Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik
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Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik

Eine Festschrift für Regina Ammicht Quinn

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Ethik in den Kulturen - Kulturen in der Ethik

Eine Festschrift für Regina Ammicht Quinn

About this book

Ethik als die Suche nach der Begründung des Guten und des Gerechten ist Teil jeder Kultur; umgekehrt weisen auch Ethiken je unterschiedliche Kulturen ihrer Praxis auf. Die in diesem Band gesammelten Beiträge nehmen unterschiedliche Blickwinkel ein, ohne dabei die Verbindung zu anderen Perspektiven aus dem Blick zu verlieren. So bietet das Buch einen breiten Überblick über das Spektrum moderner ethischer Diskurse, von Grundfragen der Ethik über die Aspekte Politik, Religion, Gender, Körper, Technik, digitale Medien, Sicherheit bis Literatur. Bei aller Pluralität verbindet die Beiträge das Bemühen um eine Auseinandersetzung über Fachgrenzen hinweg und innerhalb der Diskussionsräume einer Gesellschaft, die sich immer wieder über ethische Orientierungen verständigen muss.

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Politik

Das Ethische und das Politische – Konturen einer (un-)möglichen Konstellation

Dietmar Wetzel
Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in den politischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden, und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt.
Hannah Arendt (2016: 1011)

1. Einleitung

Viel besser als in diesem zentralen Ausschnitt aus der Arbeit „Wir Flüchtlinge“ (orig. 1943) von Hannah Arendt, ist die Situation und die Gefühlswelt von Flüchtlingen und Migrant_innen wohl kaum auf den Punkt gebracht worden. Ausgehend von der gegenwärtigen Krise der Gesellschaften, die weit mehr als „nur“ eine „Flüchtlingskrise“ ist, möchte ich grundsätzliche Fragen zum Ethisch-Politischen aufwerfen. Wie hängen das Ethische und das Politische zusammen? In welchem Verhältnis stehen diese Begriffe/Konzepte zueinander? Wie wird diese Konstellation in der Sozialphilosophie behandelt? Diese und weitere Fragen möchte ich im Folgenden nicht mit dem Anspruch auf eine erschöpfende Darstellung behandeln, sondern vielmehr programmatisch zu beantworten versuchen. Um dies leisten zu können, nehme ich eine Diskussion auf, mit der ich mich vor über fünfzehn Jahren begonnen habe zu beschäftigen, und führe diese zugleich weiter. In meiner Dissertationsschrift „Diskurse des Politischen. Zwischen Re- und Dekonstruktion“ (Wetzel 2003) habe ich Positionen und Theorien des Ethischen mit denen der Politik/des Politischen ins Verhältnis zu setzen versucht. Aus den damals geleisteten Re- und Dekonstruktionen und unter Berücksichtigung aktueller Reflexionen zum Ethisch-Politischen resultiert meine These: Das Ethische und das Politische stehen in einem produktiven Widerstreit zueinander, den es nicht aufzulösen, sondern – normativ gesprochen – aufrechtzuerhalten gilt. Um diese These auszuführen respektive zu begründen, gehe ich wie folgt vor. In einem ersten Schritt thematisiere ich den, wie ich es nennen möchte, „Stachel der Ethik“,1 indem ich die Bedeutsamkeit, aber auch die Schwierigkeiten bezüglich einer ethischen Reflexion unterstreiche (Abschnitt 1). Daran anschließend problematisiere ich den in der gegenwärtigen Diskussion der politischen Theorie wichtigen Unterschied zwischen der Politik und dem Politischen. Mit diesem Schritt gelingt eine Öffnung eines rein normativen Politikverständnisses hin zu einer Infragestellung der damit verbundenen Ordnungsvorstellungen (Abschnitt 2). Nach diesen, sozusagen vorbereitenden Überlegungen stelle ich drei Konstellationen des Ethischen und des Politischen vor, die sich exemplarisch in der einschlägigen Literatur wiederfinden lassen (Abschnitt 3).2 Die dabei stärker theoretischen Reflexionen versuche ich schließlich an einem aktuellen Beispiel kurz zu veranschaulichen. Thema dabei sind die Grenzen der Gastfreundschaft im Kontext der sogenannten „Flüchtlingskrise“ (Abschnitt 4). Im Fazit nehme ich die verschiedenen Stränge auf und fasse meine Argumentation in drei Punkten nochmals zusammen (Abschnitt 5).

