II Beiträge aus der Praxis
Mitarbeiter von Einrichtungen der Altenhilfe und der Behindertenhilfe erwerben im langjährigen täglichen Zusammenleben mit Menschen mit geistiger Behinderung oder chronisch psychischer Erkrankung differenzierte und intime Kenntnisse zu Veränderungen und Entwicklungsprozessen beim Älterwerden. Dieses Wissen wird in einem beschränkten Rahmen weitergegeben an Praktikanten, Schüler oder Kollegen. Um diesen Rahmen zu erweitern, wurden Mitarbeiter gebeten, ihre Erfahrungen aus der Praxis niederzuschreiben, um sie an einen größeren Personenkreis vermitteln zu können. Diese Beiträge sind nicht am Schreibtisch entstanden, sondern mitten in der täglichen Arbeit und sollen als Handreichung für jene Mitarbeiter verstanden werden, die noch dabei sind, Erfahrungen zu sammeln. Die folgenden Beiträge beleuchten das Altern von geistig behinderten oder psychisch erkrankten Menschen aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Professionen und verschiedener Tätigkeitsbereiche.
1 Medizinische Grundlagen
Ältere Menschen mit geistiger Behinderung oder chronisch psychischer Erkrankung stehen im Mittelpunkt dieser multidisziplinären Betrachtungsweise. Der erste Beitrag stellt diese Personengruppen mit ihrer spezifischen ärztlichen und pflegerischen Problematik vor aus der Sicht eines erfahrenen Arztes.
1.1 Ältere Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung in stationären Einrichtungen aus ärztlicher Sicht
Lothar Lissmann
1.1.1 Das Thema
Es ist die Rede von hilfebedürftig gewordenen alten Menschen, die mit und ohne zusätzliche geistige Behinderung in Heimen leben, aus der Sicht eines Arztes. Es wird versucht, Gemeinsamkeiten, Unterschiede und einige Folgerungen hieraus darzustellen. Diese Erörterung gründet auf Erfahrungen während meiner ärztlichen Tätigkeit in Einrichtungen der stationären Alten- und Behindertenhilfe. Auf Erörterungen von Lehrbuchwissen über psychiatrische Krankheitsbilder, Epidemiologie und Demografie wird verzichtet, da dies in zahlreichen Veröffentlichungen ausführlich abgehandelt wurde. Es soll somit auch nur noch daran erinnert werden, dass alte Menschen ohne psychische Störungen in Heimen mittlerweile eine Minderheit darstellen, eine Entwicklung, von der die Einrichtungen völlig unvorbereitet getroffen wurden.
1.1.2 Begriffsbestimmungen
Als Menschen mit Behinderung sollen hier die Betroffenen gelten, die eine unvollkommene oder zum Stillstand gekommene Entwicklung ihrer geistigen, seelischen, sozialen und körperlichen Fähigkeiten erfahren haben. Beeinträchtigungen des Denkvermögens, der Sprache, der sozialen und motorischen Fähigkeiten, zum Teil mit anatomischen Veränderungen und körperlichen Störungen, haben zu einer lebenslangen Hilfebedürftigkeit geführt, die zum größten Teil eine differenzierte und meist stationäre Versorgung frühzeitig hat notwendig werden lassen. Diese Menschen erkranken 3–4 Mal häufiger als die Allgemeinbevölkerung an psychischen Störungen, so auch an demenziellen, depressiven, wahnhaften und anderen seelischen Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten, die eine bisher gewohnte Fortführung erfolgreicher heilpädagogischer Betreuung erschweren oder gar unmöglich werden lassen.
Als Menschen ohne Behinderung mit psychiatrischer Erkrankung sollen die Betroffenen verstanden werden, die ihr Leben bis zum Auftreten der psychischen Erkrankung selbstbestimmt gestalten konnten.
