärem Sektor, anderen an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen und der Zivilgesellschaft notwendig machen. Erinnern wir uns an die ansteckende Kreativität der Zivilgesellschaft und die verbreitete Haltung einer Fürsorge für andere am Beginn der Pandemie! Dieses Potential sollte im Blick behalten werden. Die Kommunen und Landkreise und das öffentliche Gesundheitswesen erlangten eine bisher nicht ausreichend wahrgenommene Bedeutung. Eine Lehre daraus könnte sein, dass nur kooperative Strukturen der hausärztlichen Versorgung zukünftig Bestand haben werden. Kooperation kann durch die Möglichkeiten, die die digitalisierte Welt bietet, noch weiter entwickeln werden. Die digitale Technik hat durch die Pandemie einen Schub erhalten, der nicht mehr wegzudenken ist.
Um die Anerkennung von evidenzbasiertem Expertenwissen hat sich eine gesellschaftliche Diskussion entwickelt. Evidenzbasierte Wissenschaft hat öffentliche Anerkennung erfahren, auch wenn nach dem Lockdown narzisstische und nationalistische Tendenzen in der Gesellschaft in den Hygienedemonstrationen sichtbarer wurden und unter dem Schlagwort der Freiheit eine Beliebigkeit gegen evidenzbasierte Fakten setzen wollten. Zur Bedeutung evidenzbasierten Sachwissens äußern wir uns im Kapitel »Choosing wisely«.
Die Zukunft ist zwar unsicher, doch voller Möglichkeiten der Veränderung. Zu welchen vor der Pandemie nicht einmal vorstellbaren Entscheidungen war die Politik fähig – diese Erinnerung wird hoffentlich wirksam bleiben für den Mut, den solche Änderungen erfordern.
In einer komplexen Welt können Situationen verschiedene Zustände annehmen. Weil alle Variablen kreiskausal in Rückkopplungsschleifen miteinander verbunden sind, können winzige Veränderungen weitreichende Folgen haben. Der strapazierte Begriff »multifaktoriell« umschreibt das nicht. Um in Metaphern zu sprechen, bewegen wir uns nicht auf Leitern, die Sprosse für Sprosse (jede Sprosse ein Faktor) nach oben zum Überblick führen, sondern wie eine Kugel in einer Landschaft mit Bergen und Tälern, deren Ruhepunkt ungewiss ist. Anerkennung der Komplexität würde deshalb verlangen, vor eigenen Entscheidungen innezuhalten, abzuwarten und Unsicherheit zumindest eine Zeit lang auszuhalten. Wir sollten unseren Patienten nicht davoneilen, sondern Schritt für Schritt mit ihnen gehen. In der systemischen Therapie gibt es dafür den Begriff des »Pacing«, in der humanistischen Medizin (von Uexküll) den Begriff der »Passung«.
Anerkennung der Komplexität würde vor allem verlangen, Zusammenhänge zu sehen. Wir haben bereits einige Zusammenhänge beschrieben, die diese Pandemie sichtbarer werden lässt. Es ist jedoch unmöglich, Zusammenhänge ausschließlich aus der Perspektive von außen zu erkennen. Versetzen Sie sich in die Lage einer Person, die einen Film betrachtet, in dem sie gleichzeitig Mitspieler ist. Angewandt auf die Rolle des Arztes: er ist gleichzeitig Mitspieler wie Beobachter und schlüpft abwechselnd mal in die eine und mal in die andere Position. In der Außenposition als Beobachter kann er aus der Distanz reflektieren, was ihn und den anderen in der jeweiligen Situation beeinflusst hat. Wer Komplexität anerkennt, ist daher gezwungen, eine selbstreflektierende Praxis zu pflegen. Er muss über sich selbst, seine eigenen Werte und Glaubenssätze, die er im Laufe der eigenen Entwicklung und im Rahmen seiner kulturellen Zugehörigkeit erworben hat, nachdenken. Er müsste die Gefühle und Assoziationen und Körpersensationen wahrnehmen und berücksichtigen, die in der Interaktion mit dem jeweiligen Patienten aufkommen und das weitere Handeln beeinflussen. Für diese Haltung und daraus folgenden Handlungen benutzen wir in diesem Buch den Begriff »Beziehungsmedizin«. Verbunden ist dieser Begriff mit Ansichten verschiedener Denktraditionen. Darin fließen die Konzepte unterschiedlicher Theorien ein: das Konzept von Übertragung und Gegenübertragung (psychodynamische Theorien), das Konzept des Rapports (systemische Sichtweise) und Begriffe der Leiblichkeit, Situation und der Atmosphäre (Neue Phänomenologie) und der Begriff der Resonanz (soziologische Theorie nach Rosa 2016). Das ganze Buch ist durch den Wunsch geprägt, eine selbstreflexive Praxis anregen zu wollen, die wir für unverzichtbar halten, um mit Komplexität umzugehen.
