1.Ein Wunder?
Als Schiedsrichter Bill Ling aus England am 4. Juli kurz vor 17 Uhr das Endspiel der Weltmeisterschaft in Bern anpfiff, stand der Sieger eigentlich schon fest. Es konnte nur die ungarische Mannschaft sein, zu überlegen hatte diese in den letzten Jahren gespielt. Gerüchten zufolge hatten deren Spieler die Uhren, die der siegreichen Mannschaft zustanden, bereits vorher erhalten, damit im Trubel nach dem Abpfiff nichts verloren ging. Das wäre etwas voreilig gewesen, denn immerhin hatte die deutsche Mannschaft das Endspiel erreicht und auf dem Weg dorthin gute Leistungen gezeigt. Das wichtigste Spiel der Vorrunde allerdings hatte sie deutlich verloren. Am 21. Juni war sie bereits auf Ungarn gestoßen und hatte mit 3 : 8 eine mehr als deutliche Niederlage erlitten.
Zu diesem Spiel waren zehntausende Zuschauer aus Deutschland angereist, darunter Hans Albers und andere Prominente. Sie hatten sich große Hoffnungen gemacht, mussten dann jedoch tief enttäuscht heimkehren, erhoben gegen Mannschaft und Trainer heftige Vorwürfe und fühlten sich geradezu betrogen. Unparteiische Beobachter hingegen hatten dieses Ergebnis erwartet, wenn auch vielleicht nicht in dieser Höhe. Denn die Ungarn stellten seit Jahren die mit Abstand beste Mannschaft und hatten vor der Weltmeisterschaft seit sechs Jahren in 48 Spielen nicht mehr verloren. Sie hatten es sogar als erste ausländische Mannschaft vermocht, die englische Nationalmannschaft in deren ›Heiligtum‹, im Wembley-Stadion, zu besiegen. Nicht nur das Ergebnis von 6 : 3 traf die englischen Zuschauer wie ein Schock. Die Ungarn waren zudem in Technik, Taktik und Schnelligkeit den Engländern weit überlegen. Sie spielten, wie deren späterer Nationaltrainer Ron Greenwood es ausdrückte, »ganz einfach einen anderen Fußball« und ließen der englischen Mannschaft keine Chance.1 Sechs Monate später trat diese zum Rückspiel in Budapest an und verlor noch deutlicher mit 7 : 1.
Die ungarische Mannschaft war also der haushohe Favorit und stützte sich nicht nur auf berühmte Individualisten, darunter Ferenc Puskás, der vor kurzem unter die zehn besten Spieler des 20. Jahrhunderts gewählt wurde. Es war vielmehr gelungen, aus den herausragenden Einzelkönnern eine gut eingespielte Mannschaft zu formen, die in diesen Jahren den modernsten Fußball spielte und 1952 in beeindruckender Weise die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen gewonnen hatte. Als internationale Sportjournalisten vor Beginn der Weltmeisterschaft gefragt wurden, wer den Titel gewinnen werde, erhielten die Ungarn 111 Punkte, Brasilien 75, Österreich 18 und Deutschland lediglich 2.2 Diese Mannschaft ging beim Endspiel in Bern nach wenigen Minuten durch Puskás in Führung und erzielte in der neunten Minute sogar das 2 : 0. Das Spiel schien gelaufen, die Erwartungen hatten sich bestätigt – allerdings nicht ganz. Denn den Deutschen gelang bereits in der 10. Minute der Anschlusstreffer, nach achtzehn Minuten stand es 2 : 2, und wenige Minuten vor Schluss erzielte Helmut Rahn in der 84. Minute den Siegestreffer.
Die enorme Dramatik des Spielverlaufs und dessen unerwarteter Ausgang riefen nicht nur große Begeisterung hervor, sie verlangten auch nach Erklärungen. Wie konnte es geschehen, dass die großen Favoriten trotz der klaren Führung verloren und die krassen Außenseiter den Sieg errungen hatten? Wie konnten die weithin unbekannten deutschen Spieler gegen die ungarischen Stars die Oberhand behalten? Das schien kaum erklärlich zu sein, und entsprechend war bald vom ›Wunder von Bern‹ die Rede. Nur der Begriff des Wunders schien – und scheint bis heute – eine einigermaßen überzeugende Erklärung der Ereignisse zu erlauben. Dabei ist in dieser Wortwahl die Anspielung auf das ›Wirtschaftswunder‹ nicht zu übersehen, worauf mehrere Berichte verwiesen. Auch hier hatten die Westdeutschen es gegen alle Erwartungen vermocht, in wenigen Jahren nicht nur die zerstörten Städte wieder aufzubauen, sondern auch ein beeindruckendes Wachstum der Wirtschaft zu erreichen. Da zudem am Tage des Endspiels Mercedes beim Großen Preis von Frankreich in Le Mans einen Doppelsieg errang und kurz zuvor eine Deutsche den Titel der Miss Europa gewonnen hatte, gab es gleich mehrere Anlässe, von Wundern zu sprechen, die für die einen Grund zur Freude, für die anderen Ausdruck einer geradezu beängstigenden Leistungsstärke waren.