Gemeinsam ist beiden Gruppen eine im Alter neu aufgetretene, meist chronisch verlaufende psychische Störung, die Auswirkungen auf ihre bisherige Lebensführung bzw. ihre stationäre pflegerische Versorgung hat und eine breit gefächerte Anpassung an die neue Situation erfordert. Isoliert betrachtet sind die im Alter aufgetretenen Störungen wie z. B. des Denkens, des Erinnerns, der Sinneswahrnehmungen, des Realitätsbezugs oder der Affektivität in beiden Gruppen grundsätzlich, wenn auch differenziert, psychiatrisch behandelbar wie bei jüngeren Menschen. Dies allerdings geschieht auch weiterhin nicht im erforderlichen Ausmaß und ohne hinreichend ernsthaftes Bemühen.
1.1.3 Unterschiede bei Menschen mit und ohne Behinderung
Menschen mit Behinderung nehmen sehr frühzeitig ihr Anderssein wahr. Sequestrierung aus der Gesamtpopulation in einen als andersartig und besonders erlebten Lebensraum wird lebenslang erfahren und kann mehr oder weniger gelungen in ihr Selbstkonzept integriert werden. Das Streben nach einem gelingenden Leben gleicht grundsätzlich dem derjenigen ohne Behinderung – schwere Intelligenzminderung ausgenommen. Einer möglichst selbstbestimmten Setzung von Lebenszielen und Lebenssinn, ihrem Bedürfnis nach Entfaltung und Entwicklung eigener Kompetenzen, Erwerb von Eigentum, Rückzug in Privatheit, Bedürfnis nach sozialer Aktivität und Anerkennung, Austausch und Mitverantwortung, Bindung und Sexualität trägt vorwiegend die heilpädagogische Behindertenhilfe Rechnung. Auf anhaltende und individuelle Unterstützung im Lebensvollzug sind und bleiben sie dauerhaft angewiesen, was von ihnen mehr oder weniger zustimmend anerkannt wird.
Menschen ohne Behinderung ist ein direkter oder indirekter Fremdeinfluss auf ihre selbstverantwortete Lebensführung und eine Abhängigkeit von anderen bisher meist nicht erfahrbar und bewusst geworden und wird oft erst bei Eintritt von Hilfebedürftigkeit mit Schrecken erlebt.
Bei behinderten Menschen im Sprachgebrauch der Pflege- und Hilfsdienste handelt es sich zusammenfassend also nicht um kranke Menschen, die einer medizinischen Behandlung bedürfen oder zugänglich wären. Sie benötigen vielmehr wegen der Folgen einer Reifungsstörung dauerhafte und dem Grad der Behinderung angemessene Unterstützung. Diese Menschen können im Alter in höherem Ausmaß als Menschen ohne Behinderung psychiatrisch und sozial erkranken, was dann ebenso entsprechende ärztliche Untersuchungen und Behandlungen notwendig werden lässt. Nichtbehinderte wiederum erkranken aus einer zuvor bestehenden Eigenständigkeit und Unabhängigkeit.
1.1.4 Krankheitsbilder
Im Wesentlichen handelt es sich um affektive und wahnhafte Störungen, um Angst- und Abhängigkeitserkrankungen, um Störungen des Sozialverhaltens und um demenzielle Prozesse. Grundsätzlich gleichen sich die psychopharmakologischen Behandlungskonzepte bei Menschen mit und ohne Behinderung. Der progrediente Verlauf und der schließlich zum Tode führende dementive Prozess kommen bei Menschen mit Behinderung zu der vorbestehenden Intelligenzminderung hinzu. Dabei erweist es sich nicht selten als schwierig, das eine von dem anderen zu unterscheiden.
Missbrauch psychotroper Substanzen wie Medikamente und Alkohol mit Beginn im Alter kann in nicht unerheblichem Ausmaß Antwort sein auf Lebens- und Sinnkrisen nach unbewältigten Brüchen in der Biografie und Partnerschaft wie auch den kumulativen Verlusten, insbesondere sozialer Betätigung und Anerkennung. Dieser Substanzmissbrauch kann somit als ungeeigneter und fehlgeschlagener Heilungsversuch angesehen werden.