2. Der Stachel der Ethik

Ethik beziehungsweise die ethische Reflexion erfüllen in unserer Zeit zweifellos eine wichtige Funktion. Gerade im Zusammenhang mit Fragen der Aufklärung lässt sich ethisches Nachdenken nicht mehr aus dem gesellschaftlichen Diskurs der (Post-)Moderne wegdenken.1 Ob es um Fragen der Genetik, den Umgang mit der Ökosphäre oder schlicht um das Zusammenleben von Individuen und Gruppen geht, Ethik (und Moral) sind immer mit im Spiel. Ethik kommt praktisch überall zum Einsatz, was einer inflationären Handhabe eher zu- als abträglich ist – und im schlimmsten Fall zu Heuchelei und zu einem „Tun-Als-Ob“ (siehe Ruhnau/Kridlo/Busch/Roessler 2000) führen kann. Dennoch hilft uns Ethik dabei, unsere moralischen Grundlagen und Einstellungen zu durchdenken.2 Zudem möchte ich Ethik insofern als einen „Stachel“ begreifen, als dieser uns antreibt, über ungerechte Zustände der Welt nachzudenken (und womöglich etwas dagegen zu tun). In einem sehr instruktiven Beitrag hat Jelica Šumič (1997) auf die schwierige Beziehung zwischen Ethischem und Politischem bereits hingewiesen. Nachdem lange Zeit die Ethik aus dem öffentlichen Diskurs der Moderne ausgeschlossen war, trifft man sie als eines der zentralen Themen wieder in eben diesem öffentlichen Diskurs an. Dazu schreibt Šumič dezidiert:
Sie (die Ethik) scheint als eine Art schlechten Gewissens überall dorthin zurückzukehren, von wo sie zuvor verbannt wurde. So kann heute sozusagen von einer ‘Rache der Ethik‘ gesprochen werden. Die Berufung auf die Ethik bzw. das Gute ist zum handlichen Rechtfertigungsmittel fast jeden Geschehens geworden (Šumič 1997: 231).
So werden im Namen biopolitischer Maßnahmen Frauen in Gebärmaschinen verwandelt; im Namen der Menschenrechte wird überall dort (und nur dort) militärisch eingegriffen, wo dies von Mächtigen so entschieden worden ist, also genauer dort, wo die Nichtbeachtung der Menschenrechte mit den Interessen der jeweiligen Realpolitik zusammenfallen. Ethik und ethische Reflexionen existieren jedoch nicht in einem abstrakt-theoretischen Raum, sondern diese sind in gesellschaftliche und politische Ordnungsmuster eingebunden, so dass zwingend über das Verhältnis zwischen dem Ethischen und der Politik/dem Politischen nachgedacht werden muss (siehe Reese-Schäfer 1997).

3. Die Politik und/oder das Politische?

Eine normative Ausrichtung der Politik (und des Politikverständnisses), so wie es beispielsweise die liberalistisch-deliberative Theorietradition impliziert, kann den Wert der Unterscheidung zwischen der „Politik“ und dem „Politischen“ nicht erkennen (siehe Bedorf 2010). Ohne Politik immer schon mit polizeilicher Ordnung zu identifizieren, wie es an manchen Stellen beispielsweise das Werk des französischen Philosophen Jacques Rancière nahelegt, steht Politik doch für die parlamentarisch organisierte Form des demokratischen Regierens (Rancière 2002). Das Politische dagegen verkörpert die „Logik des Widerstreits“, also gerade die Infragestellung der politischen Ordnung – und wird dadurch zu einer notwendigen Korrekturmöglichkeit derselben:
Das Politische [le politique] ist dieser dritte Raum des Streits, ein unbestimmter und stets sich wandelnder Punkt, an dem Polizei und Politik [la politique] zusammentreffen. Der Prozess der Politik beginnt mit der Identifikation eines Unrechts [le tort], einem fundamentalen Disput über unterschiedliche Kalkulationen des Gemeinschaftlichen.“ (Tanke 2011: 51; Übersetzung von Thomas Claviez).
Dieses so verstandene Politische ereignet sich (wenn überhaupt!) auf dem Gebiet der Politik immer nur im jeweils konkreten, historischen Fall (beschreibbar als Praxis), der darüber entscheiden muss, was überhaupt das Gemeinsame ausmacht und wer in diesem Zusammenhang etwas zu sagen und zu entscheiden hat. Mit einem solchen konzeptionellen Verständnis des Politischen verliert dieses seine gemeinhin angenommene Selbstverständlichkeit. Im Unterschied zur liberalen respektive diskursethisch beeinflussten politischen Theorietradition (allen voran Habermas) ist Rancières Begriff des Politischen einer des Konfliktes, der Unstimmigkeit, ja des Polemischen. Nicht die kommunikative Verständigung (wenn auch nur als kontrafaktisch angenommener Idealfall), sondern das Streithandeln bestimmt das Geschehen im Raum des Politischen. Politisches Handeln und Kommunizieren gehen nicht einfach in einem rationalen (Verfahrens-)Diskurs auf, den es „nur noch“ institutionell zu etablieren gilt. Erforderlich wird vielmehr in diesem Verständnis, welches Politik zugleich als Handwerk und Kunst begreift, eine Verschränkung von Argument und Metapher; dem politischen Handeln und der Kommunikation eignet demzufolge eine poetisch-polemologische Dimension. Mit Rancière können wir aber noch etwas Zusätzliches akzentuieren: Im politischen Konflikt bemühen sich mindestens zwei Parteien um die Herstellung einer gemeinsamen Situation und um deren Repräsentation. Genau dort, wo ein Teil der Menschen aus dieser Situation ausgeschlossen ist, muss insofern dieses Gemeinsame/Allgemeine – an das Jean-Luc Nancy mit Jacques Derrida so oft erinnert – als zunehmend prekär beschrieben werden, zumal unter globalisierten Bedingungen (Nancy 2004: 59). In drei Konstellationen des Ethischen und des Politischen soll dieses Verständnis überprüft und etwas genauer ausgeführt werden.

