Aufsätze/Contributi
Vergangenheit im Licht des Fortschritts oder: Tiroler Geschichtsschreibung in der Aufklärung
Zwei richtungsweisende Eröffnungsreden an der Innsbrucker Academia Taxiana
Isabella Walser-Bürgler
Einleitung: Akademiebewegung und Aufklärung in Tirol
Das 18. Jahrhundert war die Blütezeit der neulateinischen Literatur im historischen Tirol (das heißt im heutigen Nord-, Ost- und Südtirol sowie im Trentino). Obwohl die Region über eine nicht zu unterschätzende lateinische Literaturtradition seit dem Spätmittelalter verfügte, wurden in den Jahrzehnten zwischen der Gründung der ersten Tiroler Landesuniversität in Innsbruck (1669) und der Aufhebung des Jesuitenordens im Jahr 1773 mehr lateinische Texte verfasst als in den Jahrhunderten zuvor zusammen.1 Das 18. Jahrhundert war aber auch das Jahrhundert der Aufklärung in Tirol. Während die Aufklärung in ganz Europa regional und lokal von verschiedenen Strömungen geprägt wurde (etwa dem Pietismus, dem Philanthropinismus, dem Jansenismus, der Geheimbundkultur etc.),2 war es in Tirol einerseits vor allem eine Spielart des Reformkatholizismus, nämlich der Aufklärungskatholizismus, andererseits die Akademiebewegung, die den Geist und die Ideen der Aufklärung beflügelten.3 Den zweifellos größten Einfluss auf beide Strömungen übten – neben der eher unmerklich über Vorderösterreich, Salzburg und Wien vordrängenden norddeutsch-protestantischen, englischen und französischen Aufklärung – die Ideen der italienischen Frühaufklärung (preilluminismo) aus.4 Insbesondere Adelige, Kleriker und Intellektuelle aus dem Trentino fungierten dabei als zentrale Vermittlerfiguren – nicht zuletzt Ludovico Antonio Muratori (1672–1750), der Berater, Archivar und Bibliothekar des Herzogs von Modena.5 Darüber hinaus ergab sich durch die geographische Nachbarschaft, die Studien- und Kavaliersreisen des Tiroler Adels und Klerus in den Süden oder die dynastischen Bande eine verstärkt österreichisch-italienische Beziehung, die die Übernahme geistig-kultureller Inhalte in Tirol förderte.6
Der allgemeinen Tendenz innerhalb Europas entsprechend, wonach Akademien und gelehrte Gesellschaften ein „Kind der Aufklärung“7 waren, lässt sich auch für Tirol konstatieren, dass die Katholische Aufklärung und die Akademiebewegung zusammenfielen. Beide Phänomene bedingten sich sozusagen gegenseitig: Während die Katholische Aufklärung die Gründung von Akademien mit sich brachte, wurden die Akademien wiederum zu Trägern der Prinzipien der Katholischen Aufklärung. Darunter sollen in der vorliegenden Untersuchung vor allem die sinnvolle Trennung von Religion und Wissenschaft, die von Vernunft und empirischen Gesetzen getriebene Reform intellektueller Traditionen und gelehrter Studien sowie das praktisch ausgerichtete Welt- und Menschenverständnis basierend auf dem Begriffswandel von frui zu uti im Vordergrund stehen.8 In Italien waren Akademien als Nachfolger der literarisch-humanistischen Zirkel bereits seit dem 16. Jahrhundert verbreitet. Vor allem die mittelitalienischen Akademien (etwa die 1696 gegründete Accademia dell’Arcadia in Rom) sowie die oberitalienischen Akademien in Venedig, Verona, Brescia, Modena, Turin und Mailand avancierten zu den wesentlichen Vorbildern der Tiroler Akademien.9 Die Wirkung der Welschtiroler Akademien, der Accademia degli Accesi (Trient; gegründet 1628) und der Accademia dei Dodonei (Rovereto; gegründet 1728), gaben schließlich den endgültigen Anstoß für die drei zustande gekommenen Akademiegründungen im heutigen Nordtiroler Raum:10 1738 kam es zur Gründung der Innsbrucker Societas Silentiariorum und späteren Academia Taxiana, auf die im Folgenden der Fokus gerichtet sein soll; 1767 beziehungsweise 1781 folgten dann noch jeweils die Tirolische Ackerbaugesellschaft sowie die Tirolische Gesellschaft der Künste und Wissenschaften.