Menschen mit Behinderungen haben meist eine lange Lebenszeit in stationären Betreuungseinrichtungen verbracht. Gleichwohl können auch sie durch Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess in geschützten Werkstätten wie durch Verlust von Mitbewohnern, Freunden und Partnern gleichermaßen einschneidende psychosoziale Veränderungen erleiden. Bei Menschen ohne Behinderung kann zu der Grundkrankheit, die zur Heimeinweisung geführt hat, gerade durch diesen fundamentalen Bruch des Selbstkonzepts und Lebensplans eine psychische Störungen verstärkt oder gar erst verursacht werden. Diese zeigen sich z. B. in Depressivität, Suizidalität, Störungen des Sozialverhaltens u. v. a. m. Hier spielt vor allem der Modus eines Heimeinzugs, die individuelle Einstellung zu Heimen, Darstellungen in Medien und eigene konkrete Erfahrungen die entscheidende Rolle.
Während die unzureichende Kompetenz rationaler Lebensplanung und praktischer Lebensbewältigung bei Menschen mit Behinderungen schon vor Ausbruch seiner psychiatrischen Erkrankung zur Heimzuweisung geführt hat, werden diejenigen ohne Behinderungen mit einer medizinischen Diagnose – wie mit einem Aushängeschild versehen – aus bisheriger Selbständigkeit in einem Heim untergebracht. Als Folgestörungen können Einbußen des Kompetenzerhalts, der Selbstsicherheit, des Selbstwertes sowie Qualität und Quantität sozialer Bezüge hinzukommen. Eine übernommene diagnostische Kategorisierung als Alkoholiker, als an einer Demenz Erkrankter, Psychotiker oder sonst wie »Gestörter«, kann einen Menschen mehr zu dem machen, was ihn bezeichnet, als die Störung selbst. Indem ich einen Menschen vorwiegend als Dementen, Psychotiker oder Suchtkranken erlebe, lasse ich diese diagnostische Bezeichnung übermächtig und selbstherrlich werden. Die nicht gestörten Anteile verkümmern zunehmend und machen Platz für weiteren Kompetenzverlust, unerwünschtes Verhalten und seelisches Leid.
Zusammenfassend soll festgehalten werden, dass psychische und Verhaltensstörungen als eigenständige Krankheiten und darüber hinaus u. U. auch als soziale und medizinische Artefakte gesehen werden müssen.
1.1.5 Demenz bei Menschen mit und ohne Behinderung
Zuvor wurde festgehalten, dass kognitive Störungen bei Intelligenzgeminderten auftreten können wie bei Menschen ohne Behinderung. Dieser existenziell bedrohliche Verlust von Konsistenz und Kontinuität wird in unterschiedlicher Intensität erlebt. Da die Defizitwahrnehmung meist nicht dem Betroffenen selbst eignet, diese sich vorwiegend unverändert »gesund« erleben und die Verhaltensänderungen des Umfelds, die gestörte Kommunikation und soziale Veränderungen nicht für sie selbst nachvollziehbar sind, verlieren sie den Gesamtzusammenhang und die Widerspruchsfreiheit ihres individuellen Lebensentwurfs. Die persönliche Identität droht mit diesem biografischen Konsistenzbruch verloren zu gehen. Die Aufhebung der Vorstellung von Stetigkeit und Fortdauer des eigenen Lebensplans durch die für sie nicht nachvollziehbaren Auswirkungen der mentalen Störung auf das Verhalten der Versorgenden führt zu weiterem Verlust von Ich-Identität und Eingliederbarkeit in eine veränderte Lebensform.
Während demente behinderte Menschen vorwiegend in ihren angestammten Einrichtungen verbleiben, wird diese Bedrohung von Konsistenz und Kontinuität nicht durch einen als Katastrophe und Kränkung erlebten Umzug in ein Heim verstärkt, wie bei Nichtbehinderten, die zuvor selbstbestimmt gelebt haben. Die Wahrung der personalen Identität bei Menschen mit Behinderung ist eher gefährdet durch den veränderten Umgang der Pflegenden mit ihnen als durch den demenziellen Prozess selbst. Die heilpädagogisch ausgebildeten Betreuer stehen einer demenziellen Entwicklung und damit einhergehender Pflegebedürftigkeit meist ratloser und hilfloser gegenüber als die ihrerseits edukativ ungenügend ausgebildeten Alten- und Krankenpflegepersonen.