Nun stammt der Begriff des Wunders aus der Religion und erlaubt eine erste Annäherung an ungewöhnliche Ereignisse, er bietet jedoch keine Erklärung. Dafür standen nach und nach andere Ansätze zur Verfügung, die beim Fußball vor allem auf die berüchtigten deutschen Tugenden wie Disziplin, Kampfkraft, unbedingter Siegeswille und Gemeinschaftsgeist verwiesen. Nimmt man noch die Person Herbergers hinzu, der als äußerst durchsetzungsfähiger, wenn nicht autoritärer Trainer galt, ergibt sich ein Erklärungsmuster, das sich bald allgemein durchsetzte: Beschrieben wird eine Gruppe von biederen, aber sehr einsatzwilligen und durch keine Rückschläge zu entmutigenden Spielern, die – angeführt von einer autoritären Vaterfigur – eine brillante, technisch hoch überlegene, jedoch etwas verspielte ungarische Mannschaft niederrangen.3
Dieses Erklärungsmuster enthält unverkennbare Parallelen zu einer verbreiteten Beschreibung der frühen Bundesrepublik, wonach deren Bewohner unter der Obhut der dominierenden Persönlichkeit Adenauers standen und vor allem durch Fleiß und Einsatz den überraschenden Aufschwung erreichten. Diese Beschreibung klingt plausibel, zeigt bei näherer Betrachtung jedoch große Schwächen, denn sie beruht auf simplen Analogien, ist grob gestrickt und zu pauschal, um den Sieg im Endspiel zu erklären: Wie konnte eine Mannschaft von elf Spielern auf höchstem sportlichen Niveau nicht nur bestehen, sondern sich durchsetzen? Dazu sind fraglos Kampfkraft und Disziplin erforderlich. Doch um gegen die besten Mannschaften der Welt bestehen zu können, waren andere Merkmale nicht weniger wichtig. Die Spieler mussten über eine solide Technik und gute Kondition verfügen; sie mussten taktisch richtig aufgestellt sein und sich auf ihre Gegenspieler einstellen können; und sie mussten es verstehen, mannschaftliche Geschlossenheit mit individuellen Fähigkeiten, ja mit Eigensinn zu verbinden. Das war bei der deutschen Mannschaft der Fall. Sie war nicht nur gut aufeinander eingespielt, sondern besaß mit Fritz Walter einen der technisch und taktisch besten Spieler der damaligen Zeit. Und zu ihr zählten ganz unterschiedliche Persönlichkeiten wie Horst Eckel, der enormen Einsatz für die Mannschaft zeigte, oder Helmut Rahn, ein notorisch unberechenbarer, nicht unbedingt mannschaftsdienlicher Stürmer, der umstritten war, aber an guten Tagen ein Spiel allein entscheiden konnte. Es war diese Mischung, die die Mannschaft auszeichnete, und die vielleicht – um auf der Ebene der Analogien zu bleiben – die frühe Bundesrepublik besser charakterisiert als das Klischee der braven und leistungsstarken Biedermänner oder der verkappten Militaristen.