Diese Vereine und Gesellschaften beeinflussten das Tiroler Geistesleben im 18. Jahrhundert maßgeblich. Nachdem sämtliche Bemühungen um die Errichtung einer staatlichen Akademie der Wissenschaften in Österreich wiederholt im Laufe des Jahrhunderts scheiterten,11 waren sie es, die – den großen staatlichen Akademien wie der französischen Académie des sciences, der englischen Royal Society oder der Berliner Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften nacheifernd – den Horizont traditioneller Wissensinhalte und -methoden zu erweitern und mit aufgeklärten Diskursen zu füllen suchten. Ihnen kam mehr und mehr Gewicht zu, je länger der habsburgische Vielvölkerstaat auf die Institutionalisierung eines wissenschaftlichintellektuellen Zentrums verzichten musste.12 Auf Basis eines gut vernetzten Wissensaustausches zwischen Nord- und Welschtiroler Intellektuellen erwiesen sich die Tiroler Akademien letzten Endes als treibende Kräfte für die Entwicklung, Diskussion und Verbreitung aufklärerischen Gedankengutes im Land.13 Die Universität Innsbruck und die Hauslehranstalten der Klöster in Wilten, Hall oder Stams hinkten den Akademien und ihrem aufklärerischen Anspruch in dieser Hinsicht weit hinterher. Fixiert auf ihren scholastischen beziehungsweise zumindest in struktureller wie inhaltlicher Sicht mitunter überkommenen Lehrbetrieb konnten oder wollten sie die neuen Ideen und Methoden zu diesem Zeitpunkt noch nicht mittragen.14
Insbesondere die Academia Taxiana, wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird, nahm eine besondere Rolle innerhalb des aufklärerischen Tiroler Akademiebetriebes ein. Nicht nur, dass es sich bei ihr um die erste Akademie im nördlichen Tiroler Raum überhaupt handelte, sondern in ihrem Umfeld wurden auch die ersten aufklärerischen Gedanken auf breiter Basis im konservativ und reaktionär verhafteten Nordtiroler Raum formuliert.15 Denn obwohl die Ideen der Katholischen Aufklärung in Tirol auf lange Sicht auf besonders fruchtbaren Boden fallen und dort im Vergleich zu anderen Gebieten des Habsburgerreiches besonders lang bestehen bleiben sollten, hielt die Aufklärung insgesamt doch eher langsam Einzug im Land. Grund dafür war neben der Zurückhaltung der lokalen Bildungseinrichtungen gegenüber jeglichen neuen Entwicklungen hauptsächlich die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts anhaltende Inhomogenität des Bürgertums und dessen fehlende Repräsentation in den politischen Gremien.16 Wer daher vor 1750/60 in Innsbruck und Umgebung im aufklärerischen Sinn dachte oder agierte, stand zumeist auf die eine oder andere Weise mit der Academia Taxiana in Verbindung oder zählte gar zu ihren Mitgliedern. Die Universität Innsbruck sprang nur zögerlich nach dem Einsetzen der theresianischen und josephinischen Bildungs- und Verwaltungsreformen auf den Zug der Aufklärung auf und übernahm erst ab den 1760er Jahren und schließlich nach der Absetzung der Jesuiten eine stärkere Rolle bei der Umsetzung der aufklärerischen Reformvorstellungen in Sachen Bildung und Wissenschaft, Glaube und Vernunft.17 Zuvor waren diese Maxime im nördlichen Tirol so gut wie ausschließlich im Wirkungskreis der Academia Taxiana zum Ausdruck gekommen. Mit anderen Worten: Die Taxiana darf als früher Motor der Aufklärung in den nördlichen Gebieten Tirols gelten.