An Demenzen erkrankte Menschen mit Behinderung werden allzu häufig aufgrund von Überforderung der Heilerzieher in der Grund- und Behandlungspflege in Einrichtungen der Altenhilfe verlegt, besonders, wenn eine Inkontinenz auftritt. Spätestens dann erleben auch diese Menschen die Dramatik eines Milieuwechsels und veränderten Behandlungskonzepts in existenziell bedrohlicher Weise. Die bisher gewahrte Kontinuität und Konsistenz stürzen in sich zusammen, Verlust der personalen Identität ist die Folge.
Für die überwiegende Anzahl der zuvor »nichtbehinderten« psychisch Kranken stellt eine Heimeinweisung diese fundamentale Bedrohung der personalen Identität dar. Diese verlangt einen Gesamtzusammenhalt des individuellen Lebensentwurfs, der durch den Verlust personaler Kontinuität und Konsistenz als eigentlich existenziell bedrohliches Geschehen empfunden wird. Das dieser Entwicklung zugrundeliegende Krankheitsgeschehen wird nicht wahrgenommen oder als feindselige Unterstellung interpretiert.
Der Untergang einer individuellen Kultur und Lebenswelt, in der sie zu Hause waren, wird als katastrophale Entfremdung von sich selbst und der Welt erlebt. Sprache und Praxis des Handlungsvollzugs im Heim sind geprägt durch eine gänzlich fremde Kultur, Wirklichkeitsinterpretation, Zielsetzung und Entscheidungsfindung. Insbesondere das Sprachspiel (Wittgenstein 2001), dessen Ablauf und Regeln im alltäglichen Leben intersubjektiv immer wieder neu erfunden werden, in dem wir uns frei und lustvoll bewegen und dessen Dramaturgie wechselseitig neu bestimmt wird, sollte sprachwissenschaftlich und philosophisch bezüglich seiner formalen und inhaltlichen Struktur, seiner Flexibilität, Dynamik und Auswirkung auf psychisches, mentales und soziales Wohlbefinden von Heimbewohnern untersucht werden.
Mir erscheinen Struktur und Form der Heimsprache oftmals völlig undifferenziert und – unabhängig von der intellektuellen Kompetenz der Bewohner – auf ein infantiles Niveau reduziert und verarmt. Nur da, wo wir uns in einer gemeinsamen Kultur und Sprachgemeinschaft finden, finden wir zu uns selbst, zu einem Verständnis unseres Erlebens und Denkens, wie zu dem der Anderen. Diese Form der Gemeinschaft ist konstituierend für unser je eigenes Sein.
Die Lebenswelt demenziell Erkrankter ist weniger durch die Qualität und Quantität der feststellbaren Defizite geprägt als vielmehr durch einen Ausschluss aus einer selbstbestimmten Lebensform. Das Ausgestoßensein in ein als ungerecht und unmenschlich empfundenes »Lagerleben« (Agamben 2002, S. 177 ff.) und chancenloses Ausgeliefertsein gegenüber einer Macht (Institution, Funktionsträger und Angehörige) gleicht der Situation des antiken »homo sacer« in seiner Doppelbedeutung »heilig« und »ausgestoßen« (Agamben 2002, S. 91 ff.).
Äußerungen von Heimbewohnern über ein reduziertes, ausschließlich kreatürliches Leben finden Ausdruck in Sätzen wie: »Ich lebe nicht, ich existiere nur« und verweisen auf den schmerzhaften Verlust eines persönlichen Lebens in einem sozialen Kontext. Weit verbreitet ist ein Grundgefühl von Verlassenheit und Ausgeschlossenheit, von Entwertung, Erniedrigung und Erleben von Fremdkontrolle mit Verhinderung von Partizipation und...