In den ersten Kapiteln beschreiben wir zunächst die Variablen, die das hausärztliche Handeln komplex machen – beginnend mit der Multimorbidität. Aber wir bleiben nicht bei der Beschreibung dieser Variablen stehen, sondern leiten bereits in jedem Kapitel die Konsequenzen ab, die sich für Haltungen und Handlungen bis hin zu verbalen Interventionen ableiten lassen. Daraus ergibt sich der Praxisbezug.
Zunächst zu den Variablen.
Das Komplexe des hausärztlichen Versorgungsauftrags wird allein darin offensichtlich, dass chronisch Kranke multimorbid erkrankt sind und in einer älter werdenden Gesellschaft chronisch und multimorbid Erkrankte zunehmen. Ein ängstlicher Patient mit Diabetes mellitus ohne Selbstvertrauen und ohne optimistische Sicht auf die Zukunft verlangt ein anderes Vorgehen als ein depressiv gestimmter Diabetiker, der eher alle Verantwortung an den Arzt abtreten will, viel Geborgenheit in der Patient-Arzt Beziehung sucht, aber dennoch in seiner Passivität ärztliche Behandlungsmaßnahmen unterläuft. Dies stellt uns vor interaktionelle Probleme, deren Lösung eine langfristige Bindung ermöglichen kann.
Im Umgang mit Multimorbidität sieht der Hausarzt, wie begrenzt seine Spielräume sind: Multimorbidität und chronische Krankheiten überhaupt sind in hohem Maße von gesellschaftlichen Variablen abhängig wie der zunehmenden Aufspaltung der Gesellschaft in Arm und Reich, prekären Lebensverhältnissen und Einsamkeit. Der Hausarzt muss den individuellen Patienten behandeln, aber kann diese Ursachen nur unzureichend beeinflussen. Wie kann er Priorisierung meistern und einen Handlungsplan entwickeln, der den Zielen des Patienten entspricht? Antworten dafür bis hin zu konkreten Formulierungshilfen stellen wir in diesem Kapitel vor.
Weitere Variablen erhöhen den Grad der Komplexität. Krankheit und Gesundheit sind nur im Rahmen der gesamten Lebenswelt der Patienten zu verstehen und zu behandeln. Krankheit und Gesundheit sind nur vor dem Hintergrund des Systems zu verstehen, in dem der Patient lebt. Diesen Kontext berücksichtigt besonders die Allgemeinmedizin, weil hier gleichzeitig Familienmitglieder und Nachbarn betreut werden, Hausbesuche zum Arbeitsfeld gehören und sich die Versorgung auf ein räumlich begrenztes Gebiet, z. B. das Quartier, bezieht. Der Arzt ist Teil dieser Lebenswelt. Das bedarf in besonderer Weise der Reflexion eigener Wertvorstellungen und transparenter Regeln für Gespräche mit mehreren.
Selten wird betrachtet, dass Ärztinnen und Ärzte eigene Gefühle und Wertvorstellungen mitbringen. Diese können die Interaktion zwischen Patienten und Arzt fruchtbar, aber auch dysfunktional gestalten. Die Gefühle der Patienten wahrzunehmen und dysfunktionale Interaktionen zu erkennen, wird bereits in Kommunikationsmodellen berücksichtigt. Wenig berücksichtigt werden die Gefühle, die Ärzte ihrerseits aus ihrer Sozialisation mitbringen und die aus zeitlicher Überforderung und mangelnder emotionaler Unterstützung resultieren. Hierzu zählen Angst und Unsicherheit vor Fehlern, Schamgefühle überhaupt und narzisstische Überhöhung der eigenen Position. Letzteres trägt dazu bei, den Hausarztberuf nicht zu wählen. Unter dem Einfluss negativer Gefühle verordnen Ärzte mehr Medikamente und mehr technische Diagnostik und tragen damit zur Über-, Unter- und Fehlversorgung bei. Selbstreflexion ist ein erster Ausweg und Teil eines Konzeptes der Selbstfürsorge.
Auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gestalten die Komplexität. Hierzu gehören die globalen, durch den Klimawandel geschaffenen und in Gestalt weiterer Pandemien auf uns zukommenden Veränderungen, die knapper werdenden Ressourcen der Zeit, hohe Mobilität, Armut und Arbeitslosigkeit und eine zunehmende Zahl von Patienten aus anderen Kulturen, sowie nicht zuletzt die zunehmende Digitalisierung der Gesellschaft sowie die Entwicklung neuer Versorgungsstrukturen. Viele Hausärzte sehen sich mit Problemen konfrontiert, die aus Umweltzerstörung, Armut, prekärer Beschäftigung, langen Anfahrtswegen zum Arbeitsplatz und der Auflösung von Familienbeziehungen herrühren. Diese sozialen Rahmenbedingungen können sie nicht beeinflussen und mögen sich daher überfordert fühlen. Dennoch wünschen sich Patienten von ihren Hausärzten – und diese haben auch eine bescheidene Macht dazu – die Bedingungen etwas weniger belastend zu gestalten, sei es durch Arbeitsunfähigkeit-Bescheinigungen, Anträge auf Rehabilitationen, Schwerbehinderten-Ausweise, Kuren und ähnliches. Es erscheint uns wichtig, zumindest grob diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu skizzieren.
Die technische Innovation der Digitalisierung hat bereits viel verändert und wird es auch durch die Covid-19-Pandemie weiterhin tun. Sie demokratisiert und erleichtert den Zugang zu medizinischem Expertenwissen für alle Menschen und könnte Kooperation vereinfachen. Sie nährt aber auch die Illusion, dass sich allein durch viele Daten Komplexität reduzieren ließe und eine Medizin, die dem Beziehungserleben und dem Verstehen des Anderen Raum gibt, nicht mehr nötig sei. Sie stärkt die Illusion des Individuums, dass Kontrolle in einer unsicher erlebten Welt möglich sei und macht gleichzeitig seine Kontrolle in umfassender Weise möglich. Hier bieten wir keine Lösungen, sondern Überlegungen an, wie wir nicht nur Opfer dieser Innovation sein können. Wir verweisen auf Apps für Patienten und informative Internetadressen.
Zusätzlich zum Versorgungsauftrag ist der Auftrag der Aus- und Weiterbildung getreten. Die Hausarztpraxis ist zum Lernort geworden. Allgemeinmediziner haben neben ihrer Rolle als Versorger auch die des Lehrenden bzw. Gelehrten (engl. »scolar«) übernommen. Dies macht die Interaktion in der Hausarztpraxis komplexer. Neben dem Sachwissen über die Rahmenbedingungen der Aus- und Weiterbildung wird in diesem Kapitel vermittelt, mit welchen Methoden – zum Beispiel dem Feedback geben – die Interaktionen mit Studierenden und Ärzte in Weiterbildung werden können.
Wie können Hausärzte in dieser komplexen Situation weise Entscheidungen treffen? Hohe sachliche Kompetenz und Partizipation (Einbeziehung des Patienten in die Entscheidungsfindung) sind dazu sehr wichtig. Choosing wisely wird bisher unter dem Gesichtspunkt betrachtet, nicht evidenzbasierte Behandlungsstrategien zu eliminieren. Das ist hilfreich und basal, um Fehl- und Überversorgung zu beschränken, aber nicht allein ausreichend. Ist es ausreichend, wenn Partizipation hinzutritt? Partizipation ist heute zu einem ethischen Grundsatz in der Medizin geworden. Es ist eine gute Entwicklung, sich vom paternalistischen Modell abzuwenden und Patienten nach ihren Zielen und ihrem Weg dorthin zu befragen. Doch muss Partizipation berücksichtigen, dass die Beziehung zwischen Patienten und Arzt asymmetrisch und Macht ungleich verteilt ist. Es ist nicht der Königsweg, Verantwortung an die Patientin zu delegieren und mit der Ablehnung des paternalistischen Modells auch gleichzeitig die ärztliche Fürsorge zu eliminieren. Auf den Weg dahin, Weisheit oder den »guten Hausarzt« zu beschreiben, definieren wir Sach- und technisches Wissen, Erfahrung...

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