Ferenc Puskás
Diese Mannschaft ist weder vom Himmel gefallen, noch entstand sie wie von selbst. Sie war vielmehr das Ergebnis einer Vielzahl von Faktoren, zu denen eine sorgfältige Auswahl der Spieler, jahrelange Vorbereitungen und ein planvolles Vorgehen ebenso gehörten wie abrupte Veränderungen, Zufälle oder Faktoren, die keiner der Beteiligten beeinflussen konnte. Hinzu kam der Faktor Glück. Gerade Fußballspiele gewinnt nicht immer die Mannschaft, die am besten gespielt oder den Sieg ›verdient‹ hat. Bälle können abgefälscht, wichtige Spieler verletzt oder Tore ohne jedes eigene Zutun erzielt werden. Bei etwas anderem Verlauf des Turniers wäre nicht Deutschland, sondern Ungarn Weltmeister geworden, und das ›Wunder von Bern‹ hätte es nicht gegeben. Es wäre also falsch, den Gewinn der Weltmeisterschaft als das zwangsläufige Ergebnis jahrelanger Planungen und systematischer Vorbereitungen zu sehen. Aber es wäre ebenso falsch, diese Faktoren zu übersehen, selbst wenn die tatsächlichen Entwicklungen viel komplizierter, unübersichtlicher und zufälliger verliefen als eine auch noch so gute Planung erwarten konnte. Das zeigten schon die Bemühungen, den Spielbetrieb nach dem Krieg wieder in Gang zu bringen, die Nationalmannschaft aufzubauen und wieder in die internationale Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Nahezu bei jedem Schritt waren hierbei die Folgen der Niederlage, der Kalte Krieg und nicht zuletzt die Zeit des Nationalsozialismus zu bemerken, der bei den Deutschen und ihren Nachbarn tiefe Spuren hinterlassen hatte.
2.Der (Wieder-)Aufbau des Fußballs nach dem Krieg
Wie in anderen Bereichen, hat das nationalsozialistische Regime auch im Fußball versucht, den Anschein der Normalität möglichst lange aufrecht zu erhalten. So fand das letzte Spiel um die Deutsche Meisterschaft am 18. Juni 1944 im Berliner Olympia-Stadion statt, als der Dresdner SC den Luftwaffensportverein Groß-Hamburg mit 4 : 1 besiegte. Tatsächlich war der offizielle Spielbetrieb zu diesem Zeitpunkt bereits erheblich eingeschränkt und kam in den kommenden Monaten wegen des Krieges ganz zum Erliegen. Das hatte dem Interesse am Fußball jedoch keinen Abbruch getan, denn schon bald nach der Kapitulation gab es erste Bemühungen, diesen Sport wieder auszuüben und dazu Ligen sowie Verbände zu errichten. Das fiel allerdings nicht leicht, nicht nur wegen der Zerstörungen und der großen materiellen Not. Vielmehr hatten die Alliierten alle nationalsozialistischen Organisationen und damit auch die Sportvereine und den ›Nationalsozialistischen Reichsausschuss für Leibesübungen‹ verboten, der für den gesamten Sport zuständig gewesen war. Sie sahen hierin wichtige Bestandteile der nationalsozialistischen Herrschaft und betrachteten die Organisationen des Sports anfangs mit großem Misstrauen. Dafür hatten sie gute Gründe.
Die Vereine und Funktionäre des größten Fußballverbandes, des DFB, hatten sich 1933 zum größten Teil bereitwillig gezeigt, mit den neuen Machthabern zusammen zu arbeiten, während kommunistische bzw. sozialistische Arbeitersportvereine verboten und Juden aus den nunmehr gleichgeschalteten Vereinen ausgeschlossen wurden. Diese Haltung haben die Beteiligten später mit dem auch aus anderen Zusammenhängen bekannten Argument gerechtfertigt, sie wollten dadurch dem Fußball eine gewisse Eigenständigkeit und Unabhängigkeit sichern.1 Dieses Argument ist nicht ganz von der Hand zu weisen, blendet andere Aspekte aber aus. Dazu gehört, dass die Zusammenarbeit weitgehend freiwillig erfolgte und mit einem vorauseilenden Gehorsam verbunden war, der sich u. a. beim Ausschluss von Juden aus den Vereinen des DFB zeigte.2 Diese gingen dabei nicht ganz so eifrig vor wie die Turner, und vereinzelt erfuhren jüdische Mitglieder eine gewisse Unterstützung. Diese blieb jedoch begrenzt, von nennenswertem Einspruch oder gar Widerstand gegen die Anordnungen der Nationalsozialisten kann keine Rede sein. Das gilt auch für die Gleichschaltung der Vereine und Verbände und deren Eingliederung in die neuen Organisationen des Sportes. Davon abgesehen verlief die Entwicklung des Fußballs eher unspektakulär. Das ist insofern verständlich, als dieser Sport sich gut für Zwecke der Propaganda eignete und – zumal während des Krieges – Ablenkung bot, doch er gehörte nicht zu den zentralen Themen der nationalsozialistischen Ideologie und Politik. Das hat später zu der Behauptung geführt, der Fußball sei ›unpolitisch‹ gewesen und habe sich vom Nationalsozialismus fernhalten können, eine Argumentation, welche die tatsächlichen Entwicklungen und Verhaltensweisen unterschlägt und zu den Rechtfertigungen gehört, die in der Nachkriegszeit weit über den Fußball hinaus verbreitet waren.