4. Drei Konstellationen des Ethischen und des Politischen

4.1 Das Ethische und das Politische im Modus der Versöhnung

Ethische Reflexionen haben sich weitestgehend geräuschlos in der Sphäre der Politik in unseren westlichen Gesellschaften etabliert.1 Die in der Sozial- und Politischen Philosophie so gelagerten Ansätze, beispielsweise die von Jürgen Habermas, John Rawls und Michael Walzer, fokussieren auf eine Verschränkung von Ethik und Politik in der normativen Ordnung der Gesellschaft.2 Im Hinblick auf Konstellationen des Politischen und des Ethischen erweisen sich die Menschenrechte und der Glaube an die Weltbürger_innen_rechte, unter Einschluss der Solidarität als dem Anderen der Gerechtigkeit (Habermas) sowie die multikulturell ausgerichtete Zivilgesellschaft (Walzer), als normative Fluchtpunkte. Allerdings fokussieren diese Ansätze eher binnengesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstellungen und verharren dabei im Bereich der Politik. Verwaltet wird das proklamierte differenzempfindliche Universelle von einer (Diskurs-)Polizei und einer Gemeinschaft, die über die weltweite Einhaltung der Menschenrechte wachen. In diesem Kontext möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Paradoxie eines derartigen zeitgenössischen Verständnisses von Politik und Ethik lenken. So gibt es auf der einen Seite die wohlmeinenden Bemühungen und Begründungen von Idealisten, die beharrlich Rechte als unabdingbare Menschenrechte hinstellen, deren sich jedoch nur die Bürger_innen der zivilisiertesten Länder erfreuen, und auf der anderen Seite existiert die Situation der Entrechteten (beispielsweise der Flüchtlinge), die sich ebenso beharrlich über die Jahrzehnte verschlechtert hat. Ohne die Notwendigkeit des Beharrens auf Menschenrechte bestreiten zu wollen, existiert die reale Gefahr einer lediglich abstrakten Begründung und Proklamation der Menschenrechte, was nicht selten zu einem reinen Verkündigungspathos verkommt. Welche Rolle spielt dabei genauer die Ethik? Sie gerät sehr schnell zu einer Alibiveranstaltung beziehungsweise zu einer Unterstützungsgehilfin der politischen Ordnung der Herrschenden. So mutiert aber die bereits angeführte „Rückkehr der Ethik“ zu einer Versöhnung von Ethik (Moral) und Politischem, was „heute den wesentlichen Einsatz der vorherrschenden, sich auf Rawls oder Habermas berufenden politischen Reflexion darstellt. [Dies wiederum] ist als Versuch der demokratischen Ordnung zu verstehen, diesen ihr innewohnenden Mangel zu verneinen oder sich seiner imaginär zu entledigen“ (Šumič 1997: 233). Stattdessen rückt das (internationale) Recht in den Fokus dieser Form der politischen Theorie/Philosophie, das gleichsam für eine Einhegung der potenziellen Konflikte zwischen Ethischem und Politischem sorgen soll.3

4.2 Das Politische und das Ethische als radikal-unauflösbarer Konflikt

Die in der machiavellistischen Tradition stehenden Ansätze zeichnen sich häufig dadurch aus, dass diese den Anteil des Ethischen für gering, unwichtig oder sogar für schädlich halten.1 Teile der sogenannten Postmoderne haben diese – neben Machiavelli an Nietzsche geschulte Auffassung – vertreten, auch deshalb, weil der Unterschied zwischen Ethik, Moral und Politik meines Erachtens nicht immer klar genug gezogen worden ist. Lange Zeit hat man sogar „der Postmoderne“ insgesamt das Fehlen jeglicher ethischen Dimension ihres Denkens attestiert.2 Aber auch Denker wie der französische Philosoph Jacques Rancière verweigern den Anteil des Ethischen, obwohl dessen Werk insgeheim von einer Ethik tief durchzogen ist (siehe Wetzel/Claviez 2016: 141ff.). Noch radikaler vertritt Jean-François Lyotard einen unauflösbaren Konflikt zwischen dem Ethischen und dem Po...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Vorwort
  6. Grundfragen
  7. Politik
  8. Religion
  9. Gender
  10. Körper
  11. Technik
  12. Digitales
  13. Sicherheit
  14. Literatur
  15. Autor_innenverzeichnis
  16. Schriftenverzeichnis (Auswahl) Regina Ammicht Quinn
  17. Fußnoten