Der vorliegende Aufsatz will daher erstmals das bislang kaum berücksichtigte aufklärerische Anliegen der Taxiana anhand zweier Fallbeispiele aus ihrer Anfangszeit als geistesgeschichtliches Phänomen der lateinischen Literatur im Nordtiroler Raum beleuchten. Vor allem ein – in der Taxiana häufig praktiziertes – Genre soll dabei im Vordergrund stehen: die akademische Rede beziehungsweise der wissenschaftliche Vortrag in lateinischer Sprache (im Kreis der Taxiana üblicherweise als dissertatio bezeichnet). Diese Reden fanden bislang kaum Beachtung in der Forschung.18 Dies rührt daher, dass die Taxiana einerseits ein regionales Phänomen blieb, andererseits die zum Vortrag in der Taxiana entstandenen Reden und literarischen Erzeugnisse aufgrund ihres Charakters als ‚work-in-progress-Präsentationen‘ selten gedruckt wurden.19 Gerade die dissertationes machen aber das aufklärerische Anliegen und die intellektuelle Aufbruchsstimmung der Taxiana mustergültig sichtbar. Dies gilt sowohl für den Inhalt und die angewandten wissenschaftlichen Methoden (vor allem geschichtlich orientierte Studien dominierten bei gleichzeitiger institutioneller Neuartigkeit der Geschichte als einer eigenständigen Disziplin) als auch für das Format (die dissertationes folgten weniger der strikten Regelhaftigkeit des zeitgenössischen akademischen Disputationswesens als vielmehr den Normen der uns heute bekannten Form des wissenschaftlichen Vortrages). In jenen zwei Reden, die sich von der ersten Zusammenkunft der neu gegründeten Academia Taxiana im Januar 1741 erhalten haben, treten diese aufklärerischen Elemente und Methoden anschaulich hervor, da sie gewissermaßen den Standard für die zukünftigen Treffen und Reden etablierten. Es handelt sich dabei um Adrian Kemters Rede Dissertatio academica de draconibus et de dracone Wiltinensi („Akademische Abhandlung über Drachen und über den Wiltener Drachen“) sowie um Paul Joseph Rieggers Rede Dissertatio de origine quatuor facultatum academicarum („Abhandlung über den Ursprung der vier akademischen Fakultäten“). Bevor diese beiden Reden eine vom Standpunkt der aufgeklärten Geschichtsschreibung eingehende Untersuchung erfahren, soll noch kurz das Leitbild der Taxiana und ihrer Treffen sowie der Status der Geschichte als Disziplin im nördlichen Tiroler Raum des frühen 18. Jahrhunderts skizziert werden.
Aufklärerische Impulse: Die Sitzungs- und Redekultur an der Academia Taxiana
Eine umfassende Geschichte der Academia Taxiana, basierend auf der konsequenten Aufarbeitung des gesamten überlieferten Materials (wie etwa der Statuten und Leges, der Protokolle, der Mitgliederverzeichnisse, der Vorträge und Gelegenheitsgedichte oder der Mitgliederkorrespondenzen) sowie einschließlich ihrer politischen und kulturellen Verstrickung mit den zeitgenössischen Trends und regionalen wie überregionalen und privaten wie staatlichen Institutionen, ihrer unmittelbaren Wirkung und der späteren Rezeption ihrer Ideen und Beiträge, stellt noch immer ein großes Forschungsdesiderat dar.20 Um hier nur die wichtigsten Eckdaten wiederzugeben: Die Geschichte der Taxiana begann mit der bereits erwähnten Gründung der Societas Silentiariorum im Jahr 1738.21 Diese „Gesellschaft der Stillehüter“, in deren Namen sich die aufklärerisch ernsthafte Hinwendung zu den Studien in Abgrenzung zum stets wiederholten und seit Jahrhunderten traditionellen scholastischen Wissen bereits impliziert fand, war ursprünglich beschränkt auf einen isolierten Freundeskreis. Nachdem sich die im Verborgenen agierenden Mitglieder allerdings mit dem Vorwurf der Freimaurerei konfrontiert sahen, kam es kurzerhand zur Öffnung nach außen hin.
Die Gesellschaft wurde 1741 nicht nur umbenannt in die Societas academica litteraria („Akademische gelehrte Gesellschaft“), sondern man entwarf auch offizielle Statuten und suchte betont...