Auch andere Merkmale der Nachkriegsgesellschaft lassen sich beim Fußball finden, darunter ein ausgeprägtes Maß an Kontinuität. Diese war bei einer derart populären Sportart nahezu unvermeidlich, da die Niederlage die Vereine mit ihren Mitgliedern, Funktionären und Zuschauern kaum berührte. Die Personen und Institutionen blieben dieselben, und es ist deshalb verständlich, dass die Alliierten eine so verbreitete Bewegung und ihre einflussreichen Organisationen anfangs skeptisch betrachteten und sie verboten. Dieses Misstrauen richtete sich insbesondere gegen die hohen Funktionäre, die in den westlichen Zonen jedoch nach und nach in ihre Positionen zurückkehrten. Eine gravierende Veränderung gab es vor allem durch die Auflösung des ›Nationalsozialistischen Reichsausschuss für Leibesübungen, der nationalsozialistischen Dachorganisation für den Sport. Diesem angeschlossen war das ›Fachamt Fußball‹, das nach 1933 den DFB ersetzte, mit diesem aber weitgehend identisch war und jetzt ebenfalls verboten wurde. Vorerst gab es also keine gemeinsame Dachorganisation des Fußballs, doch davon abgesehen gelangten weitgehend wieder die Personen in Amt und Würde, die schon während des Nationalsozialismus aktiv gewesen waren. Die Entnazifizierungsverfahren hatten sie überstanden, verfügten über reichhaltige Erfahrungen in Vereinen und Verbänden und waren untereinander vertraut, so dass die alten Verbindungen und Strukturen wieder entstanden.
Vorübergehend sah es allerdings so aus, als sollte eine einheitliche Organisation des gesamten Sportes die alten, nach Sportarten geglie derten Fachverbände ablösen. Insbesondere die englischen Militärbehörden favorisierten diese Bestrebungen. Sie standen jedoch unter dem Ruch des Zentralismus, der als Merkmal des Nationalsozialismus galt, drohten vertraute Traditionen zu zerschlagen und sind in den westlichen Zonen am Widerstand der Sportverbände, ihrer Funktionäre und der Mitglieder gescheitert. Ebenso gescheitert sind hier die Bemühungen, die politisch ausgerichteten Vereine aus der Weimarer Republik wieder aufleben zu lassen. Entsprechende Forderungen gab es vor allem auf dem linken Flügel der Arbeiterbewegung. Sie betrafen nicht nur den Sport, sondern den gesamten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Neuaufbau nach dem Krieg, fanden in den westlichen Zonen jedoch wenig Unterstützung. Hier wurde die politische Ausrichtung der Vereine und Verbände in der Weimarer Republik als Zeichen der Zersplitterung gesehen und als ein Grund für deren Scheitern. Eine vergleichbare Entwicklung galt es jetzt zu verhindern, so dass sich westlich der Elbe politisch und weltanschaulich neutrale und weitgehend bürgerlich geprägte Vereine durchsetzten.
In der Sowjetzone fand eine andere Entwicklung statt. Hier befand sich der Fußball nach Ende des Krieges in einer ähnlichen Situation wie in den anderen Zonen; die Vereine waren ebenfalls verboten, und es fehlte an Plätzen, Bällen, Trikots und Geld. Doch daneben gab es einen großen Unterschied: die politischen Ziele der sowjetischen Besatzungsbehörden und der SED. Wie in anderen Bereichen wollten sie auch im Fußball vermeiden, dass die alten Strukturen neu entstanden und dieselben Personen wieder in Amt und Würden gelangten. Stattdessen strebten sie eine einheitliche Sportbewegung an, die »unter Führung klassenbewusster Arbeiter mit klarer antifaschistisch-demokratischer Zielsetzung« stehen und den gesamten Sport unter Einschluss des Fußballs neu organisieren sollte.3
Diese Unterschiede zwischen den verschiedenen Zonen waren in den ersten Wochen und Monaten nach Ende des Krieges noch ...